»Schlimmer als wir dachten«
Von Dieter Reinisch
Der Nordirlandkonflikt von 1969 bis 1998 war ein Krieg, der wie kaum ein anderer auch in den Internierungslagern und Gefängnissen geführt wurde. Die intensivste Phase des Gefängniskampfes begann 1976, als die britische Regierung ein neues Hochsicherheitsgefängnis eröffnete: HMP Maze war der offizielle Name, doch irische Republikaner nannten es nach dem nahe gelegenen Internierungslager Long Kesh. Bekannt wurde es unter dem Namen H-Blocks, da die Gebäude einen H-förmigen Grundriss hatten. In der Mitte war ein Kontrollraum, an den sich vier Flügel mit Zellen anschlossen, dazwischen zwei Freilufthöfe. Ein modernes Panoptikum, in dem die Gefangenen permanenter Kontrolle ausgesetzt sein sollten.
Mit der Eröffnung der H-Block-Gefängnisse ging auch ein politischer Wandel einher. Kriminalisierung nannte es die britische Regierung. Alle Gefangenen, die nach dem März 1976 verhaftet wurden, bekamen nicht mehr die spezielle Anerkennung wie ihre Genossen in den Lagern. Dort wurden sie aufgrund des »Special Category Status« ähnlich wie Kriegsgefangene nach der Genfer Konvention behandelt. Dem schob die Regierung 1976 einen Riegel vor: Mit der Eröffnung der H-Blocks wurden alle dort inhaftierten Gefangenen wie gewöhnliche Häftlinge behandelt. Durch die Einstufung als »einfache Kriminelle«, wie es London nannte, sollte ihr Kampf delegitimiert werden.
Kaum Besuche, wenig Post, nahezu 24stündiges Eingesperrtsein in winzigen Zellen sowie eine Gefängnisuniform wurden den irischen Republikanern auferlegt. Aber diese weigerten sich, das zu akzeptieren.
Am 14. September 1976 wurde Kieran Nugent zu drei Jahren Haft verurteilt. Er war gerade einmal 18 Jahre alt. Mit 16 hatte er sich der IRA angeschlossen. Bei der Registrierung im neuen Hochsicherheitsgefängnis weigerte er sich, die Uniform anzuziehen. »Sie müssen sie schon an meinen Rücken anheften«, so seine Reaktion. Er wurde nackt in eine Zelle geworfen und wickelte sich in ein Bettlaken. Rasch schlossen sich sechs weitere Gefangene an. Der »blanket protest« (Bettlakenprotest) hatte begonnen.
Da die Gefangenen, besonders beim Aufsuchen der Toiletten und Duschen, oft den Drangsalierungen und Schlägen der Wärter ausgesetzt waren, weitete sich der Protest rasch aus. Nunmehr weigerten sie sich, ihre Zellen zu verlassen. Der Versuch, ihre Exkremente aus den Fenstern zu werfen, scheiterte an den Wärtern, die diese einfach zurück in die Zellen schaufelten. Auf dem Höhepunkt waren mehr als 300 Gefangene an diesem »no wash protest« beteiligt.
Doch die britische Regierung lenkte nicht ein, und mit dem Wahlsieg der erzkonservativen Margaret Thatcher verschärfte sich die Situation weiter. Im Herbst 1980 traten mehrere Gefangene in den Hungerstreik, auch drei Frauen im Gefängnis Armagh schlossen sich an. Im März 1981 begann ein neuer Hungerstreik, diesmal angeführt vom IRA-Oberbefehlshaber in den H-Blocks, Robert »Bobby« Sands.
Obwohl Sands während seines Hungerstreiks bei einer Nachwahl zum Abgeordneten des britischen Unterhauses gewählt worden war, blieb Thatcher hart: »Ein Verbrechen ist ein Verbrechen ist ein Verbrechen«, sagte sie und erklärte, mit »Kriminellen nicht zu sprechen«. Sands starb im Hungerstreik. 100.000 Menschen kamen zu seinem Begräbnis in Belfast. Neun weitere republikanische Gefangene starben, bis der Hungerstreik im Herbst 1981 beendet wurde.
In den folgenden zwei Jahren erhielten die politischen Gefangenen nahezu alle geforderten Rechte zurück. Sie waren nun wieder von der britischen Regierung anerkannte politische Gefangene – und damit war auch ihr Kampf für ein vereintes, sozialistisches Irland als solcher anerkannt. Ein großer Sieg.
Diese Phase des Gefängniskampfes endete vor 40 Jahren mit einem weiteren Erfolg, der die Moral der Bewegung inner- und außerhalb der Gefängnisse hob. Am 25. September 1983 flüchteten 38 IRA-Gefangene aus den H-Blocks, die die britische Regierung vor dem Bau als das »ausbruchsicherste Gefängnis der Welt« bezeichnet hatte.
Die New York Times berichtete noch am selben Tag, 38 »irische Nationalisten brachen heute aus dem Hochsicherheitsgefängnis Maze aus, nachdem es zu Feuergefechten und Nahkämpfen gekommen war, bei denen ein Wärter erstochen und fünf weitere verletzt wurden«.
Bis zum Anbruch der Dunkelheit waren bereits elf Gefangene von der nordirischen Polizei RUC und der britischen Armee wieder eingefangen worden. Dennoch sah die nationalistisch-katholische Bevölkerung in ganz Nordirland den Ausbruch als einen Erfolg an, wie der New York Times-Korrespondent schrieb: »Die Atmosphäre in den katholischen Vierteln war angespannt, Jugendliche verspotteten die Sicherheitskräfte, und die Anwohner feierten den Gefängnisausbruch mit Freudenfeuern und Biertrinken.«
In einer Pressemitteilung des britischen Nordirlandbüros (NIO) hieß es am Tag des Ausbruchs, die Gefangenen hätten »aus einem getrennten republikanischen Block« Schusswaffen und Messer hervorgeholt und die Wärter überwältigt. Anschließend hätten sie die Wärter entkleidet und sich deren Uniformen angezogen. Die Fliehenden hätten dann versucht, mit einem gestohlenen Lastwagen über das Haupttor des Gefängnisses zu entkommen. Da das Tor aber von Wärtern blockiert wurde, wären sie weiter zu Fuß geflohen. In diesem Zusammenhang sei es auch zu einem Handgemenge gekommen, bei dem Schüsse fielen. Entlang des nahe gelegenen Flusses Lagan fand die Polizei später Plastiktüten mit Kleidung, die zuvor für die Gefangenen versteckt worden waren, berichtete der britische Guardian. Alle Gefangenen kamen aus dem Gefängnisblock H7, in dem bei einer Durchsuchung später weitere Munition gefunden wurde.
Als Thatcher am Abend über den Ausbruch informiert wurde, kommentierte sie auf der Titelseite des Berichts, den der Geheimdienst ihr vorgelegt hatte: »Es ist noch viel schlimmer, als wir dachten.« Der Ausbruch war eine eindeutige Niederlage der Regierung. In der Folge trat der Gefängnisleiter zurück, und die britische Regierung gab den Forderungen nach einer Segregation von loyalistischen und republikanischen Gefangenen nach. Obwohl die meisten der Ausgebrochenen rasch wieder eingefangen wurden, war der Ausbruch somit doch ein Erfolg für die IRA.
Lassen Sie sich nicht als Kanonenfutter verwenden!
Die folgende Erklärung der IRA-Gefangenen wurde den festgehaltenen Gefängniswärtern im Block H7 verlesen:
An alle Gefängnismitarbeiter, die am Sonntag, den 25. September, von republikanischen Kriegsgefangenen (POWs) festgenommen wurden.
Was heute hier stattgefunden hat, war eine sorgfältig geplante Aktion zur Freilassung einer beträchtlichen Anzahl von POWs. Der Block steht jetzt unter unserer Kontrolle. Jeder, der angegriffen oder verletzt wurde, weigerte sich, mit uns zu kooperieren. Es ist nicht unsere Absicht, alte Rechnungen zu begleichen, jemanden von Ihnen zu misshandeln oder zu erniedrigen, unabhängig von Ihrer Vergangenheit. Sollte jedoch jemand versuchen, uns zu unterschätzen oder herauszufordern, wird er hart bestraft. Jeder, der sich jetzt oder in Zukunft weigert, unseren Anweisungen Folge zu leisten, wird den Zorn der Republikanischen Bewegung zu spüren bekommen.
Sollten Mitglieder der Gefängnisverwaltung republikanische POWs misshandeln, schikanieren oder einen Meineid gegen sie begehen, sei es gerichtlich oder anderweitig, werden wir dies als einen weiteren Akt der Unterdrückung des irischen Volkes ansehen.
Abschließend geben wir Ihnen als Republikaner unser Wort, dass keinem von Ihnen Schaden zugefügt wird, sofern Sie uneingeschränkt mit uns zusammenarbeiten. Wer sich weigert, wird die ultimative Konsequenz erleiden – den Tod! Lassen Sie den gesunden Menschenverstand siegen. Lassen Sie sich nicht von der Gefängnisleitung oder den gesichtslosen Bürokraten in Stormont oder Whitehall als Kanonenfutter verwendet.
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