Tageskonferenz: Der Bandera-Komplex
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Aus: Ausgabe vom 17.08.2023, Seite 6 / Ausland
Konflikt in Westafrika

Kein gewöhnlicher Staatsstreich

Niger droht weiterhin ein Einmarsch der ECOWAS. Vor Ort forciert Europa das koloniale Projekt der »G-5 Sahel«
Von Vijay Prashad
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Proteste vor der Botschaft von Frankreich in der nigrischen Hauptstadt Niamey (30.7.2023)

Am 26. Juli 2023 ging die Präsidentengarde Nigers gegen den amtierenden Präsidenten Mohammed Bazoum vor und führte einen Staatsstreich durch. Ein kurzer Kampf zwischen den Streitkräften des Landes endete damit, dass alle ihre Vertreter dem Sturz Bazoums und einer Militärregierung unter der Führung von General Abdourahamane Omar Tchiani zustimmten. Niger ist das vierte Land in der Sahelzone, das in der jüngsten Zeit einen Putsch erlebt hat – die anderen drei sind Burkina Faso, Guinea und Mali. Die neue Regierung untersagt Frankreich, sich weiterhin nigrisches Uran anzueignen. Tchiani hat auch die militärische Zusammenarbeit mit Frankreich aufgekündigt, was zur Folge hat, dass 1.500 französische Soldaten ihre Koffer packen werden. Zum Fortbestehen der »Airbase 201«, einer tausend Kilometer von der Landeshauptstadt Niamey entfernten US-Einrichtung in Agadez, gab es unterdessen keine öffentliche Stellungnahme. Es handelt sich um die größte Drohnenbasis der Welt. Sie ist der Schlüssel für US-Operationen in der gesamten Sahelzone. US-Truppen wurden angewiesen, vorerst auf dem Stützpunkt zu bleiben, die Drohnenflüge wurden vorübergehend eingestellt. Der Putsch richtet sich gegen die französische Präsenz in Niger, doch die antifranzösische Stimmung hat die militärische Präsenz der USA bislang nicht beeinträchtigt.

Furcht vor Nachahmern

Nur wenige Stunden nach dem Putsch verurteilten die mächtigsten westlichen Kolonialnationen – insbesondere Frankreich und die USA – den Umsturz und forderten die erneute Ermächtigung von Bazoum. Aber weder Frankreich noch die Vereinigten Staaten wollten dies forcieren. Bereits zu Beginn dieses Jahres hatten sich die Regierungen Frankreichs und der USA empört über einen Aufstand im Norden Mosambiks gezeigt, der Einfluss auf ihre Profite aus dem Total-Exxon-Erdgasfeld vor der Küste von Cabo Delgado hatte. Anstatt französische und US-amerikanische Truppen zu entsenden, was die Bevölkerung polarisiert und die antiwestliche Stimmung verstärkt hätte, einigten sie sich darauf, militärische Truppen aus Ruanda zu schicken. Diese marschierten in Mosambik ein und schlugen den Aufstand nieder. Beide Westmächte scheinen eine ähnliche Lösung für den Putsch in Niger zu befürworten: Anstatt aber ein Land wie Ruanda erneut mit einer Militärinvasion zu beauftragen, hofft man darauf, dass die ECOWAS – die Wirtschaftsgemeinschaft der westafrikanischen Staaten – ihre Streitkräfte entsendet.

Einen Tag nach dem Putsch verurteilte die ECOWAS den Putsch, Niger wurde aus der ECOWAS ausgeschlossen. Trotz fehlenden Mandats hatte die 1975 als Wirtschaftsgemeinschaft der afrikanischen Staaten gegründete Vereinigung 1990 »Friedenstruppen« in den liberianischen Bürgerkrieg geschickt, seither auch nach Sierra Leone und Gambia. Die ECOWAS verhängte ein sofortiges Embargo gegen Niger. Bis zum Ultimatum am 6. August konnte sie sich nicht auf einen Einmarsch einigen, organisierte aber eine Reservearmee und vereinbarte ein wenig später abgesagtes Treffen für den 12. August in Accra. Massendemonstrationen in Nigeria und Senegal gegen eine militärische Invasion der ECOWAS in Niger hatten massive Repressionen für die Demonstrierenden zur Folge, da lokale Politiker auch um ihr Überleben fürchten.

Als die ECOWAS die Möglichkeit eines militärischen Einmarsches in Erwägung zog, fassten die Regierungen von Burkina Faso und Mali dies auch als Kriegserklärung gegen sich auf. Es gibt Vorschläge für eine Föderation Nigers mit Burkina Faso, Guinea und Mali. Diese Länder stürzten bislang auf höchst erfolgreiche Weise prowestliche Regierungen, konnten die Armut im eigenen Land aber nicht beseitigen. In »The Barrel of the Gun: Political Power in Africa and the Coup d’États« sprach die Journalistin Ruth First vom »ansteckenden Potential des Putsches«. Politische Parteien, die aus nationalen Befreiungsbewegungen hervorgegangen sind, seien zu Eliten verkommen, die in Abhängigkeit von Paris und Washington nur mehr westliche Agenden vorantreiben. Seit 2011 kommen Dschihadistengruppen aus Libyen verstärkt nach Südalgerien und in die Sahelzone, mittlerweile wird halb Mali von Verbündeten der Al-Qaida kontrolliert. Lokale Eliten und westliche Großmächte bestärkte dies darin, die ohnehin stark eingeschränkten Gewerkschaften weiterhin zu schwächen und Linke aus den Reihen der etablierten Parteien zu verbannen.

Fehlende Linke

Das Fehlen linker Kräfte lässt kaum Alternativen. Das Kleinbürgertum aus den ländlichen Regionen macht aus seinen Kindern militante Führer. Burkina Fasos Oberhaupt Ibrahim Traoré aus der ländlichen Provinz Mouhoun und Oberst Assimi Goïta aus der Militärfestung Kati repräsentieren diese Klasse. Ihre Lage ist bestimmt von den Folgen harter IWF-Austeritätsprogramme, Zahlungen an westliche Militärgarnisonen und dem Ressourcenraub durch multinationale Konzerne; als Ausgeschlossene haben sie keine politische Stimme, stattdessen landen vor allem junge Männer beim Militär. Anders als die dortigen Eliten, die »Generalputsche« veranstalten, organisieren sie »Obristenputsche«. Von den Massenkundgebungen in Niamey bis hin zu den kleinen, abgelegenen Städten an der Grenze zu Libyen. Auch der Putsch in Niger wurde weitgehend befürwortet; seine Führer haben ein Vorbild: Thomas Isidore Noël Sankara, panafrikanischer Revolutionär und Marxist, bis zu seiner Ermordung 1987 Präsident von Burkina Faso. Der Militäroffizier Ibrahim Traoré trägt dieselbe rote Baskenmütze wie Sankara, er ist jedoch kein Vertreter der politischen Linken.

Die Militärführer im Niger haben derzeit ein Kabinett unter der Leitung von Ali Mahamane Lamine Zeine installiert. Der ehemalige Finanzminister arbeitete bei der Afrikanischen Entwicklungsbank im Tschad, Militärführer sind auch in seinem aktuellen Kabinett prominent vertreten. Es wird mehrheitlich von Zivilisten geführt und könnte die ECOWAS spalten. Die imperialistischen Kräfte des Westens, insbesondere aber die Vereinigten Staaten mit ihren Bodentruppen in Niger, wollen weitere Putsche um jeden Preis verhindern. Unter französischer Führung hat Europa die politischen Grenzen des afrikanischen Kontinents kontinuierlich verschoben und zuletzt ein Projekt namens »G-5 Sahel« angezettelt. Angesichts der antifranzösischen Regierungen in drei dieser Staaten – Burkina Faso, Mali und Niger – und politischen Spannungen in zwei weiteren – Tschad und Mauretanien – wird Europa sich von der Küste zurückziehen müssen. Die Sanktionen werden zunehmen, die Möglichkeit eines Militäreinmarsches schwebt weiterhin wie ein ausgehungerter Geier über der Region.

Vijay Prashad ist Leiter des Tricontinal-Instituts Neu-Delhi

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