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Aus: Ausgabe vom 25.09.2023, Seite 3 / Schwerpunkt
Verdi-Bundeskongress

»Der Bundesvorstand übt null Selbstkritik«

Falsche Verteilung von Ressourcen, unzureichende Bildungsarbeit, veraltete Tarifpolitik. Verdi steckt in der Krise. Ein Gespräch mit Orhan Akman
Von Susanne Knütter
Ein »Achtungserfolg«: Bei den Wahlen für den Verdi-Bundesvorstand holte Akman knapp 24 Prozent der Stimmen

Bei den Wahlen für den ­Verdi-Bundesvorstand haben Sie 201 von 839 Stimmen erhalten. Ein gutes Ergebnis?

In mehreren Zeitungen war danach von einem Achtungserfolg die Rede, das teile ich. Knapp ein Viertel der Delegierten hat für mich gestimmt. Bezieht man die Enthaltungen mit ein, kann gesagt werden, rund jede und jeder dritte Delegierte ist mit dem Kurs des aktuellen Bundesvorstandes unzufrieden. Das ist erst einmal ein sehr gutes Ergebnis. Hätte ich im Vorfeld die Möglichkeit gehabt, mich auch bei den Delegiertenvorbesprechungen vorzustellen, und würde mir nicht seit fast zwei Jahren der Zugang zu den ehrenamtlichen Gremien verwehrt, dann wäre es sicherlich noch besser gewesen. Aber der Vorstand hat es, trotz aller Versuche, mich aus der Organisation herauszudrängen, mich mit arbeitsrechtlichen Maßnahmen zu überfluten und mich aus den Konferenzen herauszuhalten, nicht geschafft, dass ich und meine Kritik verschwinden. Aus diesem Konflikt bin ich nach dem Kongress gestärkt hervorgegangen.

Ich dachte bis zuletzt, als ehemaliger Bundesfachgruppenleiter für den Einzelhandel würden Sie für den Fachbereich Handel kandidieren und gegen Silke Zimmer antreten.

Das war auch mein Wunsch. Allerdings hat der Gewerkschaftsrat mir mitgeteilt, dass ich gegen eine Frau nicht kandidieren darf. Und zweitens darf man nicht gegen eine Person kandidieren, die vorher von einer Fachbereichskonferenz nominiert worden ist. Damit blieben nur noch die Mandate von Frank Werneke, Detlef Raabe und Christoph Meister.

Warum haben Sie sich für den Posten von Christoph Meister entschieden, der im Bundesvorstand bereits für Finanzen und Bildungsarbeit zuständig war?

Es ist zunächst festzuhalten, dass der Unterschied zwischen mir und den anderen Kandidatinnen und Kandidaten darin besteht, dass ich mir ernste Sorgen über die Zukunft der Organisation mache und zugleich Vorschläge entwickelt habe, wie man Verdi wieder schlagkräftiger aufstellen kann. Es kommt maßgeblich darauf an, wie und wofür die gewerkschaftlichen Finanzen verwendet werden. Notwendig ist eine Neuausrichtung unserer Gewerkschaft, die nah an den Mitgliedern und nah an Betrieb und Dienststelle sein muss. Dazu müssen wir die Finanzströme und die gesamte politische Kraft unserer Gewerkschaft in die Arbeit vor Ort und in die Betriebe und Dienststellen lenken.

In diesem Kontext nimmt die Bildungsarbeit einen besonders großen Stellenwert ein. Meines Erachtens ist eines der Kernprobleme der deutschen Gewerkschaftsbewegung, dass wir zwar Mitglieder gewinnen – zu wenige nach wie vor –, aber mit den neuen Mitgliedern eigentlich wenig anfangen. Wir holen sie mal für einen Streik raus und dann ist gut. Wichtig wäre, ein Bewusstsein zu schaffen für die Gewerkschaft als Klassenorganisation. Damit man in den Kämpfen zwischen Arbeit und Kapital nicht nur einen Tarifvertrag erkämpft, sondern sich auch gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen positioniert, sich etwa gegen Krieg und Militarisierung, gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters und Rentenkürzungspolitik, gegen rechts und Faschismus anders politisiert. Das bedeutet im Grunde, den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital in der Bildungsarbeit als Kern zu vermitteln.

Auf dem Kongress wurden nun die gewerkschaftlichen Koordinaten für Friedenspolitik Richtung Krieg und NATO-Doktrin verschoben. Das ist ein fatales Zeichen. Dagegen müssen sich die progressiven Kräfte in Verdi erheben. Wir dürfen nicht zulassen, dass Verdi und der DGB der Kriegspropaganda und der Argumentation für Waffenlieferungen in Kriegsregionen hinterherlaufen. Auch deshalb ist die Bildungsarbeit von enormer Bedeutung.

In Ihrer Bewerbungsrede haben Sie Kampagnen der letzten Jahre angesprochen. Verdi hat sich demnach schon mit der eigenen Krise auseinandergesetzt. Das ist jetzt nicht mehr so?

Drei zentrale Projekte sind gescheitert, weil sie extern aufgesetzt und von Sparmaßnahmen gekennzeichnet waren. Also wir holen Beratungsfirmen, die uns sagen, wie wir unsere Arbeit machen sollen. Das ist völliger Blödsinn. Dann wird noch mal das gleiche mit einem neuen Titel aufgesetzt – »Zukunft der Mitgliedergewinnung« heißt es jetzt –, ohne dass die vorhergehenden Kampagnen richtig analysiert wurden. Wir haben die größte Austrittswelle der letzten zehn oder zwölf Jahre. Binnen 20 Jahren haben wir eine Million Mitglieder verloren. Und der Bundesvorstand übt null Selbstkritik. Frank Werneke ist seit 2019 Chef, davor war er 18 Jahre lang stellvertretender Vorsitzender. Der Bundesvorstand ist dafür verantwortlich, dass der Kahn auf Grund läuft, und der Vorsitzende malt uns ein Bild, als wären wir auf der Erfolgsspur.

Ihr Zukunftskonzept für Verdi beruht auch auf der Losung »Mehr Personal in die Betriebe und vor Ort«.

Wir haben nach letztem Stand 3.380 Beschäftigte bei Verdi. Das ist jede Menge Personal. Aber wenn davon 561 in der Bundesverwaltung sind und wir zudem in den Landesebenen zu viele Koordinierungsstellen haben, kommen wir in den Bezirken und in den Betrieben deutlich weniger vor. Warum streichen wir nicht einen Teil der Stellen auf der Bundes- und Landesebene und stecken diese Kapazitäten in die Bezirke und Betriebe? Notwendig ist, Gewerkschaft nachhaltig in den Belegschaften zu verankern. Das geht über Bildungsarbeit, damit die Beschäftigten wissen, warum sie in der Gewerkschaft sind und sie am Ende auch die Gewerkschaft sind – und nicht die Hauptamtlichen. Das zweite ist, dass wir dafür Sorge tragen müssen, dass die Gewerkschaft permanent vor Ort präsent ist. Wir haben Bundesländer, wo es weniger als eine Handvoll Geschäftsstellen von Verdi und DGB gibt. Dadurch entsteht ein Vakuum, was auch die AfD ausnutzt.

Ich erinnere mich an den Bundeskongress 2019. Kurz vorher formulierte Anton Kobel, langjähriger Sekretär im Einzelhandel, auch eine Kritik, die Ihrer ähnelt.

Ein Grund, warum ich Anfang 2019 in die Bundesverwaltung gekommen bin, war, zu sagen, wenn man nicht genügend Hebel für Veränderungen in die Hand bekommt, muss man selbst nach vorne gehen. In der Bundesfachgruppe Einzelhandel haben wir dann versucht, durch Betreuungsteams die örtliche Arbeit im Betrieb und den Gremien auf der Bundesebene, den Gesamtbetriebsräten, den Konzernbetriebsräten besser zu verzahnen und durch gemeinsame Aktivitäten in der Tarifpolitik und betrieblichen Arbeit stärker zu werden. Das war ein neuer Ansatz. Schon das wurde durch einen Teil der Führungskräfte bekämpft. Weil es bedeutet, dass man Macht abgeben muss. Ich sage, im Handel brauchen wir keine regionalen Tarifverträge mehr, sondern mindestens nationale, wenn nicht sogar internationale Tarifverträge entlang der Wertschöpfungsketten. Das bedeutet auch, dass man die »Landesfürsten« in der Tarifpolitik entmachten muss. Ich gehe fest davon aus, dass ein Teil der Anfeindungen daraus resultiert. Der Unterschied zwischen Anton Kobel und mir war und ist: Ich gehe selber in Verantwortung und scheue keine Konflikte.

Sie hatten 2019 die Kritiker kritisiert.

Es gab damals schon sehr viel berechtigte Kritik an der Bundesfachbereichsleiterin für den Handel. Ich war selbst ihr größter Kritiker und habe diese Kritik ihr gegenüber auch immer geäußert. Aber bei der Wahl 2019 habe ich sie unterstützt. Im nachhinein denke ich, dass das falsch war. Aber den Kritikern aus den Landesfachbereichen habe ich damals schon gesagt, dass sie halt selber kandidieren müssten. Dazu war niemand bereit.

Drei Beispiele will ich kurz nennen: Bei der internen Kritik ging es unter anderem um einen Weg, wie man bei Amazon einen Tarifvertrag durchsetzen kann. Das war schon 2017/2018 einer der Streitpunkte zwischen mir und den Landesfachbereichsleiterinnen und -leitern sowie der Bundesverwaltung. Damals bestand die Möglichkeit, bei Amazon einen Spartentarifvertrag für den Online- und Versandhandel anzustreben. Das war einer der zentralen Konflikte mit dem Fachbereich Handel. Das endete dann so, dass ich erst einmal für ein Jahr nach Brasilien gegangen bin. Bei der Rewe Group haben wir drei Jahre lang Gespräche geführt und ein Tarifpaket zu Ende sondiert. Es ging in diesem Tarifpaket unter anderem um die Erhöhung und Verbesserung der betrieblichen Altersvorsorge, aber auch um den ersten Versuch eines Tarifvertrages entlang der Wertschöpfungskette. Am Ende scheiterte dieses wegweisende Projekt an den Landesfachbereichsleitern und dem Bundesvorstand. Auch das aktuelle Vorgehen von ­Verdi-Handel bei Galeria Karstadt-Kaufhof ist strategie- und planlos. Es wird ernsthaft behauptet, GKK könnte von heute auf morgen in den Flächentarifvertrag zurückkehren. Das geht völlig an der betrieblichen Realität vorbei. Die Landesfachbereichsleiter Handel sowie die Bundesfachbereichsleiterin hielten und halten an den verkrusteten Tarifverträgen im Handel fest, wohl wissend, dass diese nur noch für 17 Prozent der Einzelhandelsbetriebe gelten. Silke Zimmer will in »Weiter so«, während ich einen anderen tarifpolitischen Kurs vorschlage. Irgendwann sind diese Konflikte halt eskaliert.

Sind Flächentarifverträge überholt?

Flächentarifverträge sind ein gutes Instrument der Solidarisierung der Belegschaften, des gemeinsamen Handelns über den Betrieb hinaus. Aber das Modell ist in einer Krise. Der Großteil der Belegschaften, allen voran in der Privatwirtschaft, fällt nicht mehr unter den Schutz dieser Verträge. Wir brauchen flankierende Maßnahmen, um den Flächentarifvertrag wieder zu stabilisieren. Das heißt, wir brauchen auch für die betrieblichen Themen Tarifverträge. Was wir bei H&M gemacht haben, einen Tarifvertrag zu Digitalisierung abzuschließen, ist der absolut richtige Weg. Wir haben einen Flächentarifvertrag und zusätzlich haben wir Digitalisierung tarifiert. Wir brauchen einen Manteltarifvertrag für den gesamten Handel zu Arbeitszeiten, Urlaub, Zuschlägen. Im Bereich der Löhne und Gehälter sind Tarifverträge notwendig, die auf die gegebenen Segmente zugeschnitten sind. Bei den Online- und Lieferdiensten schreit es geradezu nach einem eigenen Tarifvertrag.

Warum will Verdi das nicht?

Die Hauptamtlichen in den Landesbezirken behaupten, wenn wir Spartentarifverträge machen, verlieren die Beschäftigten Geld. Was so nicht stimmt. Denn es kann auch sein, dass sie mehr bekommen. Verdi fordert Amazon nach wie vor auf, dass sie den Einzelhandelstarifvertrag anwenden. Aber in Teilen zahlt Amazon den Beschäftigten bereits mehr. Das ist ein Erfolg der Streiks, zeigt aber auch, dass wir unser Vorgehen anpassen müssen. Bei Amazon wäre es nach meinem Dafürhalten richtig, einen Spartentarifvertrag oder einen eigenen Konzerntarifvertrag zu fordern. Auch bei Verhandlungen im Lebensmittelhandel würde uns ein Spartentarifvertrag eher nutzen.

Kandidieren Sie in vier Jahren wieder?

Meine Kritik und meine Kandidatur waren und sind kein Selbstzweck. Ich sage, lasst uns offen über die Krise reden. Ich kann auch an anderen Stellen für unsere Gewerkschaft nützlich sein. Die Frage ist, ob es uns in den nächsten Jahren gelingt, die Organisation so umzukrempeln, dass wir in den Belegschaften wieder eine Stimme werden. Deshalb werde ich sicherlich nicht bis zu den nächsten Wahlen die Füße stillhalten. Probleme in der Gewerkschaft anzusprechen ist aufrichtig gegenüber den Belegschaften. Ich halte es auch für falsch, zu sagen, wir sprechen nur für die Verdi-Mitglieder. Als Gewerkschaften sollten wir den Anspruch haben, für alle lohnabhängig Beschäftigten, also die gesamte Arbeiterklasse zu sprechen.

Immer noch kein Abo?

Die junge Welt ist oft provokant, inhaltlich klar und immer ehrlich. Als einzige marxistische Tageszeitung Deutschlands beschäftigt sie sich mit den großen und drängendsten Fragen unserer Zeit: Wieso wird wieder aufgerüstet? Wer führt Krieg gegen wen? Wessen Interessen vertritt der Staat? Und wem nützen die aktuellen Herrschaftsverhältnisse? Kurz: Wem gehört die Welt? In Zeiten wie diesen, in denen sich der Meinungskorridor in der BRD immer weiter schließt, ist die junge Welt unersetzlich.

  • Leserbrief von Rainer Kral aus Potsdam (25. September 2023 um 14:37 Uhr)
    Scholzens Gewerkschaft auf Linie. Die Frage, die man sich stellt, wer braucht solche Gewerkschaften, die alles andere sind, als Interessenvertreter der Arbeiter und Angestellten? Eine Gewerkschaft, die sich für Waffenlieferungen in ein Krisengebiet einsetzt, ist wohl eher der verlängerte Arm des militärisch-industriellen Komplexes. Scholz und seine militaristische Regierung wird zufrieden Beifall klatschen und die Gewerkschaftsbosse werden sich, ob des Lobes der Kriegstreiber, »gebauchklatscht« zurücklehnen. Wenn ich Mitglied dieses Vereines wäre, würde ich noch heute meinen Austritt erklären.

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