Schafe und Wölfe
Von Nico Popp
Die AfD hat am Sonntag die Serie kommunalpolitischer Erfolge fortgesetzt. Bei der ersten Runde der Oberbürgermeisterwahl im nordthüringischen Nordhausen deklassierte der AfD-Kandidat Jörg Prophet die Konkurrenz; er kam auf 42,1 Prozent der Stimmen. Der zweitplazierte Bewerber, der parteilose Amtsinhaber Kai Buchmann, folgt weit abgeschlagen mit 23,7 Prozent. Die SPD-Kandidatin Alexandra Rieger bekam 18,6 Prozent der Stimmen, der parteilose Schuldirektor Andreas Trump, der für die CDU antrat, 11,2 Prozent.
Die Kandidaten von FDP und Grünen landeten jeweils im niedrigen einstelligen Bereich. Die Linkspartei hatte keinen Kandidaten aufgestellt und keine Wahlempfehlung abgegeben. Der Unternehmer Prophet, der seit 2016 Mitglied der AfD ist und seit 2019 im Stadtrat sitzt, hat beste Chancen, die Stichwahl in zwei Wochen zu gewinnen und damit der erste AfD-Oberbürgermeister in der Bundesrepublik zu werden. Die Wahlbeteiligung lag mit 56,4 Prozent rund zwölf Prozentpunkte über der des ersten Wahlgangs der Oberbürgermeisterwahl im Jahr 2017.
Mit einem Erfolg Prophets war zuvor durchaus gerechnet worden. Überraschend ist allerdings der enorme Vorsprung des AfD-Manns im ersten Wahlgang, bei dem ihm überschaubare acht Prozentpunkte zur absoluten Mehrheit fehlten. Nordhausen ist bislang nicht als rechte Hochburg aufgefallen. Noch bei der Landtagswahl 2019 gewann die Linkspartei hier das Direktmandat. Die Stadt mit 42.000 Einwohnern im südlichen Harzvorland galt nach 1990 lange als SPD-Domäne. Oberbürgermeisterin war ab 1994 für fast zwei Jahrzehnte die Sozialdemokratin Dagmar Rinke.
Ihr folgte von 2012 bis 2017 der CDU-Mann Klaus Zeh, der seit 1990 als Minister mehreren Landesregierungen angehört hatte. Als Zeh 2017 aus gesundheitlichen Gründen zurücktrat, setzte sich Buchmann, der bis 2016 Mitglied der Grünen war, überraschend in der Stichwahl gegen die Kandidatin der CDU durch. Buchmann wurde Ende März 2023 vom SPD-Landrat Matthias Jendricke vorläufig suspendiert. Hintergrund ist ein Disziplinarverfahren – ihm werden mehrere Dienstpflichtverletzungen vorgeworfen. Im Juli hob das Verwaltungsgericht Meiningen die vorläufige Suspendierung allerdings wieder auf. Vor allem CDU und SPD hatten den Wahlkampf explizit gegen Buchmann geführt.
Der erste Durchgang der Oberbürgermeisterwahl in der siebtgrößten Stadt Thüringens deutet auf tiefergehende Verschiebungen hin, die vermutlich auch bei der Landtagswahl in Thüringen im nächsten Jahr eine Rolle spielen werden. Die Kandidatinnen und Kandidaten von CDU, SPD, FDP und Grünen, auf die sich auch viele Stimmen von Linkspartei-Wählern verteilt haben dürften, kamen am Sonntag in Nordhausen zusammen auf einen Anteil von lediglich noch 34,2 Prozent. Sollte sich dieser Trend auf Landesebene verfestigen, dann kann man durchaus von Anzeichen für Auflösungserscheinungen des bisherigen Parteiensystems sprechen. Mit Blick auf die AfD fällt auf, dass sie nun auch in Industrie- und Hochschulstädten abräumt: Ergebnisse wie das vom Sonntag hatte sie bislang auch in Thüringen nur in ländlichen Regionen erzielt. Bei einer landesweiten Umfrage kam die AfD kürzlich auf einen Wert von 34 Prozent; sie wäre damit deutlich stärkste Partei.
Im Umfeld des Wahltermins agierte die Landespolitik einmal mehr weitgehend hilflos. Ministerpräsident Bodo Ramelow »intervenierte« am Wahltag via X (vormals Twitter) mit einem Spruch aus dem Matthäus-Evangelium: »Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch wie (harmlose) Schafe, in Wirklichkeit aber sind sie reißende Wölfe.« Die aus Thüringen stammende Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) erinnerte nach der Auszählung »aus aktuellem Anlass« daran, »dass Nordhausen auch der Standort eines grausamen Außenlagers des KZ Buchenwald war« – allem Anschein nach in der Annahme, mit diesem Hinweis auf das faschistische KZ Mittelbau-Dora bei der Stichwahl Wähler gegen Prophet mobilisieren zu können. Eine Wahlempfehlung für den 24. September hatte bis zum Montag nachmittag nur die Linkspartei abgegeben: Ihre Stadtratsfraktion rief zur Wahl von Buchmann auf.
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