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Aus: Ausgabe vom 23.09.2023, Seite 5 / Inland
Gewerkschaft

Verdi auf Linie

Bundeskongress stimmt für Lieferung von Waffen an Ukraine. Debatte um Leitantrag abgewürgt
Von Susanne Knütter
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»Kein Bruch mit der Tradition«: Verschleierungstaktiker Werneke auf dem Kongress

Auch das ist Demokratie: Die bis dahin schweigende Mehrheit des Verdi-Bundeskongresses nutzte am Donnerstag abend den ersten Änderungsantrag zum »friedenspolitischen« Leitantrag des Bundesvorstands, um ihre Argumente für den »Verteidigungskrieg« in der Ukraine abzufeuern. Obwohl mit diesem ersten Änderungsantrag zunächst einmal nur der Passus zur regierungstreuen Haltung der Gewerkschaft zur Sanktionspolitik gestrichen werden sollte. Nach anderthalb Stunden Debatte lehnten Dreiviertel der Delegierten die vorgeschlagene Änderung ab. Und damit war für sie offenbar alles gesagt. Zwei Geschäftsordnungsanträge folgten, die mit Mehrheit angenommen wurden. Der erste forderte das »Ende der Debatte für alle Änderungsanträge«, der zweite die Blockabstimmung aller Änderungsanträge zum Leitantrag. Das bedeutete nichts anderes als die Ablehnung aller Änderungen, die mehrheitlich eine Bekräftigung des friedenspolitischen Profils von Verdi und ein klares Nein zu Waffenlieferungen und Aufrüstung von Bundeswehr und NATO forderten.

Das Ende der Debatte kam überraschend. Die Linken in der Gewerkschaft hatten sich in der ersten Antragsdiskussion zurückgehalten, weil sie offenbar darauf vertrauten, später ihre Argumente darlegen zu können. Von der Mehrheit der Delegierten war gerade das offensichtlich nicht gewünscht. Trotz gegenteiliger Beteuerungen wie: »Jetzt sind wir auf jeden Fall an dem Ort, wo die Argumente hingehören« (Delegierter Nino-Pascal Bündgen). Nach nur einem Änderungsantrag hieß es, »alle Argumente« wären »ausgetauscht« (Olaf Könemann).

Mehrere Delegierte erklärten danach am Mikrofon, in ihren demokratischen Rechten beschnitten worden zu sein und die Aufgaben, für die sie delegiert wurden, nun nicht mehr wahrnehmen zu können. Sie zogen daraus persönliche Konsequenzen und verließen den Kongress entweder sofort oder erklärten, nicht noch einmal als Delegierte an einem Gewerkschaftstag teilnehmen zu wollen. Von einem »wirklichen Tiefpunkt der innerorganisatorischen Debatte« sprach René Arnsburg aus Berlin. Eine Änderung des Leitantrags sei für »nicht mehr möglich« erklärt worden. Die Kongressleitung habe dem Antragsteller vorgeschlagen, was er abstimmen lassen solle: »Das ist aus meiner Sicht eine De-facto-Spaltung des Kongresses«. Die weitere Abstimmung über den Leitantrag E084 – »nur eine Farce«.

Auffällig war tatsächlich, dass die Befürworter der Vorgaben des Verdi-Bundesvorstands bei der anschließenden Debatte um den Leitantrag zunächst wenig sagten, erst weiter hinten auf der Redeliste auftauchten, im Gegensatz zu vorher vergleichsweise spontane Beiträge hielten und sich im Unterschied zu den Kritikern des E084 inhaltlich wiederholten. Was sie sagten, war aber größtenteils unterirdisch. Simone Barrientos aus Bayern, die für die Linkspartei im Bundestag saß und 2022 zur SPD übergetreten ist, nutzte die Bühne zur Darstellung ihrer DDR-Vergangenheit. Sie erzählte, wie sie fast im »Jugendwerkhof« »endete« und wie ihr fast der Sohn weggenommen wurde. »Ich möchte niemandem zumuten, in einem Land zu leben, in dem das passiert.« Wer meine, die Ukraine dürfe sich »nicht verteidigen«, oder man dürfe die Ukrainer »nicht dabei unterstützen, der nimmt in Kauf, dass sie danach in einer Diktatur leben«. Kein Wort zu den Tausenden Müttern, die ihre Söhne bereits im Krieg verloren haben, oder zu den in der Ukraine längst ausgehebelten Freiheits- und Gewerkschaftsrechten.

Thies Hansen offenbarte sein tiefes Vertrauen in den hiesigen Staat, als er mitteilte, das BKA habe über Hunderte von Zeugen vernommen, Beweise gesichert und Lkw-weise DNA-Material nach Deutschland gebracht, »um nachher sicher feststellen zu können, dass diese Kriegsverbrechen tatsächlich stattgefunden haben«. Sicherlich unbeabsichtigt erinnerte er anhand des Kosovo- und des Irak-Krieges daran, dass seine Gewerkschaft bisher in jedem Krieg die Position der Regierung übernommen hat. Andere Delegierte wollten sich den Schuh der Mitverantwortung für Waffenlieferungen nicht anziehen, wenn sie auf dem Bundeskongress für den Leitantrag stimmen. Schließlich sei es ja nicht Verdi, die Waffen liefere.

Betont werden müssen an dieser Stelle mehrfach vorgebrachte Verschleierungen des Verdi-Chefs Frank Werneke. Der vorliegende Antrag sei »kein Bruch mit der friedenspolitischen Tradition von Verdi«, er stehe »auch nicht im Widerspruch zu unserer Grundsatzerklärung«. »Wir gehen gemeinsam davon aus, dass immer mehr Waffen die Welt nicht sicherer machen. Am Ende könne dieser Krieg nur durch Verhandlungen gelöst werden. Aber – und hier sieht Werneke einen notwendigen Richtungswechsel – »wenn es ein Selbstverteidigungsrecht der Ukraine gibt«, dann müsse diese auch »die Möglichkeit haben, sich Waffen beschaffen zu können«. Und zweitens: »Soll die Ukraine zu einem Waffenstillstand gedrängt werden, wenn der Preis dafür eine weite Aufgabe von ihren Territorien ist?« Die Botschaft ist klar: Wenn es ernst wird, vertritt diese Gewerkschaft nationale Interessen – und nicht die von Arbeitern. Der Antrag des Bundesvorstands wurde mit 79,4 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Karsten S. aus Nürnberg (28. September 2023 um 17:40 Uhr)
    Trotz des Einknickens in der Frage von Krieg und Frieden auf die Positionen der »Zeitenwende«-Bundesregierung durch das höchste Gremium der gelben Gewerkschaft Verdi ist es notwendig, dass Kommunisten organisiert in den faktisch sozialdemokratischen DGB-Gewerkschaften arbeiten, um die dort organisierten Arbeiter und Angestellten nicht alleine zu lassen im Kampf gegen die Gewerkschaftsvorstände und deren Klassenversöhnungspolitik. Hier ist das Kapitel »VI. Sollen Revolutionäre in reaktionären Gewerkschaften arbeiten?« aus W.I. Lenins Schrift »Der «Linke Radikalismus», die Kinderkrankheit des Kommunismus« sozusagen die Handlungsanleitung: www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1920/linksrad/kap06.html
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Stephan K. aus Neumarkt i.d.OPf. (26. September 2023 um 10:06 Uhr)
    Schließe mich dem Widerspruch zu »nationale Interessen« an. A – die sind nicht böse, weil sie nationale Interessen heißen. B – es ist derzeit progressiv, sie in Sachen Frieden, Brot und Heizung zu vertreten. Verdi entschloss sich, die Interessen der US-Handlanger in diesem Krieg zu vertreten. Entgegen Klasseninteressen – wie in diesem Fall auch gegen nationale Interessen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Reinhard W. aus Hamburg (24. September 2023 um 19:20 Uhr)
    Hui, deutsche Arbeitsfront reborn? »Vertritt nationale Interessen«. Ähhh – interessant, dass die Verlängerung des Krieges in der Ukraine »nationales Interesse« ist. Und eine anständige Bezahlung von Pflegepersonal und Erziehern nicht. Wie konnte es damals so weit kommen? Genau so. Kuckst Du. Die Gewerkschaften waren mal links von der SPD. Jetzt unterstützen sie Naziverbrecher (Da ist gerade ein ukrainischer SS-Mann in Kanada geehrt worden …) mit Geld und Waffen. Vielleicht sollte man links/rechts mal neu definieren – durch das Verhältnis zu real existierenden, menschenmordenden Nazis.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Hans W. aus Regensburg (24. September 2023 um 17:18 Uhr)
    Ich bin seit meiner Jugend Gewerkschaftsmitglied (ÖTV – ver.di), war lange Jahre ehrenamtlich tätig. Mittlerweile bin ich 72 Jahre, immer noch in der (leider schwachen) Friedensbewegung aktiv. Ich habe in der Gewerkschaft allerhand Kontroverses erlebt, auch in Kongressen. Doch was jetzt passiert ist, erinnert an ein Schmierentheater und das in zweierlei Hinsicht: Missachtung von demokratischer und sachlicher Auseinandersetzung und Unterwerfung unter den Mainstream der Regierung und der meisten Medien, Aufgabe von elementaren friedenspolitischen Grundsätzen. Das geht an meine Schmerzgrenze! Was tun, wenn meine Meinung als Gewerkschafter in der eigenen Organisation überhaupt nicht mehr gefragt ist? Was tun, wenn ich mich in einer sehr existentiellen Frage nicht mehr vertreten fühle? Schlimm genug, dass eine IG Metall sich bei der Rüstungsindustrie anbiedert, statt auf Konversion hinzuarbeiten. Nun aber auch noch Verdi auf Regierungskurs ohne Wenn und Aber! Hans Wallner, Regensburg (Sprecher von Kunst für Frieden e. V.)
    • Leserbrief von Bernhard Jahnel aus 97525 Schwebheim Lkr Schweinfurt Bayern (25. September 2023 um 11:59 Uhr)
      Als ich mich mit Betriebsräten der Elektro + Metall Großindustrie SW Schweinfurt unterhalten habe, wurde mir gesagt, welche Produkte z. B. im »Leopard«-Panzer sind, die in die Ukraine geliefert werden. Bin dagegen, dass der Verdi-Bundeskongress Lieferungen von Rüstungskonzernen in die Ukraine den Segen gibt: muss mir gründlich überlegen, die Verdi-Mitgliedschafts-Abbuchung von meinem Konto sofort zurückzuziehen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Simon B. aus Weimar (24. September 2023 um 10:19 Uhr)
    … wenn’s denn wenigstens »nationale« Interessen wären. - Sind sie aber nicht, es sind imperiale.
  • Leserbrief von Bodo Müller aus Ludwigsburg (23. September 2023 um 20:34 Uhr)
    Ja, unsere Gewerkschaften. In meiner ehemaligen Gewerkschaft (IG Metall) lief es nicht anders. Bedingungslose Unterstützung des Kriegskurses der Regierung, kein Wort zu den Bedingungen für Arbeitnehmer in der Ukraine, Stillschweigen zum Mord im Gewerkschaftshaus in Odessa. Widerstand gegenüber der Sanktionspolitik? Leider auch Fehlanzeige. Diese Gewerkschaften vertreten schon lange nicht mehr die Interessen der abhängig Beschäftigten. Kämpferische Grüße, Bodo Müller
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ralph S. aus Chemnitz (23. September 2023 um 12:06 Uhr)
    Nach dem Verfolgen der Diskussion und Abstimmung per Livestream habe ich beschlossen, in keiner Organisation mit den 657 Delegierten und insbesondere ihren Meinungsführern, die den Waffenlieferungen zugestimmt haben, zu verbleiben. Ich bin mir sicher, dass eine Abstimmung in meiner Verdi-Basisgruppe ein ganz anderes Ergebnis erbracht hätte, aber mir ist klar, dass viele Mitglieder trotzdem in dieser Gewerkschaft bleiben müssen, weil sie einen Schutz gegen den Klassenkampf von oben brauchen. In Anbetracht von 1914 und 1933/39 will ich aber nicht mit einer Mehrheit gehen, die sich dann später revidiert, wenn das nach einem finalen Thermoblitz dann überhaupt noch möglich ist.
  • Leserbrief von B. S. aus Ammerland (23. September 2023 um 11:13 Uhr)
    Wer kennt den Spruch denn nicht? »Wer hat Euch verraten … Sozialdemokraten!« Die geschichtliche Dimension bleibt die gleiche. Aber nachher es nicht gewesen sein wollen. Die »Pickelhauben«, gefolgt von den »Oberlippenbärtchen« bis hin zur »Augenklappe« … Wer die Demokratie verrät, hat es auch nicht so mit der Freiheit oder wer ist nun die AfD?
  • Leserbrief von B. S. aus Ammerland (23. September 2023 um 09:10 Uhr)
    Für »Cum-Ex«-Olaf, dem Sozen-Pirat: »In Italien ist die Politik von der Mafia unterwandert« … »In Deutschland ist die Mafia von der Politik unterwandert!« Man beachte, dass da ein Unterschied ist.
  • Leserbrief von Leo Pixa (22. September 2023 um 21:44 Uhr)
    Was für eine Tragödie! Wenn ich meine 60jährige Mitgliedschaft mit langjährigen Erfahrungen sowohl in betrieblichen als auch gewerkschaftlichen Gremien Revue passieren lasse, muss ich schmerzlich feststellen, dass dieser Kongress der absolute Höhepunkt des politisch-moralischen Verfalls einer doch prinzipiell so wichtigen Organisation darstellt. Von den Friedensgegnern keine inhaltlichen Argumente, sondern eine unappetitliche Dramaturgie, um eine Sachdiskussion hemmungslos zu unterbinden. Befeuert von teils verleumderischen und bis zur Gossensprache heruntergekommenen aggressiven Eruptionen, bei der sich insbesondere auch weite Teile der Gewerkschaftsjugend disqualifizierend goutierte. Ein absoluter Tiefpunkt in der Gewerkschaftsgeschichte. Und kein Ausweg in Sicht. Noch bin ich Verdi-Mitglied. Noch! Es auszuhalten, fällt schwer.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Christa K. (22. September 2023 um 20:39 Uhr)
    Seit dem Ersten Weltkrieg immer wieder dieselbe Leier: »Wer hat uns verraten, die Sozialdemokraten« – ein weiterer Beweis dafür, dass der Mensch kaum aus Erfahrung lernt – und die SPD schon reflexartig oder aus Tradition die »Arbeiterklasse« verrät.

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