Operation Lira
Von Klaus Fischer
Hafize Gaye Erkan mischt die Türkei auf. Und noch ist nicht abzusehen, wie sich die geldpolitische Operation der seit Juni amtierenden Zentralbankchefin auf den Patienten auswirken wird. Denn die anhaltend hohe Inflation sorgt weiter dafür, dass die Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben der Türkischen Republik unter Schüttelfrost leiden. Am Donnerstag verordnete die frühere Goldman-Sachs-Managerin der Landeswährung Lira die nächste deutliche Zinserhöhung – um weitere fünf Prozentpunkte ging es nach oben. Innerhalb eines halben Jahres kletterte der Leitzins dadurch in drei Schritten von acht auf nunmehr 30 Prozent.
Die Erhöhung von 17 auf 25 Prozent liegt gerade einmal einen knappen Monat zurück. Indem Erkan erneut nachlegte, demonstrierte sie in enger Zusammenarbeit mit dem neuen Finanzminister Mehmet Şimşek – er amtierte bereits zwischen 2016 und 2018 –, dass eine frühere Doktrin des Staatschefs nicht mehr gilt. Recep Tayyip Erdoğan war lange Zeit der Meinung, dass die Inflation mit Zinssenkungen bekämpft werden müsse und hatte jeden Zentralbankchef genötigt, dies umzusetzen. Erfolge blieben allerdings aus.
Seit seiner Wiederwahl im Mai hat der Präsident eine Kehrtwende vollzogen. Zugleich signalisierte er mit der Wiedereinsetzung von Şimşek und der Berufung Erkans nach außen, dass die Geldpolitik des Landes nun eher nach den Vorstellungen des Westens betrieben wird. Wie Erkan war auch Şimşek für große US-Finanzkonzerne tätig, unter anderem sieben Jahre für die seit 2009 zur Bank of America gehörende Investmentbank Merrill Lynch.
Bislang ist die Wirkung der rasanten Zinserhöhung eher bescheiden. So lag die Geldentwertung im August nach Regierungsangaben immer noch bei fast 60 Prozent. Zwar ist das deutlich weniger als im September 2022 mit 83,45 Prozent, doch weiter viel zu hoch. Sichtbar ist: Die Inflation reagiert nicht zwangsläufig auf Zinsschritte. Auch stabilisieren diese nicht unbedingt den Außenwert der Landeswährung. So wertete die Lira nach der Erhöhung auf 25 Prozent im August gegenüber den westlichen Leitwährungen nicht auf, sondern verlor weiter, wenn auch leicht.
Soziale Ausgleichsmaßnahmen des Staates sind notwendig, feuern die Teuerung aber eher an. Zur Inflation kommen noch die Folgen des verheerenden Erbebens im Februar hinzu, auch sie belasten die Staatsfinanzen. So hatte die Regierung unter anderem die Sozialhilfen und den Mindestlohn vor der Wahl fast verdoppelt. Doch alles wird auch durch Steuererhöhungen finanziert. Die Umsatzsteuer stieg von 18 auf 20 Prozent, Kraftstoffe wurden teurer und Unternehmenssteuern angehoben.
Die Türkei bleibt dabei auf Importe von Roh- und Brennstoffen angewiesen. Für die Bezahlung braucht sie Devisen. Hohe Preise im Inland gehen aber auch da zu Lasten der Haupteinnahmequellen. Seit Mitte Juli ist der Wechselkurs der Lira zu Euro und US-Dollar weitestgehend stabil, »während die Preise immer weiter steigen«, wie das Handelsblatt am Donnerstag schrieb. Die Produkte der exportorientierten Wirtschaft würden damit auf den Hauptausfuhrmärkten in Europa und Nordamerika ebenfalls immer teurer. Und schließlich strömten auch die Touristen nicht mehr ganz so massenhaft ins Land. Vor allem Russen würden aus Kostengründen inzwischen lieber in Ägypten ihren Urlaub verbringen als an der türkischen Riviera.
Immerhin: Die Wirtschaft wächst. Und das stärker als in den meisten Ländern der EU. Im ersten und zweiten Quartal legte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 3,9 bzw. 3,8 Prozent zu. Verglichen mit Deutschland ist das zwar super, doch gemessen an den ambitionierten Zielen Erdoğans und der Regierungspartei AKP zu wenig. Die wollen das Land unter die zehn führenden Volkswirtschaften der Welt führen. Stand 2022 sieht der Internationale Währungsfonds die Türkei beim kaufkraftbereinigten BIP von knapp drei Billionen US-Dollar auf Platz elf, bei der nominalen Wirtschaftsleistung mit gut 800 Milliarden Dollar auf Platz 20. Bleibt zu hoffen, dass die Maßnahmen von Zentralbankchefin Erkan besser fruchten als jene in ihrem Job bis 2021 als Topmanagerin der kalifornischen First Republic Bank. Die ging 2023 pleite.
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