50 Jahre Putsch in Chile: jW-Reihe
Gegründet 1947 Sa. / So., 23. / 24. September 2023, Nr. 222
Die junge Welt wird von 2732 GenossInnen herausgegeben
50 Jahre Putsch in Chile: jW-Reihe 50 Jahre Putsch in Chile: jW-Reihe
50 Jahre Putsch in Chile: jW-Reihe
Aus: Ausgabe vom 19.09.2023, Seite 3 / Schwerpunkt
Antiziganismus

»Subtiler Antiziganismus ist Normalität«

Über die Alltäglichkeit rassistischer Vorfälle und fehlenden politischen Willen. Ein Gespräch mit Guillermo Ruiz
Von Florian Osuch
imago0304395749h.jpg
Vorstellung des ersten Jahresberichts der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus mit Mehmet Daimagüler, Bundesbeauftragter gegen Antiziganismus, Guillermo Ruiz Torres, Leitung der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus/Bund, und Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma (v. l. n. r., Berlin, 18.9.2023)

Das Bundeskriminalamt hat in seiner Statistik zu politisch motivierter Kriminalität für das Jahr 2022 lediglich 145 antiziganistisch motivierte Straftaten erfasst. Sie dokumentierten für den gleichen Zeitraum mehr als viermal so viele Fälle. Wie ist das zu erklären?

MIA erfasst Vorfälle sowohl oberhalb als auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze. Ein Vorfall muss nicht strafrechtlich relevant sein, um als antiziganistisch bewertet und dokumentiert zu werden. Wir machen also auch jene Dimensionen des Antiziganismus sichtbar, die für Betroffene alltägliche Realität, jedoch nicht notwendigerweise justitiabel sind und insofern keine Fälle für Polizei und Staatsanwaltschaft darstellen. Hinzu kommt, dass MIA als zivilgesellschaftliche Monitoringstelle einen Vertrauensvorschuss genießt. Polizei und Ermittlungsbehörden sind durch die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspraxis historisch belastet und bis heute nicht frei von Antiziganismus. Nicht selten müssen wir registrieren, dass Betroffenen kein Glauben geschenkt oder ihnen in einer Täter-Opfer-Umkehr die Schuld für angezeigte Vorfälle gegeben wird. Auch Polizeibeamte sind mitunter für von uns erfasste Vorfälle antiziganistischer Diskriminierung verantwortlich.

Wie trägt Ihre Fachstelle dazu bei, das Dunkelfeld zu erhellen?

Betroffene zweifeln vielfach, dass die Thematisierung oder gar Veröffentlichung von antiziganistischen Vorfällen zur Verbesserung der Lage beiträgt; mitunter befürchten sie sogar weitere Nachteile. So werden Straftaten nicht zur Anzeige gebracht, und ohnehin fehlten für alltägliche Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze bisher entsprechende Meldestrukturen. Die Erhellung des Dunkelfeldes durch Dokumentation geht bei MIA daher einher mit konsequentem Datenschutz und Anonymisierung sowie im Bedarfsfall mit der Vermittlung an soziale, psychologische und rechtliche Beratungseinrichtungen.

Im Bericht heißt es, Antiziganismus trete oft versteckt auf …

Bestimmte subtile Formen des Antiziganismus sind bis heute derart als Normalität in den Alltag eingeschrieben, dass diese nicht mehr erkannt oder bewusst erfahren werden. Das geschieht etwa in öffentlichen Institutionen. Antiziganistische Handlungsanweisungen und Arbeitsweisen, durch welche Minderheitsangehörige diskriminiert werden, haben sich in staatlichen Institutionen wie Polizei, Jugendämter, Arbeitsagenturen oder Schulen über Jahrzehnte entwickelt. Dabei wird oft mit Codes gearbeitet, durch die antiziganistische Anweisungen vermittelt sind. Zum Phänomen der Normalisierung des Antiziganismus gehört auch, dass zahlreiche Sinti und Roma Diskriminierung als normal erleben, weil sie immer schon diskriminiert wurden.

Ein Schwerpunkt Ihrer Dokumentation befasst sich mit Antiziganismus in den Medien. Was sind Ihre Erkenntnisse?

MIA verfügt derzeit nicht über die erforderlichen Ressourcen, um ein quantitatives Monitoring der Medien zu leisten. In unserem Jahresbericht haben wir uns daher auf exemplarische Fallbeispiele medialer Berichterstattung beschränkt, die allerdings bestätigen, was qualitative Untersuchungen der letzten Jahre ergaben: In der medialen Berichterstattung wird die Betroffenheit durch Antiziganismus selten thematisiert, wohingegen sich traditionelle Stereotype und neuere Codes des Antiziganismus ungeminderter Beliebtheit erfreuen. Auch werden Berichte eigens mit klischeehaften oder zusammenhangslosen Bildern illustriert.

Was wünschen Sie sich für den weiteren Kampf gegen Antiziganismus?

MIA wird durch das Bundesfamilienministerium gefördert. Für die Verstetigung unserer Arbeit wünschen wir uns weitere Unterstützung der Bundes- und Landesregierungen. Wir wünschen uns auch ein stärkeres Engagement durch politische Entscheidungsträger. Antiziganismus in den staatlichen Institutionen kann nur wirksam bekämpft werden, wenn der politische Wille dafür vorhanden ist. Zuletzt bedarf es eines stärkeren Engagements der gesamten Zivilgesellschaft.

Guillermo Ruiz ist ­Projektleiter der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA)

Sommerabo

Du kannst 75 Ausgaben der gedruckten Tageszeitung junge Welt für 75 Euro lesen und täglich gut recherchierte Analysen zu tagesaktuellen Themen erhalten. Schenke dir, deinen Freundinnen und Freunden, Genossinnen und Genossen oder Verwandten ein Aktionsabo und unterstütze konsequent linken Journalismus.

Mehr aus: Schwerpunkt

Das Onlineabo der Tageszeitung junge Welt testen: Drei Monate für 18 Euro.