50 Jahre Putsch in Chile: jW-Reihe
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50 Jahre Putsch in Chile: jW-Reihe
Aus: Ausgabe vom 19.09.2023, Seite 12 / Thema
Drogenpolitik

Gemeinsam bauen

Bevorstehende Entkriminalisierung. Ob die geplanten »Cannabis Clubs« den laufenden Schwarzmarkt austrocknen können, muss sich zeigen
Von Florian Osuch
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Kann den Cannabiskonsum bald durchwinken: deutsche Polizei

Im Zuge der Diskussion um eine Entkriminalisierung von Cannabis in Deutschland rücken neben dem privaten Anbau sogenannte Anbauvereine in den Fokus. Ein Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht vor, dass Konsumierende der Droge in sogenannten Cannabis Clubs gemeinsam anbauen dürfen. Da der Verkauf von Cannabis weiter verboten bleiben soll, ersetzt ein Mitgliedsbeitrag – dessen Höhe an die Abgabemenge geknüpft ist – den Preis der Ware (siehe jW vom 27.7.2023). Kommerzieller Handel und Verkauf in Fachgeschäften, wie es etwa in Kanada seit 2018 praktiziert und von den internationalen Cannabiskonzernen favorisiert wird, ist zunächst nicht vorgesehen, soll jedoch in Modellregionen erprobt werden.

Ziel des Gesetzes sei es, den Schwarzmarkt und die Drogenkriminalität zurückzudrängen, das Dealen mit gestreckten oder toxischen Substanzen einzudämmen und die Konsumentenzahlen zu drücken, so Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Sein Ministerium schätzt, dass hierzulande rund 4,5 Millionen Personen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren im vergangenen Jahr Cannabis konsumiert haben. Sie alle beziehen die Droge auf die eine oder andere Weise: beim Dealer gekauft, als Mitkonsument von einem Freund, über einen illegalen Onlineshop oder selbst angebaut. Jeder Weg hat Vor- und Nachteile. Millionen Kifferinnen und Kiffer nutzen teils seit Jahren eingespielte und oft bequeme Bezugsquellen. Ein Wechsel zum Modell der »Cannabis Clubs« muss also einiges an Attraktivität versprechen, darunter Verfügbarkeit, Qualität und Preis. Um einschätzen zu können, ob Anbauvereine tatsächlich eine Alternative sind, muss der bestehende Markt für Marihuana und Haschisch untersucht werden.

Ein Entwurf und seine Kritiker

Cannabis wird in Deutschland bisher ausschließlich auf illegalen Märkten ohne gesundheitliche Standards, Steuern oder Verbraucherschutz gehandelt. Ein Dealer fragt nicht nach dem Alter des Käufers, und ein Kunde hat in der Regel keine Ahnung, wie hoch dosiert die Ware ist. Einzig Cannabis als Medizin wird von einer beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) angesiedelten Cannabisagentur gekauft bzw. importiert und streng reguliert über Apotheken abgegeben.

Der Gesetzentwurf geht derzeit durch die parlamentarischen Gremien. Im Bundesrat steht er für den 29. September auf der Tagesordnung. Wichtiger werden jedoch die Beratungen in den Ausschüssen des Bundestags. Dort kommen auch Fachleute zu Wort, die in den vergangenen Monaten teils umfangreiche Stellungnahmen verfasst haben. Das Gesundheitsministerium listet online 57 solcher Erklärungen auf, u. a. aus der Cannabiswirtschaft, dem Gesundheitssektor, der Sucht- und Drogenhilfe, dem Kinder- und Jugendschutz, von Apothekern, Polizei und Justiz, aus den Sektoren Verkehr und Gartenbau sowie von der Arznei- und Pharmaindustrie.¹ Die Perspektiven sind gänzlich unterschiedlich und verdeutlichen die Komplexität der geplanten Entkriminalisierung von Genusscannabis.

Der Deutsche Hanfverband (DHV) bezeichnet den Gesetzentwurf als »Meilenstein auf dem Weg zur Reform der Cannabispolitik« in Deutschland. »Hunderttausende Konsumenten waren in den letzten Jahrzehnten von Strafverfahren wegen konsumbezogener Delikte betroffen. Diese unsinnige Repression könnte zum Jahreswechsel ein Ende haben.«² An parlamentarischen Mehrheiten sollte es nicht scheitern. Neben den Regierungsfraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP unterstützt auch die Linksfraktion eine Entkriminalisierung; gestritten wird, wie umfangreich diese erfolgen soll.

Allerdings formuliert der Hanfverband auch deutliche Kritik. Hauptsächlich werden zwei Aspekte angeführt. Erstens geht es um den im Entwurf formulierten Abstand von 200 Meter, den Anbauvereine und Konsumierende zu Schulen, Kitas, Spielplätzen und anderen Kinder- und Jugendeinrichtungen einhalten müssen. Eine interaktive Karte der Berliner Morgenpost zeigt, wie durch diese Vorgabe die räumlichen Möglichkeiten für »Cannabis Clubs« so sehr beschnitten würden, dass in städtischen Ballungsgebieten weder Anbau noch Abgabe praktikabel wäre.³ Allerdings: Durch eine Verringerung der Abstandsregel auf beispielsweise 50 Meter wären flächendeckender Anbau und Konsum möglich. Daran schließt sich der zweite Kritikpunkt an. Es sind hohe Bußgelder für das Unterschreiten der Abstandsregel vorgesehen. Wenn beispielsweise eine Gruppe junger Erwachsener in einem Park im Abstand von 199 Metern zu einem Spielplatz einen Joint raucht, droht ihnen ein Bußgeld in Höhe von bis zu 200.000 Euro. Rücken sie einen Meter weiter, passiert nichts. Absurde Szenen von Polizisten, die lange Messinstrumente über Hecken und Wege legen, wären die Folge. »Weder Konsumenten noch die Polizei können wissen, wo Konsum genau erlaubt ist und wo nicht«, kritisiert der Hanfverband. Hinzu kommt: Wenn ab dem späten Abend Kinder einen Spielplatz längst verlassen haben oder am Wochenende Schulen und Kitas ohnehin geschlossen sind, wirken solche Vorgaben gänzlich unsinnig. Ähnlich ist es bei der maximal zulässigen Höchstmenge von 25 Gramm Cannabis, die für den Eigenbedarf mitgeführt werden darf. Hat jemand ein Gramm zu viel in der Tasche, drohen bis zu drei Jahre Haft.

Der Geschäftsführer des DHV, Georg Wurth, plädiert deshalb für einen gänzlich anderen Umgang mit Cannabis. »Letztlich geht es doch darum, Millionen Konsument*innen den normalen Verbraucherschutz eines modernen Industriestaates zu gewähren, ohne die Risiken des Konsums aus den Augen zu verlieren.«⁴ Wurth weist auf die Unterschiedlichkeit in der Behandlung legaler und illegaler Substanzen hin. »Wir sollten für Cannabis keine harten Regeln und Grenzen festlegen, die wir nicht zumindest perspektivisch auch für Alkohol fordern.« Besitzobergrenzen in der Öffentlichkeit und zu Hause lehnt er ab. Er fordert die Möglichkeit eines kommerziellen Verkaufs in Geschäften sowie Onlinehandel, sofern eine ernsthafte Altersprüfung bei Bestellung und Übergabe gewährleistet ist. An einigen Punkten schlägt Wurth sogar strengere Regulierungen vor, als es derzeit bei Alkohol der Fall ist. Während Schnaps, Wein und andere alkoholische Getränke in Supermärkten oder Tankstellen teilweise neben Süßigkeiten und Spielsachen angeboten werden, sollte Cannabis ausschließlich in lizenzierten Fachgeschäften angeboten werden.

Prohibition als globale Norm

Maßgebend für das geltende Verbot von Genusscannabis und anderen Substanzen ist ein internationales Drogenkontrollregime. Basis ist das »Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel« der Vereinten Nationen von 1961. Das von 186 Staaten ratifizierte Vertragswerk beschränkt Anbau, Herstellung, Handel, Beförderung etc. bestimmter Pflanzen (z. B. Kokastrauch, Schlafmohn, Cannabis) und daraus gewonnener Drogen. Ergänzt wurde es durch das »Übereinkommen über psychotrope Stoffe« von 1971 (es schloss synthetische Substanzen wie Ecstasy und LSD ein) und das »Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen« von 1988. Das letztgenannte Dokument wurde 2004 teils vollumfänglich vom Rat der Europäischen Union übernommen. In Deutschland findet »die Prohibition als globale Norm«⁵ ihre Bestimmung im Betäubungsmittelgesetz (BtMG).

Allerdings erprobten insbesondere westeuropäische Länder ab Ende der 1980er Jahre Alternativen zum strikten Verbot. Im Rahmen sogenannter schadensreduzierender Maßnahmen (Harm reduction) wurden etwa sterile Nadeln bereitgestellt, Substitutionsmittel abgegeben und ambulante Sucht- und Drogenhilfen sowie Drogenkonsumräume eingerichtet. In bezug auf Cannabis haben inzwischen viele Staaten ganz unterschiedliche Wege einer Entkriminalisierung oder Duldung eingeschlagen. Nach einem eskalierenden Drogenproblem ging Portugal 2001 unter dem sozialdemokratischen Premierminister António Guterres, heute Generalsekretär der Vereinten Nationen, so weit, den Besitz aller illegalen Drogen für den persönlichen Konsum zu entkriminalisieren. Der private Besitz von Ecstasy, Kokain, Heroin, LSD, Cannabis wird seitdem nur noch als Ordnungswidrigkeit geahndet. Nicht mehr Polizei oder Gerichte, sondern speziell geschaffene Kommissionen zur Vermeidung des Drogenmissbrauchs entscheiden über zu treffende Maßnahmen. Therapieangebote und andere Hilfen wurden erheblich ausgebaut. Das Land gilt inzwischen international als Vorbild. Die Zahl konsumbedingter Todesfälle ist deutlich gesunken. »Die drogeninduzierte Mortalitätsrate liegt mit vier Todesfällen pro eine Million Einwohner:innen inzwischen weit unter dem europäischen Durchschnitt von 22 Todesfällen pro eine Million Einwohner:innen.«⁶

Während solche Maßnahmen und auch die Abgabe von Cannabis als Medizin dem Drogenkontrollregime nicht grundsätzlich widersprechen, bricht hingegen Kanada mit seiner kommerziellen Legalisierung von Genusscannabis »offen die völkerrechtlichen Bestimmungen«.⁷

Illegale Märkte

Wichtiges Argument für einen Kurswechsel im Umgang mit Cannabis ist der enorme Aufwand, den Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte betreiben, damit geltendes Recht umgesetzt wird. Daher lohnt ein näherer Blick auf entsprechende Statistiken. Das Bundeskriminalamt (BKA) weist in seinem »Lagebild Rauschgiftkriminalität« für das Jahr 2021 insgesamt 361.048 Drogendelikte aus. Nach Substanzen aufgeschlüsselt, betreffen 59,3 Prozent dieser Fälle Cannabis. Der Anteil anderer Substanzen ist deutlich geringer, beispielsweise von Kokain (6,1 Prozent), Heroin (drei Prozent) oder Ecstasy (2,3 Prozent).

Die reine Anzahl der Delikte sagt jedoch noch nichts über die Qualität der Fälle aus. Im Zweifelsfall können 5.000 beschlagnahmte Ecstasy-Tabletten gleichermaßen in die Statistik einfließen, wie der Kauf von drei Gramm Haschisch. Deshalb differenziert das BKA zwischen Drogenhandel und konsumnahen Delikten, bezogen auf Cannabis ist das besagter Kauf einer geringen Menge, ein beschlagnahmter Joint oder das Auffinden einer Hanfpflanze auf dem Balkon. Bei Cannabis sind das 84,6 Prozent der Fälle, der Wert ist seit Jahren ähnlich hoch. Rauschgiftbezogene Polizeiarbeit befasst sich offensichtlich zum übergroßen Teil mit Cannabis, und sie trifft dabei in den allermeisten Fällen Konsumierende.

Doch wie funktioniert der illegale Markt von Cannabis überhaupt? Die Wissenschaft hat bezüglich Herstellung, Vertrieb, Handel, Verkauf und Preisbildung erhebliche Unterschiede zwischen den Substanzen ausgemacht. Bei Heroin und Kokain beispielsweise führen die beträchtlichen Entfernungen zwischen Produzenten im globalen Süden und den Endkunden im globalen Norden zu transkontinentaler Logistik. Die Herstellungskosten machen nur einen Bruchteil des Endkundenpreises aus, nach Schätzungen der Expertin Meropi Tzanetakis sind es nur ein bis zwei Prozent. »Der Großteil der Kosten entfällt auf lokale Vertriebsnetze in den Konsument:innenstaaten«⁸, so die Dozentin für Kriminologie von der University of Manchester. Und der Profit? Zwar häuften einzelne Händler durchaus Reichtümer an, der Großteil der Umsätze beträfe jedoch das Ende der Lieferkette. Da dort das Entdeckungsrisiko am höchsten ist, werde die Preisbildung im wesentlichen durch einen Risikoaufschlag bestimmt.

Bei Cannabis ist das anders. Die Vertriebswege sind deutlich kürzer, da die Droge weltweit angebaut wird. Es sind weniger Handelnde beteiligt, und das Strafmaß für die Distribution ist im Vergleich zu anderen Drogen geringer. Gleichzeitig gibt es wegen der hohen Zahl Konsumierender eine deutlich größere Nachfrage als nach anderen Sub­stanzen. Bei der Frage, ob die geplanten »Cannabis Clubs« als Alternative zu funktionierenden Wegen der Beschaffung angenommen werden, müssen jedoch weitere Aspekte berücksichtigt werden: der Eigenanbau, die nichtkommerzielle Weitergabe von Drogen sowie der Onlinehandel.

Gras aus der Growbox

Keine andere Droge kann so einfach angebaut werden wie Cannabis. Mit sogenannten Growboxen etwa in der Größe eines Kühlschranks können mit etwas Erfahrung Ernten eingefahren werden, die den Eigenbedarf übersteigen. Professionelle Boxen sind ab Werk mit Speziallampen, reflektierender Innenbeschichtung sowie Be- und Entlüftung ausgestattet und für wenige hundert Euro legal erhältlich. Komplettlösungen, die eine Bewässerung integrieren, sind zwar noch effizienter und ihr Betrieb bequemer, erfordern aber etwas Geschick bei der Installation. Eine automatisierte Bewässerungsanlage birgt die Gefahr, dass bei einem Leck der private Anbau auffliegt. Fachgeschäfte für das sogenannten Home-Growing bieten Dünger, optimierte Erde und anderes Zubehör. Vermutlich züchten hierzulande Zehntausende Konsumenten eigene Pflanzen: in der eigenen Wohnung, auf Dachböden, im Keller oder in nicht genutzten Räumlichkeiten von Werkstätten, Vereinsheimen, Scheunen etc. Für den Anbau unter freiem Himmel – auf dem Balkon, einer Terrasse, im Gewächshaus, im Garten oder in der freien Natur – braucht es nicht übermäßig viel gärtnerisches Geschick, um eigenes Marihuana zu ernten. Neben viel Sonne und ausreichend Wasser ist allerdings eine gewisse Abgeschiedenheit wichtig, damit die Aufzucht vor fremden Blicken geschützt bleibt. Anfang September entdeckte ein Passant in Mülheim am Rand eines Feldes, versteckt zwischen Büschen, eine kleine Cannabisplantage. Verständigte Zivilpolizisten observierten das Areal und nahmen einen Mann (59) und eine Frau (52) fest. Eine ergiebige Ernte kann mit etwas Aufwand und einigem Equipment sowohl in Growboxen, als auch outdoor erzielt werden. Es ist dann von den persönlichen Umständen abhängig, ob das Cannabis für den späteren Konsum aufbewahrt, für einen kleinen Zuverdienst verkauft oder mit Freunden geteilt wird.

Zwei Wissenschaftler des Centre for Drug Research der Goethe-Universität Frankfurt am Main charakterisieren den Markt für Cannabis, Kokain, LDS und Co. folgendermaßen: »Insbesondere unter sozial unauffälligen Konsumenten wird ein erheblicher Teil der Drogen unentgeltlich weitergegeben, etwa bei gemeinsamem Konsum oder Schenkungen.«⁹ Die Mehrzahl der Verkaufsakte finde von Konsument zu Konsument statt. Zwar würden Drogen auch weiterhin bei profitorientierten Kleindealern auf der Straße gekauft, das tradierte Bild »skrupelloser Drogendealer, wie es in Politik, Strafverfolgung und Medien gängig ist, erweist sich als wenig zielführend«. Vielmehr sei der überwiegende Teil des Endverbrauchermarktes als »soziales und kulturelles Netzwerk von Konsumenten zu verstehen, das auf persönlichen Bekanntschaften und Vertrauen beruht«. Diese Art des Vertriebs wird als »Social Supply« bezeichnet. Besteht unter Freunden oder Kollegen größeres Vertrauen, werden Drogen auch gemeinsam beschafft. Die Gründe sind vielfältig. Für Gelegenheitskonsumenten ist das oftmals die einfachste Form des Bezugs. Über eine Art Sammelbestellung ist auch meist ein Preisnachlass zu erzielen. Derjenige, der von den Freunden Geld einsammelt, die Substanz(en) beschafft und die Gefahr des Kaufes eingeht, streicht dabei manchmal einen kleinen Gewinn ein, der beispielsweise den eigenen Konsum finanziert. Letztgenannter ist ökonomisch gesehen Käufer, Konsument und Händler zugleich, in der Wissenschaft wird er als User-Dealer bezeichnet. Innerhalb eines Bekanntenkreises kann aufgrund persönlicher Umstände, zum Beispiel Familiengründung, Konsumpause oder Wegzug, die Rolle des gemeinsamen Einkäufers wechseln, wobei Abläufe beibehalten und Kontakte zum Dealer oftmals weitergegeben werden.

Seit einigen Jahren wird ein Teil des Drogenhandels über soziale Netzwerke und das Internet abgewickelt. Insbesondere über den anonymen Messengerdienst Telegram werden alle möglichen Sub­stanzen angeboten. Die Form, wie Verkäufer und Konsument zueinander finden sind unterschiedlich. Es gibt geschlossene Gruppen, die nur über eine persönliche Einladung betreten werden können. In manchen Chats werden vor allem Gesuche formuliert – der Kunde muss auf Antwort warten. Es gibt offene Telegram-Kanäle, über die Verkäufer ihre Waren anbieten. In allen Fällen wird per Kurznachricht kommuniziert, ein Preis verhandelt und ein Treffpunkt für die Übergabe vereinbart. Es gibt auch Bringdienste, die Drogen bis zu einer vereinbarten Adresse liefern. Die sogenannten Kokstaxis blieben jahrelang unentdeckt.

Auch übers Internet wird mit Cannabis und anderen Substanzen gehandelt. Zutritt zum versteckten Bereichen des Internets erfolgt über den anonymen Tor-Browser. Der Rest ist bekannt: »Die illegale Welt im Darknet erscheint seltsam vertraut. Sie erinnert an den klassischen Onlinehandel, wie wir ihn von Amazon kennen.«¹⁰ Auch im Darknet gibt es das gewohnte Dreieck aus Käufern, Verkäufern und jenen, die die technische Infrastruktur zur Verfügung stellen. Potentielle Käufer wählen Produkte aus und können ihre Suche über Filter eingrenzen, beispielsweise, welcher Anbieter Drogen per Post nach Deutschland liefert. Bezahlt wird über die Digitalwährung Bitcoin, der Versand erfolgt in geruchssicherer Verpackung über die normale Post an die Privatadresse oder eine Abholstation. Der Versand scheint weitgehend reibungslos zu verlaufen. Darauf deuten Kommentare und Bewertungen bei den einschlägigen Webshops. Dritter Part des digitalen Drogenhandels sind diejenigen, die Server und IT-Systeme bereitstellen. Sie erhalten von den getätigten Verkäufen eine Provision.

Zwar gibt es immer wieder Medienberichte über Handel mit Waffen oder gestohlenen Passwörtern, das Darknet wird jedoch überwiegend für den Verkauf von Drogen genutzt. Ganz vorn dabei: Cannabis. Wissenschaftler der Carnegie Mellon University aus Pittsburgh (USA) untersuchten zwei Jahre lang die Warengruppen verschiedener Handelsplattformen des Darknets und stellten fest, allein Cannabis, Ecstasy und Kokain machten etwa 70 bis 75 Prozent aller Verkäufe aus. Größter Posten: Cannabis.¹¹

Vorbild Spanien

Es bleibt abzuwarten, in welchem Umfang Konsumierende in Deutschland das Konzept der »Cannabis Clubs« annehmen. Zu viele Fragen sind offen, einiges scheint zu starr. Dabei könnte man viel von Spanien lernen. Dort gibt es laut El País inzwischen zweitausend »Asociaciones cannabicas«, die Hälfte davon allein in Katalonien. Die selbstverwalteten Klubs bauen eigenes Cannabis an und geben es an die Mitglieder ab. Im Straßenbild sind sie nicht als solche erkennbar, Abstandsregeln also unbedeutend. Sie haben teilweise ein aktives Vereinsleben etabliert, informieren ihre Mitglieder in Rundbriefen über neue Sorten oder unter welchen Umständen Besuch mitgebracht werden kann. Mitgliedschaft ist nur Erwachsenen mit Adresse in Spanien gestattet. Der größte Unterschied zum deutschen Vorschlag: Während hierzulande in den Klubs das Cannabis nur abgegeben werden soll – Konsum ist nicht gestattet –, ist es in Spanien umgekehrt. Eine Mitnahme der Drogen ist offiziell nicht möglich. Vielleicht haben sich gerade deshalb die »Asociaciones cannabicas« in Barcelona, Sevilla oder Zaragoza zu gemütlichen Lounges entwickelt, in denen zusammen geraucht, Billard gespielt, an der Playstation gezockt oder einfach mit Freunden eine schöne Zeit verbracht wird.

Anmerkungen

1 Vgl. www.bundesgesundheitsministerium.de/service/­gesetze-und-verordnungen/detail/cannabisgesetz.html

2 Vgl. hanfverband.de/nachrichten/pressemitteilungen/­hanfverband-begruesst-und-kritisiert-kabinettsentwurf-zu-cannabis

3 Onlinekarte mit Suchfunktion unter: interaktiv.morgenpost.de/cannabis-legalisierung-kiffen-karte/

4 Georg Wurth: Legalisierung muss kundenfreundlich sein. In: Akzeptanz e. V. (Hrsg.): 9. Alternativer Drogen- und Suchtbericht 2022, S. 53

5 Maximilian Wieczoreck: Internationale Drogenpolitik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 49–50/2020, S. 31

6 Ebd., S. 35

7 Ebd., S. 31

8 Meropi Tzanetakis: Zur internationalen politischen Ökonomie illegaler Drogen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 49–50/2020, S. 38

9 Bernd Werse und Gerrit Kamphausen: Kleinhandel, Kleinsthandel und Social Supply auf dem Schwarzmarkt für illegale Drogen. In: Feustel/Schmidt-Semisch/Bröckling (Hrsg.): Handbuch Drogen in sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Wiesbaden 2019, S. 433–454

10 Stefan Mey (2021): Darknet. Waffen, Drogen, Whistleblower, S. 16

11 Kyle Soska and Nicolas Christin (2015): Measuring the ­Longitudinal Evolution of the Online Anonymous Marketplace Ecosystem, online: www.usenix.org/system/files/conference/­usenixsecurity15/sec15-paper-soska-updated.pdf

Florian Osuch schrieb an dieser Stelle bereits am 27. Juli zum Thema der Entkriminalisierung von Cannabis.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (19. September 2023 um 19:04 Uhr)
    Die wirklich wichtigen Fragen werden auch in diesem Artikel nicht gestellt: Wieso brauchen die Menschen den Rausch und empfinden einen eher unnatürlichen Zustand als Befreiung? Was soll, ja manchmal muss, da kompensiert werden? Nützen sich dabei die Menschen wirklich mehr, als dass sie sich schaden? Die Verwandlung von Cannabis in eine legal gehandelte Droge braucht ein Sozialist nicht mit besonderer Sympathie zu begleiten. Dafür finden die, die in Zukunft legale Profite einstreichen werden, auch so schon warme Worte genug. Ihre wohlklingenden Thesen muss man nicht auch noch wiederholen. Aber einen Blick in eine der vielen Einrichtungen, die mit den teils katastrophalen Folgen des Rauschs zu tun bekommen, sollte man doch einmal riskieren, um die Lautstärke zu bestimmen, in der man das Hohelied der Legalisierung mitsingt.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (19. September 2023 um 15:25 Uhr)
    Ohne Mitleid: Wer Drogen konsumiert – egal ob deutsches Bier oder Haschisch »Made in Germany oder Afrika« macht sich zum Sklaven des Systems: Leiden und sich betäuben – bloß nicht aufmucken, höchstens ein wenig jammern! Ein Schlag ins Gesicht aller Revolutionäre in Vergangenheit und Gegenwart: Thälmann betrunken auf einer KPD-Versammlung? Fidel, Raul und Che berauscht auf der Granma? PKK-Kämpfer im Drogenwahn im Gefecht gegen die NATO-Türkei? Treibt lieber Sport, lest Vernünftiges und entspannt euch im Deutschen Wald = Sowjetische Mutter Heimat = Lateinamerikanische Pacha Mama!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gottfried W. aus Berlin (19. September 2023 um 09:52 Uhr)
    Für mich als User werden die (…) Kleindealer in meiner Hood immer dazugehören. Als jemand, der wenig mit Flugzeug reist, finde ich hier Kontakt zum migrantischen Proletariat aus Afrika, vor allem Westafrika. Zu erwarten ist, dass die Repression gegen jene zunehmen wird. Schließlich brauchen die Bullen in den oberen Etagen den Kick, Zeug beschlagnahmen, über andere herziehen, die nicht saufen wollen, so was halt. Vielleicht ist Club-Mitgliedschaft auch eine fiese Methode, an Daten zu kommen. Clubs gleich Kiff-Aktivitäten gleich besondere Aufmerksamkeit. Die Grünen sind für die Legalisierung gewählt worden, jetzt machen sie in Pulver und Blei. Denen ist alles zuzutrauen. FDP sowieso. Die Bullen und der Apparat kommen sowieso nicht vom Repressionstrip runter. Die Prohibition von Drogen ist je eine kulturelle Frage, eng entlang rassistisch geprägter Haltungen der Mehrheitsgesellschaft entwickelt, stark unterschieden in Klassenprivilegien und wird wohl gewaltförmig ausgefochten wie alle anderen Themen von Rang auch. Hier im Zusammenhang auch der Hinweis auf UN-Institutionen als Teil der Herrschaft. Wusste nicht, dass die Prohibitionslobby dort oben so zentral verankert ist. Nicht verwunderlich. Von dort ist wohl kaum Hilfe zu erwarten. In Zeiten, in denen eine CDU Parlamentarierin klerikalfaschistische Konzepte von Sexkaufverbot im Staatsfunk zur Profilierung nutzen kann, ist es unwahrscheinlich, dass sich mitten im Krieg eine freundliche und zugewandte Kultur etabliert. An alle Kommunisten, die an Wissenschaft glauben. Alk ist die tödliche Droge Nummer eins. Schizophrenie ist Kennzeichen der Gesundheitspolitik und weniger Folge von Sucht. Hoffen ist wenig hilfreich. Dealer schützen, Vertriebswege unterstützen, darum geht es.

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