Banderas weiße Weste
Von Susann Witt-Stahl
Wo sich einst ein lückenhaftes kollektives Gedächtnis fand, tut sich bei der Bundesregierung ein dunkeldeutscher Abgrund auf. Ob es um ihre Haltung zur vom Nazismus durchwirkten Ideologie der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) oder um die Geschichtsklitterungen des Ukrainischen Instituts des nationalen Gedächtnisses der Kiewer Regierung geht: Sie hat eine Kleine Anfrage mit dem Titel »Rechtsextreme Ausprägungen der ukrainischen Geschichtspolitik« der Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen und Fraktion Die Linke mit einem großen Nichts beantwortet.
Fast alle der insgesamt 25 Fragen, von denen sich einige auf jW-Recherchen stützen, werden vom Auswärtigen Amt mit der Floskel »Der Bundesregierung liegen hierzu keine eigenen, über Medienberichte hinausgehenden Erkenntnisse vor« abgebügelt. Man mache sich die »rechtlichen Wertungen und Tatsachenbehauptungen« der Fragesteller, die sich vorwiegend auf die OUN und den Banderismus beziehen, »insbesondere hinsichtlich der pauschalen Einordnung bestimmter (historischer) Gruppierungen oder Personen als rechtsextrem, antisemitisch, antiziganistisch oder sonst rassistisch, ausdrücklich nicht zu eigen«, heißt es in der Vorbemerkung der Bundesregierung – eine Aussage, auf die sie in ihren weiteren (Nicht-)Antworten insgesamt siebenmal verweist.
Damit widerspricht die deutsche Regierung objektiv der weltweit anerkannten Historiographie des ukrainischen Faschismus und dessen Kollaboration mit Hitlerdeutschland. »Die OUN kämpfte nicht einfach nur für eine unabhängige Staatlichkeit. Sie kämpfte für das, was sie eine ›Ukraine für die Ukrainer‹ nannte, in der Juden und die meisten Polen und Russen eliminiert« würden, schreibt etwa der US-amerikanisch-kanadische Historiker John-Paul Himka, einer der renommiertesten Experten der Geschichte der OUN und ihrer Rolle in der Schoah und dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion.
»Das faktische Bestreiten wissenschaftlicher Erkenntnisse der internationalen Holocaustforschung durch vorgebliches Nichtwissen« reihe sich ein in Vorfälle wie »die unsägliche Ehrung des SS-Manns Jaroslaw Hunka im Parlament des NATO-Mitglieds Kanada als ›ukrainischer Held‹«, kommentierte Sevim Dagdelen das Verhalten der Bundesregierung gegenüber junge Welt.
Die »Wiederschlechtmachung«, wie der Dichter Erich Fried die Restauration des deutschen Imperialismus in der postnazistischen BRD genannt hatte, erreicht mit der »Zeitenwende« offenbar einen neuen schaurigen Höhepunkt. »Es ist ein geschichtspolitischer Super-GAU, wie die Ampel hier den seit 1945 bestehenden Konsens aufbricht«, meint Dagdelen. Dass die deutsche Regierung nicht einmal der in der Anfrage der Linksfraktion enthaltenen Aussage zur fortschreitenden Rehabilitierung Stepan Banderas und anderer ukrainischer Faschisten – »eine positive Sichtweise auf historische Organisationen und Persönlichkeiten, die sich mitschuldig am Holocaust und an NS-Verbrechen gemacht haben, kann in keiner Weise hingenommen werden« – zugestimmt hat, untermauert diesen Vorwurf. Ebenso die unappetitliche Tatsache, dass Annalena Baerbocks Ministerium vor einigen Monaten Vertreter der in der Tradition der OUN stehenden »Asow«-Bewegung empfangen hat. Dagdelen warnt vor brandgefährlichen Folgen: »Wer wie das von den Grünen geführte Außenministerium die Nazikollaborateure der Ukraine aus bloßem antirussischen Reflex weißzuwaschen versucht, hat wirklich jeden politischen Kompass verloren und rollt den Rechtsextremisten den roten Teppich aus.«
jW-Konferenz »Der Bandera-Komplex: Der ukrainische Faschismus – Geschichte, Funktion, Netzwerke«. Am 29. Oktober, ab 10.30 Uhr im Münzenbergsaal, ND-Haus, Berlin, jungewelt.de/bandera_komplex
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Ein Herz für Panzer
Kommunisten, die durch den Krieg auch in den USA, in Kanada und Australien stark wurden, wurden zum Abschuss freigegeben. Man drehte die Geschichte: Nicht das besiegte »Dritte Reich«, sondern der sowjetische Sieger wurde zum Teufel gemacht. Die USA besaßen eine beachtliche Gabe, sich die braunen Eliten in Deutschland, die Ex- oder Noch-Faschisten aus Italien und den Tenno (der Kriegsverbrechen begehen ließ) untertan zu machen!
Trudeau — der offenbar etwas unterbelichtet ist — kannte dieses nicht sehr delikate Kapitel der Geschichte der »freien Welt« nach 1945 offenbar nicht.