EU-Regeln für Big Tech in Kraft
Von Sebastian Edinger
Ganze 25 Jahre liegt die Google-Gründung zurück, und vor zwei Jahrzehnten ging Facebook an den Start. Heute gehören deren Mutterkonzerne, Alphabet und Meta, zu den mächtigsten Wirtschaftsakteuren der Welt – auch, weil sie weitgehend im rechtsfreien Raum agieren und Monopolrenditen keinerlei Schranken gesetzt sind. Aufkommende Konkurrenten werden geschluckt oder zerstört. Nutzerinformationen werden an Datenhändler verhökert, die sie sammeln und aufbereiten, um die Menschheit mit personalisierter Werbung zuzumüllen; Kinder und Jugendliche werden abhängig gemacht und von einer Bezahlfalle in die nächste gejagt. Am vergangenen Freitag ist in der EU nun der Digital Services Act (DSA) für die sehr großen Plattformen und zwei sehr große Suchmaschinen in Kraft getreten, er soll dieses Treiben in geordnete Bahnen lenken. Und ist, was politische Zensur angeht, mit einem bedrohlichen Machtzuwachs für die Behörden verbunden.
Bei der Erarbeitung der Vorschriften hat sich die EU-Kommission erstaunlich lobbyresistent gezeigt. Die betroffenen Konzerne haben weder Kosten noch Mühen gescheut, um die Regeln zu verwässern, wie etwa die lobbykritischen Organisationen Corporate Europe Observatory und Lobby Control mehrfach aufgezeigt haben. Auch der wiederholte Versuch, Big-Tech-Vertreter in den Konsultationen als Repräsentanten kleiner und mittlerer Unternehmen zu tarnen, hat nicht verfangen. Das Gros der geplanten Regeln hat den Prozess überstanden. Und seit Freitag gelten sie für 19 Internetkonzerne in vollem Umfang. Das sind jene, die den DSA-Schwellenwert von monatlich 45 Millionen aktiven Nutzern überschreiten und deshalb als Very Large Online Platform (VLOP) oder Very Large Online Search Engine (VLOSE) eingestuft werden.
Neben Alphabet und Meta gehören dazu auch Apple, Tiktok, Booking.com und Bing. Die Shoppingplattformen Amazon und Zalando haben gegen ihre VLOP-Einstufung Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof eingelegt. Amazon beklagt Wettbewerbsverzerrungen, weil andere große Onlineshops nicht aufgeführt wurden. Zalando argumentiert im Prinzip, aufgrund der guten Qualität des eigenen Angebots wäre die EU mit ihren DSA-Regeln an der falschen Adresse. Aufschiebende Wirkung haben die Verfahren allerdings nicht, und der zuständige EU-Kommissar Thierry Breton zeigte sich zuletzt siegesgewiss.
Zu den Möglichkeiten politischer Einflussnahmen äußerte sich Breton beispielhaft am 10. Juli im französischen Nachrichtensender France Info. Da ging es um Aufrufe zu Sozialprotesten. »Sollten Inhalte beispielsweise zum Aufstand aufrufen«, erklärte der Kommissar, »sind die Plattformen verpflichtet, diese zu löschen. Wenn sie dies nicht tun, werden sie sofort sanktioniert.« Er versicherte: »Wir haben Teams, die sofort eingreifen können.« Eine unmissverständliche Kampfansage.
Die Kommission wird womöglich noch »vier oder fünf« weitere Dienste auf die VLOP-Liste setzen, etwa den beliebten KI-Chatbot ChatGPT von Open AI. Und es gilt, den Sonderfall der Enzyklopädie Wikipedia zu lösen, die von der nicht profitorientierten Organisation Wikimedia betrieben wird. Aber im großen und ganzen steht die Liste. Die großen Tech-Konzerne sind alle dabei, für sie gilt ab sofort ein umfassendes Regelwerk, das Vorschriften zum Umgang mit illegalen Inhalten und Nutzerbeschwerden enthält. Ihren Kunden müssen die Plattformen künftig Empfehlungssysteme ohne Profiling anbieten, und personenbezogene Werbung muss unkompliziert und ohne Nachteile abwählbar sein. Für die verwendeten Algorithmen gelten neue Transparenz- und Antidiskriminierungsanforderungen. Außerdem sind Jugendschutzmaßnahmen sowie die Pflicht enthalten, jährlich einen Risikobericht zu erstellen und zu veröffentlichen. Bei Verstößen drohen teilweise heftige Strafen von bis zu sechs Prozent des globalen Jahresumsatzes der jeweiligen Plattform.
Doch wie soll die Einhaltung der Regeln überwacht und durchgesetzt werden? Mit der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) hat die EU vor fünf Jahren schon eine ambitionierte Digitalverordnung an den Start gebracht – das sich jedoch seither in der Praxis als recht zahnlos erweist, weil Big Tech die zahlreichen zuständigen Behörden gegeneinander ausspielt und sich einige EU-Staaten durch möglichst lasche Auslegung Wettbewerbsvorteile verschaffen wollen. Beim DSA ist die Aufsicht noch nicht abschließend geregelt. Klar ist nur, dass bezüglich der Big-Tech-Kontrolle viel Macht in Brüssel konzentriert wird.
In der zuständigen Generaldirektion Kommunikationsnetze der EU-Kommission wurde für die DSA-Aufsicht eine neue Abteilung geschaffen. Laut Kommission sollen ab dem kommenden Jahr 123 Beschäftigte mit der Durchsetzung betraut sein. Hinzu kommen rund 20 Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, die die Arbeit der Aufsicht vom Joint Research Center im andalusischen Sevilla aus unterstützen. Die Zahl der neuen Stellen dürfte allerdings deutlich geringer ausfallen, denn die Kommission wird viel Bestandspersonal mit den neuen Aufgaben betrauen. Bisher hat es laut der Behörde erst 20 Neueinstellungen für die DSA-Kontrolle gegeben.
Welche Kontrollorgane auf nationaler Ebene zuständig sein sollen, muss noch geklärt werden. Die noch zu schaffenden Behörden sollen die Regeln vor allem für kleinere Plattformen durchsetzen, für die sie erst im kommenden Februar in Kraft treten. In Deutschland gibt es bereits einen heftigen Kompetenzstreit, mehrere Behörden buhlen um die zusätzlichen Mittel. Mit der Rolle des »Digital Services Coordinators«, der die nationale DSA-Kontrolle koordinieren soll, hat das Digitalministerium schon mal die Bundesnetzagentur betraut. Aber auch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnologie, Datenschutzbehörden und Landesmedienanstalten wollen einen Anteil am Kuchen. Ob am Ende eine effektivere Kontrolle als bei der DSGVO stehen wird, bleibt in dieser Gemengelage abzuwarten.
Hintergrund: Digital Services Coordinator
Für die Durchsetzung der DSA-Regeln ist in der EU-Verordnung unter anderem festgelegt, dass jeder Mitgliedstaat eine nationale Koordinierungsstelle benennen muss – einen sogenannten Digital Services Coordinator (DSC). Diese hat wichtige Funktionen, etwa die Kommunikation mit Brüssel und anderen nationalen Kontrollbehörden in grenzüberschreitenden Fällen; als Anlaufstelle für Beschwerden von Internetnutzern; beim Aufdecken von Verstößen auf kleineren Onlineplattformen und bei der Koordination der Arbeit aller an der DSA-Durchsetzung beteiligten, nationalen Behörden. Das Mitgliedstaaten sind verpflichtet, dem DSC hinreichende personelle und finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen und seine Unabhängigkeit zu gewähren.
Aber die Bundesregierung wäre nicht die Bundesregierung, wenn sie nicht versuchte, die Kosten zu senken und den politischen Einfluss zu erhöhen. Deshalb will das Digitalministerium laut einem Referentenentwurf keine neue, unabhängige Behörde, sondern bloß eine neue Abteilung in der Bundesnetzagentur (BNetzA) und ansonsten eine dezentral über mehrere Behörden verteilte Kontrollstruktur. Bei der BNetzA dürfte dann die Koordinierungsarbeit im Vordergrund stehen. Experten warnen, für die tatsächliche Aufsicht könnten die Kapazitäten zu gering ausfallen und auch für die Entwicklung eines entsprechenden Erfahrungsschatzes sei die geplante Struktur nicht hilfreich.
Abschließend geregelt werden soll die Kontrollstruktur in der BRD im Digitale-Dienste-Gesetz. Dessen Beschluss steht aus, bis Ende vergangener Woche konnten Stellungnahmen abgegeben werden. Bemängelt wurde unter anderem die absehbar fehlende Unabhängigkeit des DSC. Denn benannt werden soll dessen Leitung nach dem Willen des Digitalministeriums direkt von der Chefetage der BNetzA – die wiederum dem Digital- und dem Wirtschaftsministerium unterstellt ist. (se)
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