Nichts ist vergessen
Von Norman PhilippenMögen hiesige Medien auch sträflich stiefmütterlich an den faschistischen Putsch in Chile von 1973 erinnern, und blieb die kürzlich erfolgte Verurteilung der Mörder Víctor Jaras daher oft nur Randnotiz, zur steinernen Ikone verkommen wird der revolutionäre Sänger und Regisseur dennoch auch hierzulande so schnell nicht. Dafür sorgte diese Woche nicht allein Jaras auf europäischer Vortragstour befindliche Tochter Amanda. Dazu tragen seit 50 Jahren – von Joan Baez über The Clash, von der HipHop-Combo Freundeskreis bis zu den Metalcorern Heaven Shall Burn – die unterschiedlichsten internationalen Künstler ebenso bei wie die zahlreichen Menschen, indem sie Jaras Melodien und Verse intonieren und lebendig halten.
Gleich 500 von ihnen kamen vergangenen Sonnabend im ausverkauften Berliner Kino Babylon zusammen, um der musikalischen Losung »Es lebe der Genosse Jara!« live zu lauschen. Etwa der chilenischen Sängerin Aruma Itzamaray, der Sopranistin Carolina Dawabe Valle, dem Berliner Liedermacher und Theatermusiker Tobias Thiele als Duo Yarawi. Thiele, der als Musiker, Rezitator, gleichsam als Moderator und Übersetzer glänzte, hatte die Ehre, hochkarätige Genossen und Freunde begrüßen zu dürfen. Der Singer-Songwirter Calum Baird wiederum hatte die vorgetragenen Kompositionen zum Teil erst dieses Jahr in Thieles Studio aufgenommen. In »4 a. m.« besang Calum die Schlaflosigkeit, die einem zu diesen Zeiten leicht zu schaffen machen kann. Und nach Calums Song »Beauty in the Worst of Times« war nicht nur die fünf Jahre nach Jaras Tod geborene Sitznachbarin zu recht schwer verzückt.
Von Jara als Sänger und »ethischer Figur des Liedermachens« begeistert war der argentinisch-deutsche Musiker Pablo Miró schon als Kind. Dass er die Tradition der politischen Lieder Jaras – »ein wunderbares Antibiotikum gegen jeden Blödsinn, den man machen kann« – seitdem aufs Schönste beerbt, zeigte er in gleich sieben Liedern überaus eindrucksvoll. Wie alle Interpreten des Abends trug auch Miró teils Songs Jaras (»Manifiesto«), teils eigene Kompositionen wie das Julian Assange gewidmete Lied »Für Julian« vor. Auch die kubanische Sängerin und Gitarristin Yaima Orozco, die traditionelle musikalische Genres der Insel aufs Schönste mit zahlreichen weiteren Rhythmen der Welt zu revolutionären Zwecken zu fusionieren wusste, ging dem Publikum zu Herzen.
Vier viel beklatschte Stunden war der gemeinsame Abend alt, als der Liedermacher und Dichter Nicolás Rodrigo Miquea zum Ende seiner leidenschaftlichen Soloperformance kam. Und auf der Bühne blieb, um mit den Bühnengenossen unter beherzter Unterstützung des Publikums vielstimmig die letzten beiden Lieder des Abends zu singen. Im das Babylon restlos füllenden Chor konnte sich schließlich ein Halbtausend »mehr oder minder Empörter« (Pablo Miró) mit Víctor Jaras »El Pueblo Unido« daran erinnern, dass, wer gemeinsam steht, kämpft und singt, nur schwer geschlagen werden kann.
Daran, dass Veranstaltungen wie dieses Highlight der jW-Veranstaltungsreihe zum faschistischen Putsch in Chile von 1973 so richtig wie wichtig sind, erinnerte in der Pause nicht zuletzt die erwähnte Sitznachbarin. Kommt sie zwar nur zu selten zur umfänglicheren Lektüre der Tageszeitung, aber dafür immer gerne zu jW-Events – und trägt so mit dazu bei, dass es stimmt: »Nichts ist vergessen und niemand«.
PS: Für diejenigen, die das Konzert nicht live miterleben konnten, gibt es Trost: Der jW-Verlag bereitet eine Doppel-CD mit den Highlights des Abends vor
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