»Modi ist nicht plötzlich antiimperialistisch geworden«
Interview: Mahboob Hassan
In Indien herrscht seit nunmehr zehn Jahren die rechte Bharatiya Janata Party (BJP). Wie steht es um die Stärke der Partei?
Die Regierung der BJP kam erstmals 2014 an die Macht und wurde dann 2019 wiedergewählt. Beide Male eroberte die BJP ihre Mandate vor allem in den nördlichen Provinzen des Landes. In Südindien ist es ihr hingegen nicht gelungen, sich im politischen System vollends zu etablieren. Tatsächlich wurde die BJP vor wenigen Wochen im Bundesstaat Karnataka besiegt.
Warum spielt die BJP im Norden Indiens eine größere Rolle als im Süden?
Eine wichtige Antwort auf diese Frage ist, dass die südlichen Bundesstaaten eine viel stärkere soziale Renaissance erlebt haben als die nördlichen Bundesstaaten, da die Bewegung gegen die Brahmanen, die Angehörigen der obersten Kaste der indischen Gesellschaft, einen langfristigen Prozess der Emanzipation der unterdrückten Kasten eingeleitet hat und die rationalistischen Bewegungen den Säkularismus in den Vordergrund der öffentlichen Debatte gestellt haben. In Nordindien wird die Gesellschaft nach wie vor vom Elend der Kastenhierarchien und einer intoleranten Religionspolitik geprägt. Die BJP ist Teil eines großen Projekts der Hindurechten, das von der 1925 in Nagpur gegründeten Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) politisch ausgerichtet wird. Der RSS ist eine faschistische, von Mussolini und Hitler inspirierte Organisation, die für die Errichtung einer Hindunation – Rashtra – eintritt und seit den 1920er Jahren in ganz Indien, vor allem aber in Nordindien, Spaltungspolitik betreibt. Da keine wirksame Kampagne über die Kastenhierarchie hinweg und gegen die intolerante religiöse Politik aufgebaut werden konnte, blieb die soziale Landschaft in diesen großen Teilen Indiens ein ideales Terrain für die politische Propaganda von RSS und BJP. So konnte sich die BJP in Nordindien tief in der sozialen Ordnung verwurzeln und gerade dort schneidet sie bei Wahlen sehr gut ab. Die BJP bezieht ihre Macht aus diesem Teil des Landes, und es ist wahrscheinlich, dass sie diesen Vorsprung auch bei den Parlamentswahlen im kommenden Jahr nutzen können wird.
Die Politik des RSS basiert auf den Prinzipien der Hindutva, die vereinfacht als Hindunationalismus bezeichnet werden kann. Ist die Hindutva in Indien inzwischen in allen gesellschaftlichen Schichten salonfähig geworden?
Die Hindutva ist die politische Ideologie der neofaschistischen Kraft Indiens, hat eine hundertjährige Geschichte und konnte alte Vorurteile in sein Weltbild einbauen. Diese Ideologie hat während der Kolonialherrschaft die Stimmung in der Bevölkerung gegen den Imperialismus deformiert, indem man sich auf das falsche Feindbild einer »muslimischen Herrschaft« konzentrierte – ein Hirngespinst, denn so etwas wie eine »muslimische Herrschaft« gab es in Indien vor einem Jahrhundert nicht. Aber diese Haltung hatte Auswirkungen auf Teile der Öffentlichkeit, insbesondere nach der Teilung Britisch-Indiens in Indien und Pakistan, bei Million Tote und dreizehn Millionen Flüchtlinge auf beiden Seiten der Grenze zur Folge hatte. Diese und andere Ereignisse veranlassten die Rechten, eine antimuslimische Haltung einzunehmen, die Hindutva ausmacht. Diese neofaschistische Agenda wurde vom RSS vorangetrieben, der in den Vierteln der unteren Mittelschicht operierte, um sich eine Massenbasis zu verschaffen.
Der RSS fungierte als »Gehirn« der verschiedenen Hindutva-Massenorganisationen und ihrer politischen Fronten, zunächst des Bharatiya Jana Sangh und dann der BJP. Keine dieser Kräfte hatte bis in die 1980er Jahre Einfluss auf das politische Leben Indiens, was vor allem auf die antikoloniale Bewegung zurückzuführen war, die diesen toxischen Ansichten keinen Raum bot. Als sich die sozialdemokratische Kongresspartei jedoch der neoliberalen Politik und dem US-Imperialismus unterwarf, war der Weg für die BJP frei, als »Partei des Volkes« aufzutreten und gegen die »Korruption« des Kongresses vorzugehen, so dass sie die neoliberale Ausrichtung vertiefen und gleichzeitig die Probleme des Neoliberalismus auf die »Korruption« der Kongresspartei schieben konnte. Diese politische Haltung und die punktuelle Gewalt gegen Muslime durch die »Sturmtruppen« der Hindutva haben sicherlich Auswirkungen auf die indische Kultur gehabt.
Wie bewerten Sie die ökonomische Entwicklung des Landes nach der Pandemie und angesichts der Tatsache, dass Indien China inzwischen als bevölkerungsreichstes Land abgelöst hat?
Indiens Wirtschaftswachstum lag 2022 bei 9,1 Prozent, was größtenteils auf die Erholung gegenüber einem Einbruch um 5,8 Prozent im Jahr 2021 zurückzuführen ist, damit aber deutlich über dem Durchschnitt von 6,2 Prozent der Jahre 2006 bis 2022 liegt. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ist auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen, aber eben nicht auf die Verbesserung des Lebensstandards der indischen Arbeiter und Bauern. Im Gegenteil: Der Lebensstandard ist rapide gesunken. Um das hohe BIP und die Gewinne der großen indischen Konzerne aufrechtzuerhalten, versuchte die Regierung, die Märkte für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu privatisieren und den Arbeitstag in der Industrie auf zwölf Stunden zu verlängern.
Beide Maßnahmen lösten erhebliche Proteste aus, erstens einen historischen Bauernaufstand und zweitens Arbeitskämpfe und gewerkschaftliche Proteste. Die Bundesregierung musste die Gesetze zur Privatisierung der Landwirtschaft zurückziehen, und einige Landesregierungen haben die Verabschiedung der Gesetze zur Verlängerung des Arbeitstags gestoppt. Der Klassenkampf in Indien ist lebendig, aber er hat sich nicht in Wahlerfolge ummünzen lassen. Das liegt vor allem an zwei Faktoren: erstens, dass die demokratischen Institutionen Indiens im Geld der Elite ertrinken, die Wahlen kauft, und zweitens, dass die Hindurechte die kulturellen und sozialen Hierarchien erfolgreich genutzt hat, um sich einen Vorsprung gegenüber denjenigen zu verschaffen, die die soziale Einheit über die soziale Spaltung stellen wollen.
Inwieweit verdankt sich der Machterhalt von Premierminister Narendra Modi dem indischen Monopolkapital?
Modi ist seit 2014 im Amt. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die soziale Ungleichheit in Indien dramatisch vergrößert, nicht nur aufgrund der Pandemie und des Krieges in der Ukraine, sondern auch wegen der politischen Entscheidungen, die diese Regierung getroffen hat, um den Kapitalismus zu steuern. Die erwähnten Gesetze zur Verlängerung des Arbeitstags und zur Privatisierung der Agrarmärkte zeigen ja die enge Verbindung zwischen Modis Regierung und der indischen Großbourgeoisie. So wie die Welt eine wachsende Konzentration des Reichtums in wenigen Händen erlebt, gibt es auch in Indien – einem Land mit 1,4 Milliarden Menschen – einige wenige – Adani, Ambani – die die Wirtschaft kontrollieren. Sie besitzen entweder ganze Geschäftszweige wie die Telekommunikation und die Häfen oder dominieren zumindest ganze Branchen wie Bergbau und Energie. Als beispielsweise die indische Flughafenbehörde eine Auktion für den Betrieb von sechs ihrer großen Flughäfen eröffnete, erhielt die Adani-Gruppe den Zuschlag für alle diese Flughäfen. Kein anderes Angebot wurde in Betracht gezogen. Die Begünstigung dieser Monopole hat Aufsehen erregt, aber jede ernsthafte journalistische Befassung wurde von Adanis Anwälten und von der indischen Regierung angegriffen.

Besorgniserregend ist nicht nur die schlichte Tatsache der Monopolisierung, sondern auch der Umstand, dass diese Unternehmen einen großen Teil der indischen Kapitalbildung absorbieren und für die Rendite und nicht für produktive Zwecke einsetzen. Das hat zu einer Belastung für die indische Wirtschaft geführt, und die Regierung scheint nicht gewillt zu sein, an dieser Situation etwas zu ändern.
Wie ist es angesichts dieser Lage um die derzeitige Organisationsmacht der linken bzw. kommunistischen Kräfte in Indien bestellt?
Die Linke in einem Land kann nur verstanden werden, wenn man die für ein linkes Projekt wichtigsten Klassen betrachtet. In Indien bedeutet dies, dass wir die Situation der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und auch verbündeter Schichten beurteilen und zudem bestimmte soziale Kräfte wie die Studentenbewegung, die Frauenbewegung und die Bewegungen für die Rechte der unterdrückten ethnischen Gemeinschaften in den Blick nehmen müssen. Die Arbeiterklasse ist von der arbeiterfeindlichen Gesetzgebung und dem Zusammenbruch des fordistischen Fabriksystems schwer getroffen worden. Die Entflechtung der industriellen Produktion hat prekäre Arbeitsverhältnisse geschaffen, vor allem im informellen Sektor, was eine gewerkschaftliche Organisierung sehr schwierig macht. Die Bauernschaft ist mit dem Eindringen des Privatkapitals in den ländlichen Raum konfrontiert und leidet sowohl unter den Auswirkungen des Klimawandels als auch unter der Kommodifizierung großer Teile der ländlichen Finanzen und Märkte.
Die organisatorische Schwäche der Arbeiterklasse und der Bauernschaft – des Reservoirs der Linken – stellt jede linke Kraft vor große Herausforderungen. Davon einmal abgesehen hat der Versuch, das Bildungswesen zu privatisieren, die Studentenbewegung wiederbelebt, die von der Regierung wegen ihrer Radikalität angegriffen wurde, bis hin zur Verhaftung von Studentenführern, die als »antinational« geschmäht wurden. Die Linke hat versucht, mit dieser Situation umzugehen, indem sie informell Beschäftigte – insbesondere Pflegekräfte – organisierte und eine Agenda entwickelte, um die von der Regierungspartei entfremdeten Gruppen zu vereinen. Eine subjektivistische Haltung gegenüber der Linken verbietet sich dabei, da wir die materiellen Probleme verstehen müssen, die das neoliberale Kapital mit seiner Fragmentierung der Arbeiterklasse und seinem Erfolg bei der Vergrößerung des Prekariats gegenüber dem Proletariat aufwirft. Derweil konzentriert sich die Linke auf das Projekt der Verteidigung der Verfassung, die unmittelbar nach dem Sieg über den britischen Imperialismus geschrieben wurde und viele progressive Elemente enthält. Diese breite Front zur Verteidigung der Verfassung und zur Förderung des Föderalismus gegenüber der Zentralisierung in einem so großen Land hat einige Erfolge erzielt.
Kommen wir zur Außenpolitik. Herrscht in Neu-Delhi Sorge darüber, ob Indien im anhaltenden Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und dem russisch-chinesischen Bündnis zwischen die Fronten geraten könnte?
Es gibt eine interessante Entwicklung im globalen Süden, nämlich das Aufkommen eines neuen Gefühls für »nationale Interessen« anstelle der Unterordnung unter die westlichen Kriegerstaaten. So unterschiedliche Länder wie Indien, Brasilien und Saudi-Arabien haben erklärt, dass sie der von den USA verfolgten Linie in der Russland-China-Frage nicht folgen wollen, weil sie die Interessen der USA nicht pauschal als ihre nationalen Interessen übernehmen wollen. Sie haben ihre eigenen Bedürfnisse, wie z. B. die Notwendigkeit, billigere Energieträger aus Russland zu beziehen und chinesische Investitionen und Technologie anzulocken. Ein Abbruch der Handelsbeziehungen mit Russland und China würde sich negativ für Indien auswirken. Daher ist die indische Regierung derzeit nicht bereit, die Beziehungen zu Russland zu kappen, trotz des Drucks, den die westlichen Staaten ausüben. Die Motivation hierfür ist die Wahrung der nationalen Interessen Indiens, weshalb das Land dem Druck bisher widerstanden hat.
Wo steht Indien im gegenwärtigen Kampf um eine multipolare Welt, ist das Land bewusst handelndes Subjekt oder eher interessierter Zuschauer, eher wohlwollender Kombattant oder stiller ökonomischer Profiteur?
Die indische Bourgeoisie hat ihre eigenen bornierten Interessen, die die Politik der indischen Regierung prägen, sie aber nicht vollständig bestimmen. Bräche Indien beispielsweise mit Russland, stiegen die Energiepreise, und die einfachen Inder wären zutiefst verzweifelt, was sich in Protesten und Gewalt entladen könnte. Die Regierung möchte solche Entwicklungen auf keinen Fall zulassen und hält daher an der Notwendigkeit von Energieimporten aus Russland fest. Ich würde das als »Blockfreiheit von oben« bezeichnen. Es ist sicherlich keine Blockfreiheit, die durch den antiimperialistischen Kampf der Massen ermöglicht wurde. Die Regierung Modi ist nicht plötzlich antiimperialistisch geworden. Sie ist eine nationalistische Regierung, die das nationale Interesse von der Unterwerfung unter den US-Imperialismus beeinträchtigt sieht. Von diesem Standpunkt aus hat sich Indien Bündnissen wie BRICS angeschlossen, die sich für einen Multilateralismus einsetzen, um internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen und internationale Gesetze zu stärken.
Der globale Süden agiert allerdings nicht geeint. Ein wirksames imperiales Herrschaftsinstrument ist die Zwietracht: Immer wieder werden Länder der sogenannten Peripherie erfolgreich gegeneinander in Stellung gebracht.
Es sieht so aus, als ob die »Lokomotiven« des globalen Südens – die BRICS-Staaten – sehr geduldig miteinander umgehen und nicht zulassen, dass Unterschiede zu Brüchen führen. Indien und China befinden sich zum Beispiel in einem ernsten Grenzstreit, der zu Konflikten und zum Tod von Soldaten auf beiden Seiten geführt hat. Nichtsdestotrotz halten Delhi und Beijing im Rahmen der BRICS ihre Beziehungen aufrecht, und die jeweiligen Staatsführungen kommunizieren weiterhin über bilaterale und andere multilaterale Plattformen.
Der Internationale Strafgerichtshof hat einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin ausgestellt. Gleichwohl wird der russische Präsident voraussichtlich im Sommer zum BRICS-Treffen nach Südafrika reisen. Die Südafrikaner haben erklärt, dass sie ihn nicht verhaften oder an den IStGH (Internationaler Strafgerichtshof, jW) ausliefern würden, und hochrangige südafrikanische Beamte haben sogar angedeutet, dass sie aus dem IStGH austreten könnten. Diese Beispiele zeigen, dass es in diesen Ländern eine Nüchternheit gibt, die nicht von einer reflexartigen Haltung getrieben ist, sondern die Entwicklungen in der Welt ernst nimmt. Die westlichen Kriegerstaaten haben versucht, eine antagonistische Dynamik zu erzeugen, indem sie die Länder des globalen Südens aufgefordert haben, mit Russland zu brechen oder militärische Bündnisse gegen China zu stiften. Der Westen muss lernen zu kooperieren und die Philosophie der Konfrontation aufgeben. Der Planet ist mit zu vielen Bedrohungen konfrontiert – Klimawandel, soziale Ungleichheit –, als dass diese konfrontative Haltung in den kommenden Jahrzehnten fortgesetzt werden könnte.
Vijay Prashad ist Historiker und Journalist. Er leitet das Tricontinental Institute for Social Research mit Sitz in Neu-Delhi. 2021 nahm er an der von junge Welt veranstalteten XXVII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin teil.
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Übersetzung aus dem Englischen: Ina Batzke
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