50 Jahre Putsch in Chile: jW-Reihe
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Aus: Ausgabe vom 19.09.2023, Seite 6 / Ausland
Rätsel von Ustica

Offenes Staatsgeheimnis

Italien: Expremier bestätigt Abschuss ziviler Passagiermaschine 1980 durch Franzosen
Von Gerhard Feldbauer
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Klare Hinweise auf Abschuss: Das geborgene Wrack der Itavia-DC-9 (Pratica di Mare, 15.12.2003)

Nach Jahren des Schweigens von offizieller Seite hat ein Interview des früheren Premiers Giuliano Amato am 2. September in La Repubblica eine alte Diskussion neu entfacht. Im Interview bestätigte er, dass die 1980 über Ustica abgestürzte Passagiermaschine der italienischen Itavia während eines NATO-Manövers irrtümlich von einem französischen Piloten abgeschossen worden war.

Bisher galt weitläufig die Einschätzung, die DC-9 sei von einem US-Piloten abgeschossen worden. Doch gilt die Diskussion, ob ein französischer oder US-amerikanischer Pilot die Rakete abfeuerte, einem eher nebensächlichen Aspekt des Rätsels von Ustica. Denn es wird weiter ignoriert, dass die USA und ihre italienischen Komplizen die Verantwortung für den Abschuss leugneten, weitere Verbrechen zur Vertuschung verübten und skrupellos Menschen zu Tode kamen. Noch immer hält das Verteidigungsministerium sieben einschlägige Dokumente unter Verschluss.

Die Passagiermaschine DC-9 war am 7. Juni 1980 nördlich der Insel Ustica ins Tyrrhenische Meer gestürzt. Alle 81 Insassen kamen dabei ums Leben. Zur selben Zeit fand in dem betreffenden Gebiet ein NATO-Manöver statt. Wie Amato nun bestätigte, sollte der libysche Staatschef Muammar Al-Ghaddafi, der in einer Tupolew über Ustica flog, getroffen werden. Der die Rakete abfeuernde Pilot habe die DC-9 jedoch für die Tupolew gehalten, da sich beide Flugzeuge im Profil ähnelten. Obwohl die Absturzstelle genau bekannt war, wurden die Bergungskommandos in ein weit abseits liegendes Gebiet geschickt, wohl um zu verhindern, dass Überlebende den Raketenabschuss bestätigten. 1989 berichtete das ARD-Nachrichtenmagazin »Panorama«, der sich noch über Wasser gehaltene Rumpf der DC-9 sei im Morgengrauen von Kampfschwimmern eines britischen U-Bootes gesprengt worden. Bis dahin habe es noch Überlebende gegeben.

Direkt im Anschluss an das Ereignis hatte die NATO behauptet, sämtliche Maschinen seien am Boden, alle Raketen in den Hangars gewesen. Offizielle Erklärungen des Absturzes wie ein Maschinenschaden oder eine Explosion im Inneren des Flugzeugs wurden jedoch dadurch widerlegt, dass das 1987 gehobene Wrack der DC-9 ein völlig geschmolzenes Triebwerk und im Frachtraum einen Raketeneinschlag zeigte.

Doch mit dem Abschuss des Flugzeugs war der Fall nicht beendet. In den folgenden Jahren starb ein Dutzend Mitwisser des Verbrechens unter ungewöhnlichen Umständen. Am 28. August 1988 stießen außerdem während einer Flugschau über der US-Luftwaffenbasis Ramstein zwei Piloten der italienischen »Frecce tricolori« zusammen und stürzten in die Menge. Zumindest eine der Maschinen war laut Experten manipuliert worden. Beide Piloten waren im Juni 1980 als Jagdflieger über Ustica im Einsatz und sollten kurz nach der Flugschau zum Fall Ustica aussagen.

Danach übernahm Staatsanwalt Rosario Priore die Ermittlungen, stellte die Tonbänder der Radarzentrale sicher und enthüllte, dass der US-Botschafter in Rom alle Beweise unter Verschluss genommen hatte. Priore wies nach, dass die DC-9 von einem – wahrscheinlich US-amerikanischen – NATO-Jäger abgeschossen wurde. Er klagte neun italienische Generäle und Offiziere wegen Hochverrats und Beweisunterdrückung an. Eine Anklage wegen Mittäterschaft bei der Ermordung oder zumindest Totschlags der 81 Insassen der DC-9 wurde nicht zugelassen, auch keine wegen Zeugenbeseitigung. Letztlich fielen die Urteile mild aus, und die Karrieren der Angeklagten litten nicht. Im Gegenteil, der verurteilte General Lamberto Barto­lucci stieg später sogar zum Generalstabschef des Verteidigungsministers auf.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gottfried W. aus Berlin (19. September 2023 um 08:40 Uhr)
    Vielen Dank für den Artikel. Noch scheint die junge Welt nicht vollständig in die NATO Fangruppe übergelaufen zu sein, trotz Geheimdienstbeobachtung. Nur kurzer Hinweis, es ist die gleiche Terrortruppe, die allen das Geld aus der Tasche zieht. Es sind die, die Gladio und andere Terrornetzwerke in Europa aufgebaut und betrieben haben. Es sind die, die den Nazikrieg gegen Russland weiter führen. Es sind die, die auch hier in der Zeitung gegen Politiker hetzen, die die Unterstützung der NATO Faschisten nicht mitmachen können. Interessant, die Verbindung mit der Rammstein-Katastrophe. Danke auch für den Hinweis auf die Mordtaten der Briten. Ist es möglich, da dran zu bleiben?

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