Komödie in bewegten Tagen
Von Lothar Zieske
Im Jahre 1923 bescherte Carl Zuckmayer, damals 26 Jahre alt, zusammen mit dem Intendanten Curt Elwenspoek, den Städtischen Bühnen in Kiel, von ihm als »Sprotten-Athen« verspottet, einen handfesten Theaterskandal. Der noch fast unbekannte Zuckmayer war damals Dramaturg und Regisseur an diesem Haus.
Beide hatten sich in der Spielzeit 1922/23 einen Spaß daraus gemacht, das von ihnen als spießig eingeschätzte Publikum zu schockieren. Zuckmayer schreibt in seinen Memoiren: »(U)nsere Inszenierungen (stocherten) mehr und mehr ins Wespennest der öffentlichen Entrüstung.« Rückblickend bemerkte er: »(I)ch finde es schön, dass man sich aufregte, eine Position verteidigte, einen Maßstab anlegte, auch wenn er zu eng oder veraltet war.«¹
Am Kieler Theater gab es Spannungen, die auf Generationenkonflikten und unterschiedlicher kultureller Orientierung basierten. Zuckmayer und Elwenspoek hatten dort keine Chance mehr; sie schienen das Publikum, aber auch große Teile des Ensembles zu sehr zu provozieren. So gelang es Zuckmayer, Elwenspoek dafür zu gewinnen, »dass – wenn es doch sein müsse – unser Abgang nicht lautlos, sondern mit einem Rieseneklat zu geschehen habe und dass man beim Rückzug seine Festung, in diesem Fall das Theater, wenigstens symbolisch in die Luft sprengen solle.«² Zuckmayer arbeitete »in weniger als einer Woche« die Komödie »Der Eunuch«³, die der römische Dichter Terenz im Jahre 161 v. u. Z. auf die Bühne gebracht hatte, so um, dass sie einen Skandal auslösen sollte.
»Wegen Aufsässigkeit«
Offensichtlich auch nach über 40 Jahren immer noch begeistert von seinem jugendlichen Feuer, beschreibt Zuckmayer den Ablauf der Vorstellung seines »Eunuchen« sehr lebendig: »Skeptisch und stumm saßen die Kieler dabei. Nach dem Prolog, der wie im antiken Theater mit dem Symbol des Phallus zur Verherrlichung des schöpferischen Eros gehalten wurde und in ein Lob des edlen Gliedes ausklang, wagte keiner mehr zu atmen, offenbar wollte sich niemand ein Schreckenswort entgehen lassen, und es verließ auch niemand das Theater, ehe der letzte Vorhang die Hoffnung begraben hatte, dass es noch schlimmer kommen könne. Es kam, für damalige Begriffe, mehr als schlimm. Eine unserer jungen Schauspielerinnen, die total unbegabt, aber berauschend hübsch gewachsen war, wurde als geraubte Jungfrau und Sklavin⁴ der Thais (eine Prostituierte, die in dem Stück eine tragende Rolle spielt; L. Z.) nackt über die Bühne geführt, nur mit einem Schleier um die Hüften, ihre Brüste waren orangen geschminkt und um den Nabel eine Sonne mit blauen Strahlen. Da sie beim Sprechen mit der Zunge anstieß, hatte ich ihr nur einen einzigen kurzen Text geschrieben – wenn sie nämlich am Schluss gefragt wurde, wo sie die Zeit der Entführung verbracht habe: ›Auf Lesbos.‹ (…) Ein paar junge Leute, denen man die Galerie freigegeben hatte (…), lachten und klatschten am Schluss – die geladenen Gäste verließen das Haus in bedrohlichem Schweigen. Noch in der Nacht wurde eine Sitzung des Stadtrates einberufen und der Intendant (Elwenspoek; L. Z.) aufgefordert, das Stück sofort abzusetzen, bevor es zu einem öffentlichen Skandal kommen könne. Da er sich weigerte, wurde am nächsten Tag das Theater ›wegen groben Unfugs‹ polizeilich geschlossen, der Intendant und ich fristlos entlassen, (…) alle mit uns schon geschlossenen Verträge für die nächste Spielzeit als ungültig erklärt. In dem Dokument meiner Entlassung hieß es: ›wegen Aufsässigkeit, Unbotmäßigkeit und völliger künstlerischer Unfähigkeit‹. Mit dieser Bestätigung verließ ich Kiel bei Nacht und Nebel, da ich mich dort auf der Straße nicht mehr sehen lassen konnte.«⁵
Der Literaturwissenschaftler Gunther Nickel weist anhand von Quellen nach, dass Zuckmayer in mehreren Punkten zur Legendenbildung beigetragen hat, was angesichts des von ihm und Elwenspoek verursachten Skandals nicht erstaunt: »Davon, dass Zuckmayer (…) ›weite bürgerliche Kreise‹ mit ›avantgardistischen Inszenierungen und Bühnenbildern‹ schwer schockiert habe, kann (…) keine Rede sein.«⁶ Genausowenig davon, dass er – wie oben zitiert – Kiel »bei Nacht und Nebel« verlassen habe; er sei vielmehr zunächst als Dramaturg im Amt geblieben, und ihm sei nicht im Zusammenhang mit seiner Aufführung des »Eunuchen«, sondern unter dem Vorwand, er habe als Chargendarsteller versagt, gekündigt worden.⁷
Nun ist leicht nachzuvollziehen, dass Zuckmayer ein umständliches Eingehen auf den Vorwand vermeiden wollte; schließlich sind Lebenserinnerungen nicht als nüchterne Anführung von Fakten gedacht; klar ist aber auch, dass Zuckmayer sein dramatisches Talent nicht auf den Bereich der Bühne zu beschränken bereit war. Schließlich ist aber auch zu berücksichtigen, dass das Jahr 1923 schon zu diesem Zeitpunkt auch auf ökonomischem Gebiet seine Dramatik mehr und mehr entfaltete, und als Zuckmayers Forderung auf Zahlung einer Entschädigung im November des Jahres durchdrang, durfte er sich über eine Summe von 40 Billionen Mark freuen, die aber nach der im gleichen Monat durchgeführten Währungsreform numerisch auf 40 Reichsmark zusammenschrumpfte.
Kontamination
Von den Äußerlichkeiten des Skandals zu den literarischen Aspekten des Zuckmayerschen Stückes »Der Eunuch«. Er nennt diese Vorlage »einen glänzend gebauten Schwank aus der fülligsten und laszivsten Theaterzeit des alten Rom«.⁸ Dieses Urteil ist zu bezweifeln, aber nicht, um Zuckmayers Leistung in Frage zu stellen, sondern vielmehr, um sie in das rechte Licht zu rücken. Der römische Komödienschreiber Terenz gilt im Vergleich zu seinem Vorgänger Plautus als eher zurückhaltend in seinem komischen Talent. Ein Beispiel: Eines seiner Stücke (»Hecyra«) konnte erst im dritten Anlauf vollständig aufgeführt werden. Der Latinist Ludwig Bieler schreibt dazu: »(D)ie erste Aufführung wurde abgebrochen, weil das Publikum schon ungeduldig war, einen Boxkampf und einen Seiltänzer zu sehen; während der zweiten Aufführung verbreitete sich unter den Zuschauern das Gerücht, es gebe Gladiatorenspiele, und alles strömte der größeren Attraktion zu; erst die dritte Aufführung, die offenbar keine ähnliche Konkurrenz hatte, brachte Erfolg.«⁹ Dass es sich bei Zuckmayers Vorlage um »einen glänzend gebauten Schwank« handeln soll, kann nicht behauptet werden. Zuckmayer hat einiges dafür getan, dass sein Stück so als skandalträchtig wahrgenommen werden konnte.
Im »Ersten Prolog zur Komödie ›Der Eunuch‹ (Frühling 1923) (bei der Aufführung nicht gesprochen)«¹⁰ heißt es: »Die Fabel nahmen wir, wo sie sich fand, / Sie nutzend mit erklecklicher Lizenz. / Man liest in einem bleichen Reklamband / Das Stück von Afer Publius Terenz./ Der stahls vom Plautus¹¹, Jener von Menander – / So klauten die Antiken voneinander.«
Zuckmayer erweist sich an dieser Stelle als kundig in der Geschichte der antiken Komödie: Er weiß nicht nur, dass die (inhaltlich) wenig originelle römische Komödie ihren griechischen Vorbildern (vor allem dem von ihm genannten) fast alles verdankte. Die Auseinandersetzung darüber zur Zeit des Terenz ging allerdings nicht in erster Linie darum, ob man griechische Komödien »stehlen« durfte – der Originalitätsbegriff spielte keine große Rolle –, sondern ob man zwei Komödien miteinander in einer Handlung verschmelzen (»contaminari«; vgl. unser Fremdwort »kontaminieren«) durfte.
Terenz sah sich immer wieder zur Verteidigung seiner Technik der »Kontamination« gezwungen. So beklagt er sich im Prolog seines frühesten erhaltenen Stückes »Andria« (»Das Mädchen von der Insel Andros«) darüber, dass er nicht dazu kommt – was er für seine Aufgabe hält –, in seinen Prologen »vom Inhalt zu erzählen«. Er legt im folgenden die Entstehungsgeschichte seiner »Andria« offen und versucht sein Vorgehen zu verteidigen: »Menander schrieb zwei Stücke, eine ›Andria‹, / das andre die ›Perinthia‹ (das Mädchen aus der Hafenstadt Perinthos). Wer eines kennt, kennt beide; derart ähnelt sich ihr Inhalt. Nur / in Stil und Sprache zeigen sich die Unterschiede. / Was nun aus der ›Perinthia‹ gut passte in die ›Andria‹, das übertrug er in sein Stück / und nutzte es als eigen: Offen legt er es dar.« Er verteidigt sich dann gegen die Kritiker seines Verfahrens mit dem Argument, es sei von jeher üblich gewesen: »Wer ihn anklagt, der klagt auch Naevius und Plautus / und Ennius mit an. In ihnen sieht er ja / sein Vorbild, zieht auch ihre Art Großzügigkeit / der kleinlich-finstren ›Sorgfalt‹ dieses Klüngels vor.«
Es fragt sich nun, weshalb Terenz – offenbar gegenüber großen Widerständen innerhalb der Zunft – dieses Verfahren anwendet: Der mehrfach genannte griechische Komödiendichter Menander (Menandros) war ein Vertreter der »Nea« (der »Neuen Komödie«), im Gegensatz zu »Archaia« (der »Alten Komödie«). Im Gegensatz zur Ausgelassenheit und Angriffslust der Komödien des Aristophanes arbeitete er mit einem Repertoire von ähnlichen Typen, die von der römischen Komödie übernommen wurden: der »Miles gloriosus« (ein Maulheld), der »Parasitus« (einer, der ihm zum Munde redet) der »Servus callidus« (der Sklave, der klüger bzw. schlauer ist als sein Herr).¹² Um nun ein wenig mehr Abwechslung im Vergleich zu den griechischen Originalen in seine Stücke zu bringen, wählte Terenz das Verfahren der »Kontamination«.
Zuckmayer übernimmt das Stück in wesentlichen Teilen und ist indirekt mit dem Verfahren der Kontamination vertraut. Das gibt ihm zusätzliche Freiheit im Umgang dem verarbeiteten Original. Seine »Entschuldigung«: »So mach(t)en es alle.« Ein Beispiel dafür, dass ein Rückgriff auf eine Tradition nicht in Epigonentum enden muss, sondern zu »sekundärer Originalität« führen kann, vor allem dann, wenn sich verwandte Geister (in diesem Fall: Brecht¹³) in der Umgebung finden.
Und wie verhält es sich mit der angeblichen »Laszivität« des Terenz-Stückes? Hier ist von vornherein darauf zu verweisen, dass dieser Zug zwar für die »Alte Komödie« (Hauptvertreter: Aristophanes) typisch ist. In der »Neuen Komödie« aber schwindet die Drastik des Ausdrucks. Es fehlt auch der Götterapparat. Die Schärfe der Wortgefechte bei Aristophanes erklärt sich nicht zuletzt durch den Bezug (d. h.: Beschimpfung oder Bloßstellung) auf real existierende Personen; es handelt sich in gewisser Weise um politische Auseinandersetzungen: um Auseinandersetzungen innerhalb der Polis, des athenischen Stadtstaates. Mit dem Untergang der Polis mit Alexander dem Großen und der Entstehung der nachfolgenden Diadochenstaaten, in die sein Reich nach seinem Tod zerfiel, entfiel die politische Basis für persönliche Invektiven. Denn es entstanden Flächen-, keine Stadtstaaten. Hierbei spielten die »Charaktere«, ein Werk des Aristoteles-Schülers Theophrast von Eresos eine bedeutende Rolle: Die »Neue Komödie« ist eine »Typenkomödie«, sie legt keinen Wert auf psychologische Differenzierung.
Die Person des Eunuchen bei Terenz scheint darauf hinzuweisen, dass in seiner Nachahmung eines Stückes der »Neuen Komödie« doch ein Anschluss an die drastische Komik der »Alten Komödie« zu vermuten ist, denn das Stück spielt um ein Bordell herum. Eine laszive Atmosphäre herrscht trotzdem nicht. Das liegt daran, dass das Geschäftsmodell der Prostitution unter den Bedingungen der Sklavenhaltergesellschaft – ursprünglich: der griechischen, dann der römischen – betrieben wurde.
Verhältnisse offenlegen
Zuckmayer verkleinert, kurz gesagt, offenbar, ohne es zu bemerken, sein Verdienst – das Verdienst, eine solche Laszivität aus einer relativ stereotypen Komödie des Terenz verfertigt zu haben. »In Stil und Sprache zeigen sich die Unterschiede«, wie es Terenz programmatisch in seinem oben zitierten »Andria«-Prolog formuliert.
Die Handlung des Terenzschen Stückes bleibt bei Zuckmayer weitgehend vorhanden. Die meisten Abweichungen verändern die Struktur kaum. Im Kern geht es darum, dass ein junger Mann namens Chaerea im Hause der Prostituierten Thais ein junges Mädchen, Pamphila, sieht und sie besitzen¹⁴ möchte. Sein Bruder Phaedria will seinen Rivalen Thraso, der den bereits erwähnten Typ des »Miles gloriosus« repräsentiert, aus Thais’ Gunst verdrängen und schenkt ihr einen Eunuchen, weil Thais sich aus Prestigegründen einen solchen gewünscht hat. Im Gewand dieses Eunuchen vergewaltigt Chaerea das Mädchen. Da sich herausstellt, dass sie eine (geraubte) Bürgerin, keine Sklavin ist, kann er sie anschließend ehelichen.
Im Gegensatz zu Terenz legt Thais bei Zuckmayer die Verhältnisse offen, die bei Terenz den Hintergrund verschiedener Intrigen bilden: »Nun wuchs mit mir zusammen ein kleines Mädchen auf, das mein Vater einst von einem Händler gekauft hatte. Es stammte hier aus Attica und war ein geraubtes Kind. Als jetzt meine Mutter starb, wurde das Mädchen mit dem Nachlass zum Verkauf ausgeboten. Ich schickte den General (Thraso; L. Z.) hin, um es für mich zu erstehen, denn durch einen Zufall habe ich herausbekommen, dass sie die Schwester des hier ansässigen Gutsbesitzers Chremes ist.«
Diese auffällige Fülle von Zufällen, die Terenz benutzte, um – zweimal allerdings vergeblich – sein Publikum bei der Stange zu halten, fasst Zuckmayer kurz zusammen und nimmt ihr die Spannungsfunktion. Um so deutlicher tritt der ökonomische Hintergrund der Handlung hervor.
Die Handlungen der »Neuen Komödie« mögen uns heutzutage unglaubwürdig erscheinen. Zur Zeit der Entstehung der griechischen Vorbilder – vor allem des bereits erwähnten Menander (um 342–291 v. u. Z.) – bestimmten die Nachfolgekämpfe in den Reststaaten des Reichs Alexanders des Großen den Alltag: Kriege, Vertreibungen, Flucht. Immer wieder gingen Kinder verloren und fanden eine neue Familie. Im besten Falle konnten kleine Erkennungszeichen¹⁵, die der Komödienhandlung zuliebe alle Kriegswirren überstanden, bei der Familienzusammenführung eine Hilfe sein. Andrerseits konnten freie Personen auch in die Sklaverei geraten.
Alle diese Aspekte greift Zuckmayer auf und verzichtet sogleich – in antiker Tradition – auf sie als Spannungselemente.¹⁶ Die Offenlegung der ökonomischen Beziehungen bedeutet bei Zuckmayer einen Schritt weg vom expressionistischen Theater, hin zur Neuen Sachlichkeit. Die Feierlichkeit der Antike wird zurückgedrängt durch zeitgenössische Anspielungen: So bietet der »Parasit« des Thraso diverse Rauschmittel feil.¹⁷ Hierbei ist zu berücksichtigen, dass »(d)er ruhmredige Feldherr, der alle Schlachten verlor außer der auf der Matratze, und sein schlauer Parasit (…) in den angedeuteten Masken von Hindenburg und Ludendorff gespielt (wurden)«.¹⁸
Nun zu der bereits angesprochenen Figur des Chremes, des Bruders der Pamphila, die Thais als Sklavin von Thraso geschenkt bekommen hat. Bei Terenz erscheint er als eine blasse, ahnungslose, zugleich aber gegenüber Thais misstrauische Figur. Anders sein Auftritt bei Zuckmayer: »Ich weiß Bescheid. Mir kann keiner. Da hört alles auf. Dat wäre jelacht. Oeh –« (er blickt stolz umher). Er stellt sich vor mit den Worten: »Gestatten, Chremes Gutsbesitzer. Leutnant der Reserve.« Dann schwadroniert weiter: »Aktiv jewesen. Laster der Großstadt, linksrum, rechtsrum, alte Jacke.« Das ist der Ton eines Gutsbesitzers, als den Thais ihn angekündigt hatte. Vom Typus tritt er dem »Miles gloriosus« Thraso und dessen Parasiten an die Seite, die Zuckmayer als Hindenburg und als Ludendorff ausstaffiert hat: Athenischer Sklavenbesitzer und preußischer Militarismus begegnen sich bei Zuckmayer in einer Person – ahistorisch, doch von aufklärerischer Wirkung.
In dieser Zusammensetzung wird Chremes vorgeführt – am Ende als betrunkener Bordellbesucher, dem auch noch schlecht wird, der nicht einmal mitbekommen hat, dass er dort seiner leiblichen Schwester begegnet ist, und der sich allmählich nur noch der peinlichen Situation bewusst wird, in die er sich gebracht hat. Er wird erst wach, als Thais droht: »Herr, zwingen Sie mich nicht, die Polizei zu rufen.« Hilflos jammert er: »Gnädige Frau, machen Sie mich nicht unglücklich. Die Sache ist peinlich genug, aber wenn was rauskommt, ist meine ganze Karriere zum Deibel.« Hier zeigt sich, dass die angebliche sittliche Anstößigkeit des Zuckmayerschen Stücks nur die Oberfläche betraf. Es ging auch nicht nur um das Zusammenstoßen von Provinz (Kiel) und Großstadt, sondern vor allem um Zuckmayers politische Grundüberzeugung, den Antimilitarismus, der ihm später (1931) im »Hauptmann von Köpenick« seinen Erfolg brachte.
Tanz auf dem Vulkan
Bevor abschließend die Frage behandelt wird, welche Rolle Zuckmayers Kieler Theaterskandal im Rahmen des Jahres 1923 spielte, soll noch eine literaturgeschichtliche Einschätzung von Guther Nickel, dem Herausgeber von Zuckmayers Stück »Der Eunuch«, erwähnt und belegt werden.¹⁹ Nickel beurteilt es als »ein durchaus bemerkenswertes literatur- und theatergeschichtliches Dokument« und als »ein Zeugnis der kulturellen Ausbruchsversuche«, auch in der Provinz. Zwar hatte Zuckmayer damals erst zwei Jahre Großstadterfahrung, doch hatte er mit der zwar insgesamt wenig erfolgreichen Aufführung seines Stückes »Kreuzweg« (Dezember 1920) in Berlin immerhin die bedeutenden Kritiker Herbert Ihering und Siegfried Jacobsohn auf seine Seite gebracht. Sein Ziel war weiterhin Berlin, wohin er auch auf dem »Umweg« über München gelangte. Er habe sich deutlicher als in den vorangegangenen Stücken vom Expressionismus entfernt, und so konnte es nicht verwundern, dass der Kontakt zu Brecht, dessen Stücke er in Kiel gespielt und dessen »Baal« er dort hatte aufführen wollen, am »Deutschen Theater« produktiv wurde.²⁰
Mit seinem »Eunuchen« hatte Zuckmayer die Bearbeitung eines Stückes (des Terenz), das wiederum Produkt einer Bearbeitung (des Menander) war, zu einer eigenständigen literarischen Form erhoben – sowenig das Stück sich wegen des provozierten Skandals auch etablieren konnte. Zuckmayer verteidigte Brechts ähnliche Auffassung gegen Tucholskys Angriff.²¹ Die Debatte griff zurück auf die Äußerungen Schillers und Goethes im Zusammenhang mit der Forderung nach »Originalität« des Dramas.²²
Aber zurück zum Jahr 1923, das voller umwälzender Ereignisse und Entwicklungen war: Am Tag der Aufführung des »Eunuchen« (dem 17. April) war der »Ruhrkampf« gegen die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen bereits seit Monaten im Gange. Kiel lag zwar weit von den Auseinandersetzungen entfernt, doch konnte auch diese Stadt den Folgen dieses Ereignisses nicht entgehen: Die Reichsregierung betätigte die Notenpresse und befeuerte damit die ohnehin seit Kriegsende stattfindende Inflation. Es ist schwer vorstellbar, wie sich der Alltag – sei es im Büro, sei es im Theater – unter diesen Bedingungen bewältigen ließ; den markanten Schlusspunkt bildete für Zuckmayer die real wertlose Entschädigung in Höhe von 40 Billionen Mark. In Kiel führte er mit Elwenspoek und einigen wenigen Vertrauten eine Art Tanz auf dem Vulkan auf. Die heftigsten politischen Ereignisse (Hamburger Aufstand, Eingreifen der Reichswehr im Inneren, Hitler-Putsch in München) lagen noch vor ihm.
Zuckmayer wurde – beginnend mit dem ebenfalls skandalisierten, aber äußerst erfolgreichen Stück »Der fröhliche Weinberg« – zum »erfolgreichste(n) Dramatiker der Weimarer Republik« (Erich Kästner).²³ In den nun beginnenden angeblich »goldenen« Zwanzigern entwickelte sich das Leben für die einzelnen Klassen und Gruppen sehr unterschiedlich. Zuckmayer selbst erlebte bald das Vorspiel zum späteren »Faschismus an der Macht«: Nazis und Konservative hatten von »Volkstümlichkeit« eine deutlich andere Auffassung als er; sie sahen seinen »Fröhlichen Weinberg« als Schmutz und Schund an und versuchten Aufführungen zu verhindern.
Anmerkungen
1 Carl Zuckmayer: Als wär’s ein Stück von mir. Stuttgart 1966, S. 367/68
2 Ebd., S. 368
3 Das Stück ist dadurch erhalten geblieben und konnte postum veröffentlicht werden, dass Zuckmayer es nach München, wohin er sich nach dem Kieler Skandal absetzte, geschickt hatte. Zwar weigerte sich das Ensemble des dortigen »Schauspielhauses«, das Stück zu spielen. Dort blieb es aber im Archiv erhalten, wie der Herausgeber berichtet. Vgl. Gunther Nickel: »Geht ihr denn hin und schwängert eure Weiber.« Zur Wiederentdeckung von Carl Zuckmayers Komödie »Der Eunuch«. In: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 3 (1997), S. 48–122, dort: S. 112. Zuckmayers Stück selbst ist an derselben Stelle, S. 48–99 abgedruckt.
4 Wie sich im folgenden noch zeigen wird, hat Zuckmayer sich an verschiedenen Stellen falsch erinnert – was in Autobiographien gang und gäbe ist: Die Wiedererkennungsszene des Stückes hätte ergeben sollen, dass die »Sklavin« namens Pamphila die Schwester des freien Athener Bürgers Chremes war. Der aber – um die Verwirrung vollkommen zu machen, äußert sich in Zuckmayers Stück »Der Eunuch« folgendermaßen: »Also Herrschaften, ich weiß ja immer noch nicht, ob das Mädel wirklich meine Schwester ist, oder ob ich hier kreuzweise beschummelt bin. Die Amme hat ihren Zwicker vergessen und kann das (für die Identifikation entscheidende; L. Z.) Muttermal nicht finden.« (vgl. Anm. 3, S. 97) Immerhin vermeidet es Zuckmayer durch den Anachronismus (»Zwicker« i. S. v. Brille) den Anachronismus der antiken Sklavenhaltergesellschaft unnötigerweise wiederzubeleben.
5 Zuckmayer, a. a. O., S. 370 f.
6 Vgl. Anm. 3, S. 103
7 Vgl. Anm. 3, S. 110
8 Zuckmayer, a. a. O., S. 368
9 Ludwig Bieler: Geschichte der römischen Literatur I. Die Literatur der Republik. Berlin 1961, S. 61
10 Vgl. Anm. 3, S. 49
11 Den Namen von Terenz’ Vorgänger bringt Zuckmayer an dieser Stelle hinein, um »Masse zu machen«. Terenz und Plautus waren, wie bereits erwähnt, in ihrer Komik sehr unterscheidbar.
12 Alle drei Typen sind auch in Zuckmayers »Der Eunuch« enthalten.
13 Zuckmayer hatte vorgehabt, Brechts »Baal« in Kiel aufzuführen. Doch: »Die Aufführung wurde nicht bewilligt« (vgl. Anm. 1, S. 366). Nach dem Kieler Theaterskandal war Zuckmayer als Dramaturg nach einer Zwischenstation in München zusammen mit Bertolt Brecht am Deutschen Theater Berlin tätig.
14 Dieser Ausdruck ist mit Bedacht gewählt; nach der Vergewaltigung des Mädchens sagt er zu seinem Freund Antipho, mit dem er sich zum Essen verabredet hat, zu dem er nicht erschienen ist, als Entschuldigung: »Ich sollte die günstige Stunde, die sich so herrlich, so flüchtig, so ersehnt, so wider Erwarten mir darbot – die sollte ich ungenutzt lassen?« Der Hintergrund ist, dass Chaerea Pamphila fälschlich für eine Sklavin hält; Sklavenhaltermentalität also! Ebenso skrupellos äußert Chaerea bei Zuckmayer: »Ich will sie ja nur heiraten wie der Kater die Katz auf den Dächern freit.« (vgl. Anm. 3, S. 63)
15 Zuckmayer macht daraus ein unveränderliches körperliches Zeichen, ein Muttermal, das die Amme (vgl. Anm. 4) identifizieren soll, die aber leider ihre Brille vergessen hat.
16 Üblicherweise erzählte ein Prologsprecher (der »Prologus«) den Zuschauern die allzu verzwickte Handlung vor Beginn des eigentlichen Stückes.
17 »Wenn sie ein Spritzlein brauchen oder ein Tablettchen – hei, gelber Saft aus Cochinchina (…) oder Mohnwässerchen, – und runde grüne Haschischkügelchen.« (S. 59)
18 Vgl. Zuckmayer, Anm. 1, S. 370
19 Gunther Nickel: vgl. Anm. 3, S. 113–117
20 Ebd. , S. 113
21 Ebd. S. 114
22 Ebd. S. 115 f.
23 Zitiert nach ebd., S. 117
Lothar Zieske schrieb an dieser Stelle zuletzt in den Ausgaben vom 16. und 17. Februar über Immanuel Kants Schrift »Zum ewigen Frieden«.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (18. September 2023 um 19:40 Uhr)Mir scheint schon seit Monaten ein Wettbewerb im Gange zu sein: Der Wettbewerb der jW-Redaktion um den am wenigsten gelesenen Artikel auf den Themenseiten. Die Welt brennt und auf diesen wichtigen Seiten kommen immer wieder Aufsätze zum Abdruck, die bestimmt in Fachjournalen Leser fänden, weniger aber in einer Tageszeitung, in der man Antworten auf brennende Fragen unserer Zeit sucht. Wetten, dass eine Leserbefragung Themen von größerer Brisanz nennen könnte, zu denen man lesbare Artikel organisieren könnte? »Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift« – allerdings nur, wenn man ihr dazu reelle Chancen gibt. Denn dazu muss sie die Massen ansprechen, sie dort abholen, wo sie gerade mit ihren täglichen Sorgen und Fragen sind. Theorie und Theoretisiererei, liebe jW, sind leider nicht dasselbe.
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