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Aus: Ausgabe vom 27.09.2023, Seite 6 / Ausland
Libanon

Überleben im Zedernstaat

Libanon: Land und Einwohner am Rande ihrer Kräfte. Hinzu kommt Versorgung syrischer Geflüchteter, die gerne zurückkehren würden
Von Karin Leukefeld, Beirut
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Provisorium auf Dauer: Eine syrische Geflüchtete im informellen Lager Al-Mardsch in Bekaa (5.4.2023)

Männer haben im Süden des Libanon Kupferkabel gestohlen. Die Nachricht verbreitete sich vor wenigen Tagen in Windeseile über soziale Netzwerke. Je nach Qualität bringt das Diebesgut auf dem Schwarzmarkt oder auf dem Schrottplatz einige US-Dollar ein. Das Geld hilft den Dieben, wenigstens für einen Tag den Unterhalt ihrer Familien zu sichern. Ohne Arbeit, ohne Almosen, ohne Hilfen von internationalen Organisationen oder Verwandten im Ausland bleibt oft keine Alternative zum Überleben, als zu stehlen, wo es noch etwas zu holen gibt. »Gott liebt den, der Verwandte im Ausland hat«, ist eine allgegenwärtige Lebensweisheit im Libanon. Deren Geldgeschenke helfen, Rechnungen oder für medizinische Versorgung zu bezahlen. Andernfalls muss man betteln oder stehlen.

Die Kupferkabeldiebe von Saida hatten sich für ihren Beutezug ein Elektrizitätswerk ausgesucht. Die Folge war, dass in der Region um die südlibanesische Hafenstadt die ohnehin fragile Stromversorgung ausfiel. Tausende Haushalte, Arztpraxen und Läden mussten auf die wenigen Stunden Strom verzichten, mit denen das staatliche Netz sie bislang versorgt hatte. Nicht jeder hat Geld, um sich zusätzlich Strom zu kaufen, der von großen, privat betriebenen Generatoren bereitgestellt wird. Während die Generatorbarone reicher und reicher werden, nehmen die Elenden sich von den Elenden, um zu überleben.

Die Libanesen sind längst am Rande ihrer Kräfte angekommen. Da gibt es streitende Parteien, korrupte Politiker, die Finanzkrise, Inflation, Corona, syrische Geflüchtete und ausländische Akteure, die dem Land vorschreiben wollen, wohin es gehen soll. Hinzu kommt ein Dauerkonflikt mit Israel, das palästinensischen und libanesischen Boden besetzt hält und den Zedernstaat nahezu täglich mit Drohnen- oder Kampfjetflügen im eigenen Luftraum illegal drangsaliert. Das Land ist überfordert und versucht seit Jahren Unterstützung bei der Rückführung von syrischen Flüchtlingen in ihre Heimat zu bekommen. Erst vor wenigen Tagen schilderte Interimsministerpräsident Nadschib Mikati vor der UN-Generalversammlung in New York die Schwierigkeiten, denen der Libanon mit mehr als einer Million syrischer Geflüchteter ausgesetzt ist. Die Knebelung Syriens durch einseitige EU- und US-Wirtschaftssanktionen verhindert, dass der Libanon und die Staaten der Arabischen Liga gemeinsam mit Damaskus ein Rückkehrprojekt finanzieren könnten.

Internationale Hilfsorganisationen versorgen Geflüchtete aus Syrien in der Türkei, Jordanien und dem Libanon. Das dafür notwendige Geld kommt vor allem aus den USA, Deutschland und der EU, die eine Rückkehr der Syrer in ihre Heimat ablehnen und Beirut mit erhobenem Zeigefinger drohen. Eine »Libanon-Resolution« des EU-Parlaments Mitte Juli formulierte statt Hilfe eine lange Liste von Bedingungen, die das Land erfüllen müsse, damit ihm geholfen werde. Angesichts der schwierigen Wirtschaftslage im Zedernstaat nehmen die Konflikte zwischen Libanesen und Syrern zu. Bis zu 1.000 Personen, die aus Syrien irregulär eingereist waren, nahm die Armee allein in der vergangenen Woche fest. Schiffbrüchige wurden von der Marine aus dem Mittelmeer gerettet, nachdem das Boot, das sie nach Zypern oder Italien bringen sollte, gekentert war. Razzien in den Barackenlagern syrischer Flüchtlinge sind an der Tagesordnung und fördern jedes Mal Dutzende Syrer ohne Papiere zu Tage, die entweder verhaftet oder in ihr Heimatland ausgewiesen werden.

Trotz aller Gefahren hat sich die Anzahl der Menschen, die über das Mittelmeer versuchen, die Republik Zypern zu erreichen, im vergangenen Jahr mehr als verdoppelt, berichten die dortigen Behörden. Am Wochenende wurden 120 Bootsflüchtlinge aus dem Libanon von der zypriotischen Küstenwache aus Seenot gerettet. Zypern ist das Land in Europa, das pro Kopf die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat und kann die Versorgung der Menschen nicht mehr gewährleisten. Da es immer häufiger zu Angriffen auf Asylsuchende kommt, hat Nikosia begonnen, die illegalisiert eingereisten Bootsflüchtlinge in den Libanon zurückzuschicken.

Muhannad, ein 27jähriger Syrer aus der südsyrischen Provinz Deraa, hat sich erst vor wenigen Monaten in den Libanon »schmuggeln« lassen. Auf einem Straßenmarkt in Beirut verkauft er Lebensmittel. Alle Stände rechts und links von ihm würden von Landsleuten geführt, erzählt er im Gespräch mit jW. Er verdiene wenig und habe sich Geld geborgt. Da er beim UN-Flüchtlingshilfswerk registriert sei, erhalte er monatlich 100 US-Dollar. Das Geld gebe er seiner Frau, die einmal im Monat, manchmal auch mit den Kindern, über die grüne Grenze aus Syrien käme. 100 US-Dollar würden der Familie, die geblieben ist, helfen. Gern würde Muhannad nach Europa gehen, wo das Leben besser und sicherer sei, wie er gehört habe. Aber eine Schiffspassage koste 8.000 US-Dollar, das Geld werde er nie aufbringen können. »Wir warten auf Hilfe«, sagt der junge Mann ruhig und spricht fast gelassen über sein unsicheres Leben und das seiner Familie: »Wir lächeln, damit unser Gegenüber auch lächeln kann.«

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