50 Jahre Putsch in Chile: jW-Reihe
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Aus: Ausgabe vom 19.09.2023, Seite 10 / Feuilleton
Kino

Der Zünder neben dem Herzen

Unter Strom, auf dem Strom: Nicolas Philibert zeigt in »Auf der Adamant« den Alltag in einer schwimmenden Tagesklinik
Von Holger Römers
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Zwischen Freud und Fußball: Die »Adamant«-Besatzung macht erst einmal Kaffeepause

Der Film »Auf der Adamant« schildert ein Idyll. Zwar befindet sich der Liegeplatz des titelgebenden Hausbootes, das 2010 erbaut wurde und seitdem als psychiatrische Tagesklinik dient, unweit des Pariser Bahnhofs Gare de Lyon. Doch von weltstädtischer Geschäftigkeit ist in diesem Dokumentarfilm, der bei der Berlinale den Hauptpreis gewonnen hat, kaum etwas zu spüren. Allenfalls zeichnen sich Autoschlangen am Bildrand ab, von deren Lärm man an diesem Uferabschnitt der Seine aber offenkundig verschont bleibt. In der einzigen Sequenz, in der Nicolas Philiberts Kamera sich kurz aus dem unmittelbaren Umkreis der »Adamant« entfernt, wird ein Markt erst nach Schließung der Verkaufsstände aufgesucht.

Der französische Regisseur, der außer für die Kameraarbeit auch für die Montage verantwortlich zeichnet, wählt einen gelassenen Erzählrhythmus, bei dem sich ruhige Beobachtungen des Geschehens an Bord mit Interviews beziehungsweise diskret eingefangenen Gesprächen abwechseln. Die Lockerheit dieser Erzählstruktur erinnert an die beiden bekanntesten Filme des 72jährigen Dokumentaristen, »Im Land der Stille« (1994) und »Sein und Haben« (2002). Sie spiegelt aber wohl auch die Zwanglosigkeit der in der Tagesklinik angebotenen Psychotherapie.

Mit einer gewissen Regelmäßigkeit scheint auf der »Adamant« eine morgendliche Sitzung stattzufinden, bei der Ärzte, Pfleger und Patienten in größerer Runde gemeinsam Tagesordnungspunkte abarbeiten. Doch diese Termine bieten offenbar mindestens im gleichen Maße Gelegenheit, über Alltagsdinge wie etwa das Fußballländerspiel vom Vortag zu plaudern. Aus einzelnen Sätzen ist außerdem zu schließen, dass unterschiedliche Workshops und Veranstaltungen im Wochenturnus auf dem Programm stehen, etwa ein mehrfach erwähnter Filmabend.

Die therapeutischen Angebote kreisen offenbar um die Auseinandersetzung mit Kunst, Literatur und Musik, wozu neben der gemeinsamen Rezeption und Diskussion nicht zuletzt das Selbermachen gehört. Dabei sind von den Ergebnissen, die wir zu sehen beziehungsweise zu hören bekommen, vor allem selbst komponierte Songs reizvoll: Der intime Ausdruck, den persönliche Verrücktheiten in den Texten finden und der von der Einfachheit der Klavier- beziehungsweise Keyboardbegleitung treffend ergänzt wird, kommt der eigensinnigen Versponnenheit manch (semi-)legendären Singer-Songwriters verblüffend nahe.

Eine in schiefen Tönen vorgetragene Coverversion eines alten Rockhits entfaltet indes schon in der Anfangsszene fesselnde Wirkung. »Die menschliche Bombe hältst du in der Hand, der Zünder ist gleich neben dem Herzen«, heißt es in dem Song der französischen Rockband Téléphone, den ein Patient zu den Klängen einer Akustikgitarre zum besten gibt. Solchen Versen lässt die nervöse Inbrunst seines Vortrags eine zwiespältige Buchstäblichkeit zuwachsen, noch bevor das Ganze darin gipfelt, dass der Mann die Textzeile: »Ich darf mich nicht gehenlassen« durch seine auffälligen Zahnlücken presst.

So ist von der ersten Minute an zu erahnen, dass trotz allgemeiner Unaufgeregtheit auf der »Adamant« eine untergründige Dauerspannung herrscht. Manche der hier behandelten Menschen stehen offenbar ständig unter Strom. Da unter diesen Vorzeichen jeder Verharmlosung vorgebeugt ist, kann Philibert dennoch die Hälfte der Filmdauer diskret verstreichen zu lassen, bevor er einzelne Patienten ihre gesundheitlichen Probleme benennen lässt. Dann kommt noch einmal der Sänger aus der Anfangsszene zu Wort und bilanziert seine vier Jahrzehnte dauernde Leidensgeschichte mit den Worten: »Ohne starke Medikamente raste ich aus.«

Da die Medikation offenkundig andernorts vorgenommen wird, lassen diese und andere Aussagen erahnen, dass die Therapie auf der »Adamant« als Ergänzung zu konventionelleren Behandlungsmethoden angeboten wird. Entsprechende Andeutungen eines weit gefassten institutionellen Rahmens bestätigen wiederum die Annahme, dass der Tagesklinik innerhalb dieses Gefüges eine positive Sonderstellung zukommt. Dass so etwas in einem auf Austerität getrimmten Gesundheitssystem stets zur Disposition steht, kann man sich indes denken, noch bevor die einzige, abschließende Texteinblendung knapp die Hintergründe dieser Einrichtung benennt und in den Worten »Wie lange noch?« mündet. Bezeichnend, dass Philibert wiederholt Szenen einstreut, in denen Patienten und Therapeuten kollektiv die Einnahmen verbuchen, die der Betrieb eines kleinen Cafés auf dem Boot abwirft. Und dass ihre Rechnungen partout nie aufgehen wollen.

»Auf der Adamant«, Regie: Nicolas Philibert, Frankreich/Japan 2022, 104 Min., bereits angelaufen

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