Blaupause
Von Jörg Kronauer
Wie kann man in der Ukraine einen Waffenstillstand, vielleicht gar Friedensverhandlungen erreichen, und zwar so rasch wie möglich, damit das Massensterben möglichst bald ein Ende hat? Vor der UN-Vollversammlung wurden in dieser Woche vor allem zwei Ansätze präsentiert. Der erste ist keiner. Da wird verlangt, Russland solle doch einfach seine Truppen abziehen; das sei der schnellste Weg aus dem Krieg. Nur: Alle wissen – auch Kanzler Olaf Scholz, der die Forderung vortrug –, dass Moskau das nicht tun wird. Der Ruf nach einem einseitigen Abzug ist eine billige Ausrede, wenn man eben keinen Waffenstillstand wünscht. Der zweite Ansatz: Man dringt auf das, womit so gut wie jeder Krieg beendet wird – auf Verhandlungen. Für China hat Vizepräsident Han Zheng in New York einmal mehr bestätigt, Beijing wolle dabei »eine konstruktive Rolle« spielen. Und nicht nur das: Fast zur gleichen Zeit holte Chinas Außenminister Wang Yi in Moskau von Präsident Wladimir Putin persönlich die Zusage ein, Moskau sei bereit, den Konflikt durch Verhandlungen beizulegen. Beijing hat damit getan, was zur Zeit möglich ist.
Und das nicht zum ersten Mal. Präsident Xi Jinping drang bereits am Tag nach Russlands Angriff, am 25. Februar 2022, bei Putin telefonisch auf eine friedliche Lösung. Chinas Botschafter in Deutschland, Wu Ken, der das Anfang des Jahres bestätigt hat, stellte fest, das habe dazu beigetragen, dass Moskau und Kiew kurz darauf Verhandlungen aufnahmen. Dass die Verhandlungen abgebrochen wurden, lag daran, dass der Westen den Krieg fortsetzen wollte, um Russland zu schwächen. Beijing hat es im Februar erneut versucht, als es zum Jahrestag des Kriegsbeginns ein Zwölf-Punkte-Papier zur politischen Lösung des Konflikts vorlegte, abermals in Moskau Druck machte und einen Sondergesandten nach Europa schickte. Wieder führte dies zu nichts: Im Westen dominierte die Hoffnung, die bevorstehende Offensive der Ukraine könne Russlands Landbrücke zur Krim durchbrechen und Moskau auf lange Sicht in Probleme bringen. Jetzt, da die Offensive scheitert, versucht China es erneut.
Dass Beijing so großen Wert auf Verhandlungen legt, hat verschiedene Gründe. Nicht der unwichtigste ist, dass die Volksrepublik auch den Konflikt, der ihr am gefährlichsten werden kann, politisch, nicht mit Gewalt lösen will: den Konflikt um Taiwan. Han hat in New York erneut bekräftigt, Beijing setze sich für eine »friedliche Wiedervereinigung« ein. Die USA hingegen provozieren, treiben Taipeh per Salamitaktik in Richtung Abspaltung; und ihre Aufrüstung im regionalen Umfeld der Volksrepublik erinnert immer deutlicher an die NATO-Osterweiterung in Richtung Russland. Letztere ist der Konflikt, der dem Ukraine-Krieg zentral zugrundeliegt. Gelingt es, eine politische Lösung für ihn zu finden, dann kann man mit noch stärkerem Nachdruck eine vergleichbare Lösung für die Asien-Pazifik-Region einfordern. Der Westen verlöre damit einen zentralen Hebel gegen Beijing.
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