40 Kartons
Von Jürgen Heiser
Die »Zeit für eine Wallfahrt« sei gekommen, erklärte Noelle Hanrahan vom kalifornischen Prison Radio in ihrem jüngsten Newsletter. Gemeint ist eine neue Sonderausstellung zu politischen Gefangenen in den USA, die in Providence, der Hauptstadt von Rhode Island, in der John Hay Library (JHL) der Brown University eröffnet wird. Die Ausstellung namens »Stimmen der Masseninhaftierung in den Vereinigten Staaten« widmet sich dem Forschungsthema Gefangenschaft, insbesondere jener von politischen Häftlingen und bietet an gebündelter Stelle neues Forschungsmaterial. Kern der Archivsammlung wird unter anderem der Vorlass des politischen Gefangenen und Bürgerrechtlers Mumia Abu-Jamal sein. Parallel zur Eröffnung von Archiv und Ausstellung findet vom 27. bis 29. September die dreitägige Veranstaltung »Stimmen der Masseninhaftierung: Ein Symposium« statt.
Die Ausstellung bietet wertvolle Einblicke in das Leben des wohl bekanntesten politischen Gefangenen der USA, der seit vier Jahrzehnten ein Leben hinter Gittern fristen muss. 2011 musste Abu-Jamal sein persönliches Archiv an seine Vertraute Noelle Hanrahan übergeben, weil die Knastbehörde ihn vor zwei Alternativen gestellt hatten: ab in den Müll oder auslagern. Die Entscheidung fiel ihm nicht schwer. Er hatte seine Lebensgeschichte zu verteidigen. Vor seinem Bekanntwerden und seiner Auszeichnung als antirassistischer Radiojournalist, war Abu-Jamal Anfang der 1970er Jahre als Teenager Pressesprecher der Black Panther Party (BPP) in Philadelphia geworden. Bei der Parteizeitung The Black Panther erlernte er das journalistische Handwerk. Als er im Dezember 1981 als Opfer rassistischer Polizeigewalt nur knapp überlebte, meinten reaktionäre Schergen ihn mit der Anklage »Polizistenmörder« endgültig zum Abschuss freizugeben. Doch sie hatten die Rechnung ohne die internationale Solidarität gemacht. Für Abu-Jamal begann damit ein bis heute andauernder Kampf um Leben und Freiheit.
Bis September 2022 war sein an die Brown University übergebener Vorlass nach 41 Haftjahren auf über 40 Kartons angewachsen. Die JHL erwies sich als gute Adresse für die Bewahrung seiner Lebenszeugnisse. Dokumente, Manuskripte, Zeichnungen und sein primitives Handwerkszeug als Knastautor wurden innerhalb eines Jahres systematisiert und sind nun der Öffentlichkeit zugänglich – dank der JHL, dem Center for the Study of Slavery and Justice und dem Pembroke Center für feministische Forschung an der Brown University.
Seine Dokumente dienen nun »als Anker für den Sammelschwerpunkt ›Stimmen der Masseninhaftierung‹«, erklärte Soziologieprofessorin Nicole Gonzalez Van Cleve, die mit Studierenden das »Mass Incarceration Lab« aufgebaut hat. Es gehe um die interdisziplinäre Erforschung der Zusammenhänge zwischen Masseninhaftierung und im US-System angelegten Ungleichheiten. Dazu zählten »eine wachsende Zahl von mündlichen Berichten und Briefen von Inhaftierten und ihren Familien«, so die Soziologin. Die Öffentlichkeit wisse kaum etwas über dieses gesellschaftliche Problem. Die Zahl der Gefangenen habe sich »zwischen 1970 und 2022 verfünffacht und liegt heute bei über zwei Millionen Menschen, mehr als in jedem anderen Land«. Im Alter von 23 Jahren sei »jeder dritte US-Bürger schon einmal verhaftet worden«, so Van Cleve. Obwohl staatliche und institutionelle Aufzeichnungen über Inhaftierung im Überfluss vorhanden sind, mangelt es an Archivmaterial von inhaftierten Personen, ihren Familien und Anwälten. In den USA gebe es weniger als 20 Archivsammlungen, die inhaftierte Personen repräsentieren. Die meisten von ihnen seien klein, und bis jetzt sei keine dieser Sammlungen direkt von einer derzeit inhaftierten Person angelegt worden, schreibt die Bibliothek auf ihrer Webseite.
Ausstellung und Symposium »bieten durch den Einblick in das Leben eines Mannes, der seit 41 Jahren in Pennsylvania inhaftiert ist, einen breiteren Blick auf die Masseninhaftierung in den USA«, erklärt Amanda E. Strauss, Direktorin der JHL. Seit seiner Verhaftung habe Abu-Jamal »heftige Debatten über Rassismus und die Todesstrafe ausgelöst«. An seinem Beispiel werde von nun an »die tägliche Realität der Gefängnisse und der anhaltenden Probleme, mit denen Millionen Inhaftierte konfrontiert sind, beleuchtet«, so Strauss. »Indem wir einen Einblick in Mumia Abu-Jamals Dokumente ermöglichen und Wissenschaftler aus dem ganzen Land in den Diskurs einbeziehen, hoffen wir, eine Diskussion über ein Thema anzuregen, das so viele Menschen betrifft.«
Dazu diene auch das Symposium mit seinen Vorträgen, Podiumsdiskussionen und künstlerischen Darbietungen zu den Themen Strafverfolgung, Geschichte der Gefängnisse, medizinische Versorgung im Knast, die Lage inhaftierter Frauen und der Gewalt gegen sie am Beispiel der Kampagne »Say Her Name« sowie der psychischen Zerstörung durch Isolationshaft. Als Weltpremiere wird am zweiten Tag »Vampire Nation« aufgeführt, eines von vier Musikstücken, die Abu-Jamal in jahrelanger Isolation komponiert hat. Auch bringe das Symposium »Künstler, Wissenschaftler und besondere Gäste wie die Feministin und Wissenschaftlerin Angela Y. Davis, die Autorin Julia Wright sowie die Aktivistin Pam Africa« und viele mehr zusammen. Strauss ergänzte, dass diese Aktivitäten sich auch auf andere Bereiche der Universität auswirkten. So werde die Rockefeller Library Plakate des Buchladens Revolution Books in Harlem, New York, ausstellen – »einem der Orte, an dem sich die ›Free Mumia‹-Bewegung organisiert und die ganze Welt mit Informationen versorgt«.
Virtuelle Teilnahme: https://kurzelinks.de/smie
Hintergrund: Geschichte neu aneignen
Die an der Brown University geschaffene »Sondersammlung« und die Ausstellung »Mumia Abu-Jamal. Ein Porträt der Masseninhaftierung« sind Ausdruck einer sich in den USA ausweitenden Erfassung schwarzer Geschichte und Realität. Mit Abu-Jamal steht nicht nur das Leben eines Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung und der Black Panther Party (BPP) im Mittelpunkt, sondern ein politischer Gefangener, für dessen Freilassung sich eine weltweite Solidaritätsbewegung einsetzt.
In seiner Person und seinem mutigen politischen Engagement als Autor hinter Gittern verbinden sich Geschichte und Aktualität des afroamerikanischen Widerstands. Die aus Schriften und Schreibwerkzeugen bestehenden Archivalien und Artefakte der Ausstellung sind analoger Ausdruck schwarzer Geschichte, die zunehmend durch digitale Technologien zu neuem Leben erweckt wird. Einer der Pioniere dieser Bewegung von politischen Dokumentaristen, Archivaren und Kulturschaffenden ist der im kalifornischen Oakland lebende Damien McDuffie, der in den Archiven der BPP und der Dr. Huey P. Newton Foundation Erfahrungen sammelte. Mit seinem Projekt »Black Terminus« hat er als Werkzeug der »erweiterten Realität« eine »Augmented-Reality-App« geschaffen. Mit ihr werde »die Verschmelzung der digitalen mit der physischen Welt möglich, um eine ganz neue Erfahrung zu schaffen«, wie er im Interview mit dem Newsportal SF Bay View im Mai erläuterte. Mit dieser Technologie entwickelt McDuffie derzeit einen virtuellen Rundgang durch die Geschichte der Black Panther in West Oakland. Wandgemälde wie das von den Frauen der BPP bringt er damit zum Sprechen.
Wenn also heute wie an der Brown University historische Bestände erforscht und digitalisiert werden, um sie öffentlich zu machen, können sie zu neuem Leben erwachen und zu einem Teil der eigenen Geschichte werden. (jh)
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (23. September 2023 um 02:13 Uhr)Im Alter von 23 Jahren sei »jeder dritte US-Bürger schon einmal verhaftet worden« … Das sind ja unglaubliche Zustände! Ein Staat, der außerdem in anderen Ländern wie Polen oder Rumänien Foltergefängnisse unterhielt, in Guantánamo jahrzehntelang Menschen ohne Gerichtsurteil inhaftiert, wagt es, sich an die Spitze des Kampfes gegen »autoritär regierte« Staaten zu stellen. Eine unpassendere Begründung für ihre permanenten Kriege bzw. Destabilisierung in aller Welt fiel denen wohl nicht ein? Deutschland hat keine weiße Weste, nur weil dort solche Zustände seit 1945 nicht herrschten. Es ist mitverantwortlich für alle Verbrechen der USA, weil es mit diesem Staat verbündet ist, ihn unterstützt und sich ihm unterordnet. Die unterschiedliche soziale Struktur und Gesetzgebung innerhalb der NATO-Staaten schützt nicht vor gemeinsamer Verantwortung in diesem Bündnis. Als Mitglied einer Gang ist man immer mitverantwortlich, auch wenn man nicht immer alles selbst getan hat und etwas umgänglicher handelt als der Boss. Sage mir, wer deine Freunde sind, und ich sage dir, wer du bist.
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