In der Wüste
Von Leo Schwarz
Ein Standard der neoliberalen Propaganda der 1990er Jahre war die Behauptung, dass es die Arbeiterklasse und die Arbeiterbewegung gar nicht mehr gebe. Die Historikerin und Publizistin Brigitte Seebacher, die 1984 bei Ernst Nolte mit einer Studie über Erich Ollenhauer promoviert wurde und 1995 aus der SPD austrat, als letzte Ehefrau von Willy Brandt aber bis heute Mitglied im Kuratorium der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung ist, hat nun ein dickes Buch »zur Geschichte der Sozialdemokratie« vorgelegt, das diese ziemlich zerkratzte Platte erneut auflegt: Das »Kollektiv der Arbeiterschaft« ist verschwunden, das »Industriezeitalter« ist an sein Ende gekommen, und mit der Sozialdemokratie ist es auch vorbei. Die (ehemaligen) Arbeiterparteien sind, was auch immer sie anstellen, »dem Niedergang geweiht«, die Hoffnung auf »eine nicht nur bessere, sondern auch andere Welt« hat sich verloren.
Wen Seebacher damit allerdings erreichen oder überzeugen will, bleibt nach der Lektüre der über 600 Seiten unklar. Für die herausgestellten Thesen interessiert sie sich nicht vertieft, für die historische Sozialdemokratie als Massenbewegung nur am Rande. Noch am ehesten ist das Buch der Abschluss einer persönlichen Abrechnung speziell mit der deutschen Sozialdemokratie, die Seebacher 1991 mit dem Buch »Die Linke und die Einheit« eröffnet und 1994 fortgesetzt hatte, als sie den langjährigen Chef der SPD-Bundestagsfraktion Herbert Wehner dem Verdacht aussetzte, in Kollaboration mit der DDR-Führung den Sturz Willy Brandts betrieben zu haben.
Seebachers Buch, in dem sie auch die Entwicklungen in anderen europäischen Ländern in den Blick zu nehmen versucht, ist eine Anhäufung von überwiegend ungeordneten historischen Details, Anekdoten, Beobachtungen und Urteilen, die nur das eine gemeinsam haben, dass sie sich überwiegend in eine vor allem zum Ende hin stringent neoliberale Gesamtperspektive einfügen. Gleich am Anfang ist es ihr wichtig mitzuteilen, dass sie zwar 1965 in Bremen als Mädchen »von der Oberschule« in die SPD eingetreten sei, aber schon 1967 an der FU Berlin vor der Studentenbewegung »die Flucht« ergriffen habe. Die standhafte Genossin und Tutorin weigerte sich, »einen Grundkurs in Marx statt in Mittelhochdeutsch zu veranstalten« und verharrte fortan »auf dem rechten Flügel«.
Dem kundigen Leser fällt auf, dass Seebacher sich in der Nachkriegsgeschichte der deutschen Sozialdemokratie sehr gut zurechtfindet. Ihre Beobachtungen etwa zum Schwinden von »Zusammenhalt und Zukunftsglaube« in den 1960er Jahren und zu den damit zusammenhängenden Veränderungen im inneren Gefüge der Sozialdemokratie als »Anfang vom Ende« verdienen Interesse. Vieles andere bleibt dagegen oberflächlich, und mitunter erscheint das Buch Seite für Seite wie ein gedrängter Konspekt. Hier hätte ein Lektor eingreifen müssen, um den Umfang auf das für eine historische Polemik sinnvolle Maß zu begrenzen. Nicht wenige Leser werden zu dem Buch greifen, weil sie eine ausgewogene Überblicksdarstellung zur Geschichte der Sozialdemokratie oder gar der Arbeiterbewegung erwarten. Das ist aber bei dieser Arbeit, deren Verfasserin ständig zwischen obskuren Details und vielfach unbegründeten Gesamturteilen schlingert, nicht einmal ansatzweise der Fall.
Dass Seebacher gleich im Vorwort auf Wehner zu sprechen kommt, zeigt nur zu deutlich die seltsame Verbissenheit, mit der sie alte Rechnungen aufruft, die aus ihrer Sicht offensichtlich nicht beglichen sind. Wehner gehört zu den am häufigsten erwähnten Personen in dem Buch – neben Brandt und Helmut Schmidt. Wehner wird konsequent als böser Geist präsentiert. Und dazu gehört auch, dass Seebacher wieder dem Verdacht Raum gibt, Wehner habe nie mit der KPD bzw. mit den »Gefährten, die nun die DDR führten«, gebrochen.
Als Lichtgestalten präsentiert sie neben Brandt und Schmidt andere Figuren. Sie lässt ihr Buch mit einer Sympathieadresse für Anthony Blairs »New Labour«, diesem »Versuch einer zeitgemäßen Erneuerung der Sozialdemokratie«, ausklingen: Einfach toll, wie der die »innerparteilichen Regularien« anpasste, damit final den Einfluss der Gewerkschaften auf die Partei beschränkte und alte »Posten« wie die Vergesellschaftungsklausel im Parteiprogramm »abräumte«. Der Lohn: »zehn gute Jahre«. Aber auch Labour »mutierte« später »zurück zur Sekte«, konstatiert Seebacher achselzuckend. Den Namen Jeremy Corbyn erwähnt sie gar nicht erst, eine Auseinandersetzung mit dessen Politik hält sie nicht für nötig: Das ist einfach die »Wüste der Nichtwählbarkeit«.
In der SPD lief es aus Sicht Seebachers nie richtig rund mit der »Erneuerung«. In den 90ern spukte da noch Oskar Lafontaine herum, »immer gegen etwas und nie willens zur Einordnung«. Schlimm: 1995 übernahm Lafontaine mit einer »Brüllrede« beim Mannheimer Parteitag sogar die Parteiführung. »Helmut Schmidt war auf der Anfahrt nach Mannheim und drehte um, als ihn die Nachricht erreichte«, teilt die Anekdotenerzählerin, ganz ergriffen vom eigenen Durchblick, den Lesern knapp mit.
Dann war Lafontaine weg und Schröder nicht nur Kanzler, sondern auch Parteichef. Seebacher findet die Agendapolitik selbstverständlich richtig gut, tadelt Schröder aber wegen mangelnder »Führungskunst«. Der hätte mal besser mit seiner eigenen Lebensgeschichte »gute Stimmung« machen sollen, denn er kam doch von ganz unten und habe »immer gedacht, dass einer sich selbst anstrengen müsse, bevor Hilfe der Gemeinschaft angenommen wird«. Seebacher sieht dunkle Einflüsse der Gewerkschaften bei der Sabotage der Agendapolitik am Werk, und auch die Partei habe schließlich den »Prozess der Umsetzung« nur »widerwillig begleitet oder gar unterlaufen«.
Die etwas konfuse Botschaft am Ende scheint also die zu sein, dass »die Sozialdemokratie« nur als neoliberale Programmpartei hätte überleben können. Den Gedanken, dass, umgekehrt, die sukzessive feindliche Übernahme durch neoliberale Kader und Ideologen etwas mit dem Niedergang der sozialdemokratischen Parteien seit den 1980er Jahren zu tun haben könnte, lässt Seebacher selbstverständlich gar nicht zu – das wäre ja schon wieder der Schritt in die »Wüste der Nichtwählbarkeit«.
Brigitte Seebacher: Hundert Jahre Hoffnung und ein langer Abschied. Zur Geschichte der Sozialdemokratie. Dietz, Bonn 2023, 719 Seiten, 49,90 Euro
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Es stimmt auch, dass die Sozialdemokratie im Laufe der Geschichte weiterentwickelt und sich angepasst hat. Sie hat erkannt, dass die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anders sind als die des 19. und 20. Jahrhunderts. Die sozialen Sicherungssysteme, Bildung und Gesundheitsfürsorge bleiben jedoch grundlegende Werte, die von einer sozialdemokratischen Regierung geschützt und gefördert werden sollten.
Die Behauptung, dass die Arbeiterparteien dem Niedergang geweiht sind, vernachlässigt die Tatsache, dass politische Bewegungen zyklisch sind. Ja, es mag Phasen geben, in denen Parteien an Popularität verlieren, aber das bedeutet nicht zwangsläufig ihr Ende. Die Geschichte hat gezeigt, dass politische Parteien sich erneuern und wiederaufleben können, wenn sie die Bedürfnisse und Anliegen ihrer Wählerinnen und Wähler ernst nehmen. Eine echte Sozialdemokratie kann die Grundlage für positive Veränderungen in der Gesellschaft schaffen, indem sie politische Maßnahmen ergreift, die das Wohlstandsniveau erhöhen, Bildung fördern und den sozialen Zusammenhalt stärken.
In Zeiten, in denen die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit sogar wächst, und die politische Polarisierung zunimmt, benötigen wir eine starke und lebensfähige Sozialdemokratie, die sich den Herausforderungen der modernen Welt stellt. Die Idee, dass die Sozialdemokratie überholt sei, ist nicht nur unzutreffend, sondern auch gefährlich. Wir Sozialdemokraten sollten uns weiterhin für eine gerechtere und nachhaltigere Zukunft einsetzen und die Werte der Sozialdemokratie als Wegweiser für positive Veränderungen nutzen.