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Aus: Ausgabe vom 19.09.2023, Seite 8 / Inland
Leben mit dem Virus

»Das sind Menschen, denen wir gut helfen können«

Laut RKI 2022 Anstieg bei HIV-Infektionen in BRD. Verband verweist auf Ukraine-Geflüchtete. Ein Gespräch mit Holger Wicht
Interview: Gitta Düperthal
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Auf frühe Diagnose kommt es an: Blutentnahme in Magdeburg (25.11.2021)

Laut Zahlen, die das Robert-Koch-Institut, RKI, vorgelegt hat, sind im vergangenen Jahr wieder mehr HIV-Infektionen in der BRD registriert worden. Woran kann das liegen?

Viele Menschen denken nun, es hätten sich in diesem Jahr mehr Menschen infiziert als im Jahr zuvor. Darüber sagen diese Zahlen aber nichts aus. Es sind lediglich mehr Infektionen erstmalig festgestellt und registriert worden: Rund 3.200 neue Diagnosen meldete das RKI im aktuellen Bericht für das Jahr 2022, rund 2.260 waren es 2021. Das liegt vor allem daran, dass geflüchtete Menschen aus der Ukraine sich hier in medizinische Behandlung begeben haben. Viele sind schon lange HIV-positiv, wurden dort bereits behandelt. Hier gehen sie neu in die Statistik ein. Es gibt weitere Faktoren, etwa einen Rückgang der Diagnosen im Vorjahr und ein Bevölkerungswachstum.

Von knapp 84,5 Millionen in Deutschland lebenden Menschen registrierte das Bundesinnenministerium bis Juli 2023 rund 1,1 Millionen ukrainische Kriegsflüchtlinge hierzulande. Weshalb fällt die Anzahl der HIV-Infizierten unter diesen so sehr ins Gewicht?

Da wir in Deutschland nur geringe Fallzahlen haben, wirken sich die Diagnosen bei Menschen aus der Ukraine in der Statistik stark aus. Grob gerechnet ist hier etwa jeder tausendste Mensch HIV-positiv, dort jeder hundertste. In der Ukraine sind zudem mehr Frauen und Kinder betroffen; überwiegend die sind hierher geflüchtet. Männer dürfen das Land meist gar nicht verlassen. Teilweise wurde nun behauptet, es drohe Gefahr durch Menschen mit HIV aus der ­Ukraine. Das ist gefährlicher Unsinn: Sie sind in der Regel behandelt oder werden es hier, dann ist HIV nicht mehr übertragbar. Es sind einfach hilfsbedürftige Menschen, denen wir gut helfen können.

Was können Sie zu den Ursachen für die häufigeren Ansteckungen in der Ukraine sagen?

Dort gab es lange Zeit große Defizite bei Prävention und Behandlung, zugleich wurden Menschen mit HIV verfolgt und ausgegrenzt. Besonders stark betroffene Gruppen sind vor allem Drogen injizierende Menschen, aber auch schwule Männer. Mittlerweile hat sich die Situation verbessert, die medizinische Versorgungslage blieb trotz des Krieges stabil. Am Ziel ist man auch dort aber noch lange nicht.

Welchen Effekt hat eine möglichst frühe Behandlung von Betroffenen?

Bei frühzeitiger Diagnose und Behandlung gibt es kaum gesundheitliche Auswirkungen. Die Medikamente bewirken, dass die Viren im Blut nicht mehr nachweisbar sind. Sie können dann kaum noch Schaden im Körper anrichten und sind beim Sex nicht mehr übertragbar. Einige Menschen haben Nebenwirkungen. Nur wer die Krankheit seit langem hat oder zu spät behandelt wurde, erfährt möglicherweise schwerere gesundheitliche Folgen.

In welchem Ausmaß gibt es noch gesellschaftliche Stigmatisierung?

Das ist das Hauptproblem. Laut einer unserer Studien sagen 90 Prozent der befragten Betroffenen, dass sie aus medizinischer Sicht gut mit HIV leben können. Aber 95 Prozent haben in jüngster Vergangenheit Diskriminierung erlebt. Etwa die Hälfte teilt mit, dass Vorurteile ihre Lebensqualität beeinträchtigen. Sie leiden unter den sozialen Folgen: Ausgrenzung, moralische Verurteilung oder Zurückweisung wegen irrationaler Übertragungsängste. Da heißt es etwa, wer sich infiziere, sei selber schuld. Schwule Männer verdienten es nicht anders; Frauen wird oft unterstellt, sie hätten mit vielen Männern Sex und werden als »Schlampe« bezeichnet. Menschen gehen auf Abstand, obgleich das nicht notwendig wäre; im Alltag oder beim Dating. In medizinischen Einrichtungen werden mitunter völlig überflüssige Vorsichtsmaßnahmen ergriffen: Man erhält etwa nur den letzten Termin beim Zahnarzt oder gar keinen.

Was tut Ihr Verein, um das zu ändern?

Wir machen Aufklärungs- und Bildungskampagnen sowie Angebote für Ärztinnen und Ärzte. Doch es fehlt an Geld für Prävention und Behandlung. Wenn Menschen eine vermeidbare Krankheit bekommen, weil sie keine Medikamente erhalten, verstößt das gegen die Menschenrechte. Dass es selbst im reichen Deutschland dazu kommt, etwa für Geflüchtete ohne Aufenthaltsstatus, kritisieren wir scharf.

Holger Wicht ist Sprecher der ­Deutschen Aidshilfe

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