50 Jahre Putsch in Chile: jW-Reihe
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50 Jahre Putsch in Chile: jW-Reihe
Aus: Ausgabe vom 26.08.2023, Seite 2 / Inland
Ausbeutung

»Wird das dann ein Ausbildungs­beruf?«

Prostitution ist kein Job wie jeder andere und von »Sexarbeit« nicht zu trennen. Ein Gespräch mit Hanna und Katrin von der Gruppe Frauenkampftag
Interview: Susanne Knütter
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Und eine Gesellschaft ohne »Sexarbeit« ist eine Niederlage für den Feminismus? (Kundgebung der Interessenvertretungen von Bordellbetreibern Anfang Juni in Berlin)

Am Sonnabend findet das Abschlusspodium des »Prostitutionskritischen Sommers« in Magdeburg statt. Warum haben Sie die Veranstaltungsreihe gemacht?

Es gibt einen Widerspruch zwischen der Realität von Prostitution und dem, was liberale Aktivistinnen verbreiten. Als Sozialistinnen wollen wir reale Bilder vermitteln. Wir sehen darin außerdem ein Mittel der Klassenspaltung und fragen uns frei nach Alexandra Kollontai: Kann denn ein Mann, der eine Frau kauft, auch ihr Genosse sein? Wir sagen: nein.

Eine aufgeworfene Frage war: Wie kam die Prostitution nach Magdeburg?

Nach dem Ende der DDR. Die Arbeitslosigkeit explodierte. Frauen verloren ihre ökonomische Unabhängigkeit. Gleichzeitig öffneten überall Bordelle und Pornokinos. Die Frauen und Mädchen waren plötzlich mit einer Objektifizierung der Frau konfrontiert, die es hier vorher gar nicht gab. Auch die Kinderprostitution florierte auf einmal. Eltern hatten mit den Konsequenzen der Erwerbslosigkeit zu kämpfen. Viele Freizeit- und Kulturzentren gab es nicht mehr. In solchen Zeiten haben Menschenhändler und Zuhälter leichtes Spiel.

Wer profitiert von der Prostitution?

In Deutschland werden jährlich schätzungsweise 14 Milliarden Euro mit Prostitution umgesetzt. Wer in Magdeburg genau profitiert, ist nicht so leicht zu überblicken. Die Prostitution findet hier heute in Wohnungen, also im Verborgenen, statt. Es gibt ein einziges angemeldetes Bordell, das von zwei Neonazis betrieben wurde, die wegen schwerer Gewalttaten vorbestraft waren. Antifabroschüren aus den 90ern zeigen, dass die Zuhälterringe aus Westdeutschland relativ schnell im Osten Fuß gefasst haben. Neonazis dienten ihnen als Fußsoldaten. Auch der aktuelle Prozess um die Rockerbande Turonen in Thüringen zeigt, dass Prostitution für Neonazis weiterhin eine Einnahmequelle ist.

Wer sind die Freier?

Eine Studie ergab 2012, dass 42 Prozent der befragten Freier Abitur und 34 Prozent Fachabitur hatten. Das lag deutlich über dem Anteil an der Gesamtbevölkerung. Es ist also immer auch eine Frage des Geldes. Was aber alle Freier unabhängig vom sozioökonomischen Hintergrund eint, ist Frauenverachtung. Ob die Frau das gerade freiwillig macht oder nicht, können sie nicht wissen. Und es ist ihnen egal.

Was ist mit »freiwilligen Sexarbeiterinnen«, deren Interessen Liberale zu vertreten meinen?

Der Begriff wurde in den 1980er Jahren von Carol Leigh in den USA eingeführt und soll alle Tätigkeiten, die mit Sex zu tun haben, zusammenfassen. Es ging darum, die Frauen zu entstigmatisieren. Bis zu dem Punkt, dass die Frauen nicht kriminalisiert werden dürfen, gehen wir mit. Aber der Begriff ist verharmlosend. Wenn man sich anschaut, was Freier in die Freierforen schreiben, ist das auf keinen Fall entstigmatisiert, nur weil die jetzt Sexarbeiterin sagen. Es ist auch nicht möglich, Sexarbeit und Prostitution voneinander zu trennen. Für beide gelten die gleichen Gesetze. Es gibt keine andere Schutzfunktion für sie. Und dann muss man auch fragen, ist Freiwilligkeit im Kapitalismus überhaupt möglich?

Welcher Job ist schon freiwillig? Ist »Sexarbeit« also doch ein Job wie jeder andere?

Wenn man das mal zu Ende denkt, was bedeutet das dann? Wird das dann ein Ausbildungsberuf? Sanktioniert mich das Jobcenter, wenn ich einer Tätigkeit im Bordell nicht nachgehe? In jedem anderen Job musst du nüchtern auf Arbeit erscheinen. Im Bordell ist es genau andersherum, wie uns die Aussteigerin Kali in unserer Veranstaltungsreihe erklärte. Auf welcher normalen Arbeit kann man schwanger werden?

Wie viele Prostituierte gibt es, die von sich behaupten, dass sie es »freiwillig« machen?

Man geht davon aus, dass es in Deutschland rund 400.000 Prostituierte gibt. Von denen haben sich nicht einmal 24.000 nach Prostitutionsschutzgesetz angemeldet. Aber auch das sagt noch nichts über deren Freiwilligkeit aus. Wir bezweifeln nicht, dass es Prostituierte gibt, die das freiwillig machen. Es ist für uns nicht relevant. Prostitution ist ein gesellschaftliches Konstrukt, wodurch wir Frauen unterdrückt werden.

Welche Auswirkungen hat Prostitution auf Frauen insgesamt?

Wir haben am Donnerstag einen Kiezspaziergang zum Gedenken an einen Femizid vor elf Jahren in Magdeburg gemacht. Die Frau wurde ertränkt, weil sie nicht machen wollte, was der Mann will. Jeden dritten Tag wird eine Frau hierzulande ermordet. Wir sehen das in einem Zusammenhang.

Frauenkampftag SFO ist eine sozialistisch-­feministische Gruppe in Magdeburg

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Angelo V. aus Berlin (29. August 2023 um 17:48 Uhr)
    Freiwillig ist es nur, wenn die Eigentumsverhältnisse so geworden sind, dass keine Person die Notwendigkeit hat, ihren Körper zu verkaufen, um ihre Existenz zu sichern. Sonst ist »Freiwilligkeit« nur ein sarkastisches Wort für »ihr Problem«. Viele Frauen in sehr prekären Lebenszuständen und Arbeitsverhältnisse kommen bestimmt mit der »Lösung« ihren Problemen durch die Prostitution in Berührung. Linke Aktivisten müssen eine Politik treiben, die diesen Frauen einen echten Schutz gegen den unfreiwilligen Schritt in die Prostitution anbietet: u.a. billige Wohnungen, öffentlich finanzierte Mensen, sichere Kitaplätze und eine finanzielle Grundsicherung. Die Statistiken zeigen, dass selbst in Deutschland die Sozialhilfe keine Hilfe ist: für viele ist es zu wenig, für andere (z. B. ausländische Frauen) unzugänglich. Die (überwiegend weibliche) Prostitution bezeugt nach wie vor die schlechtere Stellung der Frauen in der Gesellschaft (wenn man die gesamte Welt betrachtet), die deutlich häufiger als Männer ihren Körper verkaufen müssen, um ihre Existenz zu sichern.
  • Leserbrief von Nick (28. August 2023 um 21:22 Uhr)
    Was ist nur passiert, dass der Frauenkampftag so umgeschwenkt ist. Anstatt sich mit der Hurenbewegung zu solidarisieren und für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu kämpfen, wird auf die unbelegten Zahlen referenziert, die seit Jahren durch die Lande geistern und z.B. von ehemaligen Kriminalkommissaren kolportiert werden, die ihre Erfahrungen nicht länger als bis zur Jahrtausendwende gesammelt haben. Belgien spricht von 80 Prozent Freiwilligkeit, komisch wie sich das über die Ländergrenzen hinweg so unterscheidet … Und in Neuseeland ist Prostitution für alle Beteiligten seit vielen Jahren schon entkriminalisiert. In Österreich ist man auch schon weiter. Akzeptanz, ohne Zwang und Ausbeutung zu beschönigen (bitte beachten, »Bundeskanzleramt« ist keine kleine Bastelbude): https://www.bundeskanzleramt.gv.at/dam/jcr:825134ed-d987-4918-b254-adbcac84142c/positionspapier_der_ag_prostitution_17122021.pdf. Und dann dieser Quark mit dem Jobcenter. »Arbeit« muss kein Ausbildungsberuf sein, der vom Arbeitsamt vermittelt wird. Die International Labour Organization sieht Sexarbeit z.B. als Arbeit. Ja, es gibt Zwang und Ausbeutung und einen Ansatz das anzugehen, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten, liefert die ehemalige Sexarbeiterin Martyra Peng in ihrem Buch »Sexwork 3.0 und wie wir Zwangsprostitution verhindern«. Ich bitte künftig um differenziertere und durch Fakten belegte Berichte und ein ausgewogenes Bild, wo alle Seiten Gehör finden.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (28. August 2023 um 12:47 Uhr)
    Ich bitte um Aufklärung: Warum muss (!) in Deutschland eine Frau der Prostitution nachgehen, wenn sie dies freiwillig tut – worin besteht die Ausbeutung bei Freiwilligkeit? Es gibt Hartz IV; zur Zeit viele unbesetzte Hilfsarbeiterstellen usw. – nicht perfekt, aber doch immer noch besser als Prostitution. Meine Frage bezieht sich nicht auf Zwangsprostitution; aus Osteuropa usw. verschleppte Frauen und die Situation in ärmeren Ländern.
    • Leserbrief von Joachim Seider aus Berlin (28. August 2023 um 16:04 Uhr)
      Das ist eine interessante und nicht leicht zu beantwortende Frage. Was verwandelt eigentlich die ersehnte Beziehung zu einem anderen Menschen in eine Ware, die sich kaufen und verkaufen lässt? Prostituieren wir uns nicht alle, wenn wir uns auf dem Arbeitsmarkt anbieten und kaufen lassen müssen wie die Prostituierten auf der Straße? Machen wir das, weil wir das wollen? Oder machen wir das, weil wir das müssen, um leben zu können? Beherrschen wir die Verhältnisse (was zutiefst menschlich wäre) oder beherrschen die Verhältnisse uns und zwingen uns, Dinge zu tun, die wir unter anderen Verhältnissen niemals tun würden? Was sind Verhältnisse, die uns Menschen sein lassen, statt Waren zu sein, die man nach der Benutzung getrost beiseitelegen kann? Was ist menschlich an einem Denken, das Mitmenschen nur noch in den Kategorien der Warenproduktion betrachten kann? Sind Mensch und Menschsein nicht etwas deutlich Höheres als Käuflichkeit und Ware es je sein können? Ja, es stimmt: Menschen können käuflich werden und sein. Ob das gut ist und für die herrschenden Verhältnisse spricht, steht aber auf einem ganz anderen Blatt.
  • Leserbrief von Mariette Frank aus Dresden (28. August 2023 um 11:21 Uhr)
    Wow! Ich hatte schon Angst, dass es in der jW nur noch liberale Staatspropaganda zu dem Thema zu lesen gibt. Gerade zu Zeiten von Inflation und Krieg, wo Frauenkörper als Waffen imperialistischer Staaten eingesetzt werden, ist dieses Gespräch ein guter Impuls, um sich endlich vernünftig mit dem Thema zu beschäftigen. Weiter so!
  • Leserbrief von Bernd Jacoby aus Wiesbaden (28. August 2023 um 11:11 Uhr)
    »Kann denn ein Mann, der eine Frau kauft, auch ihr Genosse sein? Wir sagen: nein.« Das ist eine politisch-moralische Beurteilung, die eine Genossin oder ein Genosse und auch alle anderen Menschen individuell vornehmen und berücksichtigen können. Empirisch-historisch und angefangen mit Marx und Engels lautet der Befund wohl eindeutig: Ja. Eine sozialistische Partei, die bis in die tiefsten Tiefen der Sexualität und der sehr langen Kultur zum Thema durch ihre Ideologie und Kultur einen wirksamen humanen und vorwärtsweisenden Einfluss erzielt, ist eine sehr ferne Zukunftsmusik. In Deutschland vorstellbar ist im Rahmen der derzeit herrschenden Spießermoral und alltäglichen Heuchelei und Lüge eine moralisch aufgeladene Kampagne denkbar, wie sie in thematisch erweiterter anderer Form z.B. Die Linke in Hessen »erlebt« und betrieben hat. Gut möglich, dass sich »liberale« Auffassungen zur Freiwilligkeit der Sexarbeit und Auffassungen wie in dem Artikel der jW ein Scheingefecht liefern, das wenig Widerhall im Alltag der Prostituierten findet – das wäre dann wie bei fast allen anderen Themen. Die konkreten Aktionen, die geschildert werden, sind gleichwohl sympathisch und die Teilnehmer/innen werden eigene Erfahrungen gewonnen haben.
  • Leserbrief von Carsten Baums aus Bad Homburg (27. August 2023 um 13:35 Uhr)
    Wer freiwillig gerne in der Sexarbeit tätig sein möchte, sollte das doch tun können. Keinem wird dadurch geschadet. Jeder soll so leben können und das machen können, was er will, solange niemand dadurch beeinträchtigt wird. Klar gegen Zwang, Ausbeutung, Unterdrückung muss vorgegangen werden: überall, in allen Branchen.
    • Leserbrief von Franka Sommer aus Lychen (28. August 2023 um 11:27 Uhr)
      Aber wir Frauen und auch viele trans Personen werden dadurch beeinträchtigt. Das Patriarchat versaut uns unser ganzes Leben! (Und natürlich der Kapitalismus.) Dass Frauen ihren Körper und ihre Lust vermarkten, ist ein Produkt jahrtausendelanger Unterdrückung und Knechtschaft der Frau. Aber heute müssen wir dabei noch lächeln und Spaß haben.
  • Leserbrief von Mara Huschke (26. August 2023 um 23:46 Uhr)
    In diesem Artikel wird völlig unkritisch die Nomenklatur der Sexkaufgegner*innen übernommen, deshalb muss einiges klargestellt werden. Stimmt, Prostitution ist von Sexarbeit nicht zu trennen. Wozu auch. Prostitution ist der Verkauf von sexuellen Handlungen aller Art zwischen Menschen aller Geschlechter. Eine Masseurin, die Wellnessmassagen verkauft, macht einen Job wie alle anderen. Sobald sich die massierenden Hände in den Intimbereich bewegen, verwandelt sich die Masseurin per Gesetz in eine Prostituierte – und ihre Massage soll dann plötzlich kein Job wie jeder andere mehr sein? Das ist doch lachhaft. Stimmt, Prostituierte arbeiten nicht freiwillig. Sie stehen unter dem Druck, Geld verdienen zu müssen, genau so wie die Müllwerker, die auch nicht freiwillig stinkende Container über die Straßen schieben. Aber Zehntausende Frauen, die neben ihrem Hauptberuf sich hin und wieder mit Sexarbeit etwas hinzuverdienen, um sich z.B. einen Urlaub leisten zu können – die machen das garantiert freiwillig. Riesenfehler im 1. Absatz: kein Mann kauft eine Frau. Bei einem Kauf geht die Ware in den dauerhaften Besitz des Käufers über. Das ist bei Prostitution nicht der Fall. Menschenhandel ist gesetzlich verboten. Ebenso wenig ist Prostitution mit der Objektivierung von Frauen verbunden. Erstens sind zehn Prozent aller Prostituierten Männer, und zweitens macht sich bei vielen Spielarten der Prostitution der Kunde selbst zum Objekt und lässt sich einfach nur passiv verwöhnen. In Deutschland finanzieren circa 100.000 Studierende ihr Studium durch gelegentliche Prostitution. Sie profitieren von der Prostitution, denn bei keinem anderen Job können sie 200 Euro pro Stunde verdienen. Hier hat der Artikel recht: die machen das im Verborgenen durch diskrete Haus- und Hotelbesuche. Niemand weiß etwas davon, und natürlich gibt es da auch keine Zuhälterei und Ausbeutung. Die Frauenverachtung ist ein billiges Stereotyp. Niemand würde 200 Euro für eine Stunde zahlen, wenn er die Frau verachten würde.
  • Leserbrief von Bernd Hohl aus Kempen (25. August 2023 um 22:52 Uhr)
    Leck mich am Arsch! Endlich (!) mal ein wirklichkeitsnaher Artikel zum Thema »Prostitution« in einem »linken« Massenmedium! Dass ich das noch erleben darf!

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