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Aus: Ausgabe vom 27.05.2023, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Not, Hass und Aufruhr

Geniestreich aus dem Nachlass: Janos Szekelys Roman »Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann«
Von Erich Hackl
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Dinghafte, dabei bilderreiche Sprache: Janos Szekely (Nachlassfoto)

Ach, warum bin ich erst jetzt auf das Werk des ungarischen Schriftstellers Janos Szekely aufmerksam geworden! An Gelegenheiten hätte es nicht gefehlt, schließlich ist sein tausendseitiger Entwicklungsroman »Verlockung«, der mit der Erzählkunst und dem revolutionären Elan eines Émile Zola oder Maxim Gorki verglichen wurde, schon 1959 bei Volk und Welt auf deutsch erschienen und liegt nach mehreren, von der Kritik durchaus akklamierten Ausgaben in westdeutschen Verlagen seit sieben Jahren bei Diogenes vor. In detailscharfen, dabei ungemein fesselnden Episoden aus dem Leben eines bettelarmen Dorfjungen, der sich aufmacht, sein Glück in Budapest zu versuchen, weitet sich der Roman zu einem Panorama der ungarischen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg und bezeugt dabei, dass Menschen wie diesem Bela, also den unterjochten, dem Elend überantworteten, von Klassenhass verfolgten, nur zwei Möglichkeiten offenstehen: »Entweder Revolutionär oder Schurke zu werden. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.«

Anders als sein Ich-Erzähler, der Ungarn zur Zeit des Briand-Kellogg-Pakts zur Ächtung des Krieges, also 1928, als blinder Passagier eines Donaudampfers verließ, war Szekely schon nach der Niederlage der Räterepublik, während des Weißen Terrors gegen Kommunisten, Sozialisten und Juden, als Achtzehnjähriger nach Berlin geflüchtet. Dort und in Hollywood avancierte er zu einem erfolgreichen Drehbuchautor, ehe er 1935 nach Budapest zurückkehrte, wo er »Verlockung« konzipierte und drei Theaterstücke verfasste. Eines davon, »Schauspielschule«, wurde am 8. März 1938, vier Tage vor dem Einmarsch deutscher Truppen, in Wien uraufgeführt. Im Monat darauf kehrte Szekely in die USA zurück und heiratete die Schauspielerin Erzsi Barsony. Der Erfolg blieb ihm treu; für das Originalbuch zu »Arise, My Love« erhielt er 1940 einen Oscar, für seine tragikomische Parabel über einen böhmischen Gepäckträger während der deutschen Besatzung, »Der arme Swoboda«, im Jahr darauf begeisterte Kritiken. Auch »Verlockung« wurde in den USA als Meisterwerk gerühmt und 1949, drei Jahre nach dem Erscheinen der englischen Übersetzung in Ungarn veröffentlicht. Vom Komitee für unamerikanische Umtriebe verfolgt, ließ sich Szekely mit Frau und Kind in Cuernavaca, Mexiko, nieder, ehe er das Angebot der Defa annahm, in die DDR zu übersiedeln. Dort starb er, erst 57 Jahre alt, im Dezember 1958. Seine Tochter Kati machte als Schauspielerin Karriere, studierte dann Psychologie und übersiedelte nach dem Ende der DDR in die Schweiz, wo sie heute noch als Psychotherapeutin tätig ist.

Dem Zufallsfund auf dem Dachboden eines alten Freundes der Familie in den USA ist es zu verdanken, dass der Diogenes-Verlag nunmehr Szekelys dritten, verschollen geglaubten Roman vorlegen kann: »Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann«. Schauplatz des Geschehens ist das fiktive Dorf Kakasd im glühend heißen Sommer 1944, in dem die Pfeilkreuzler wüten und Eichmanns Sondereinsatzkommando die Massendeportationen ungarischer Juden organisiert, während die Rote Armee bereits an der Grenze steht. Allein schon seine Entscheidung, die Geschichte des Landes anhand des Schicksals zweier Roma – des »Zigeunerprimas’« Marci Balogh und der jungen, sinnenfrohen Wahrsagerin Julka – zu schildern, erhebt Szekely über das Gros seiner schreibenden Zeitgenossen. Der dritte Held des Romans ist der wortkarge, durch die Liebe zu Julka und durch Julkas Liebe zu ihm von Passivität und Misstrauen erlöste Kleinbauer Janos Garas, der wie alle anderen gezwungen ist, für den ortsansässigen Grafen Fronarbeit zu verrichten, der vierte ein Aufrührer namens Dani Kurucz, ein Phantom, das jedermann gesehen haben will und an dessen behauptete Existenz sich die Unterdrückten klammern, weil sie ihnen Abhilfe verspricht für das Unrecht, das ihnen und ihren Vorfahren seit je angetan wird von den Adeligen, die ihrerseits ahnen, dass es mit ihnen zu Ende geht, die aber immer noch auf die neuen Herren bauen können, die Kapitalisten, die Faschisten, die hausgemachten wie die deutschen und deren Büttel, die Gendarmen. »In den letzten hundert Jahren hatten die Bauern keine feindlichen Soldaten – die deutschen ausgenommen – so inständig gehasst wie die Gendarmen, die ihre eigenen Landsleute waren.«

Schier unglaublich mutet auch Szekelys Fähigkeit an, neben den schon erwähnten Dutzende andere Personen (das Figurenverzeichnis im Anhang listet mehr als sechzig auf) in allen ihren Facetten, von außen wie von innen heraus – und dazu noch mit viel Witz und Ironie – darzustellen. Sie sind unverwechselbar als Individuen und erscheinen zugleich in ihrer List, Einfalt oder Verderbtheit als typische Vertreter der jeweiligen Klasse oder Gemeinschaft. Szekelys Vermögen, sie in ihrem Wesen zu erfassen, erweist sich sogar an einer besonders grausamen Gestalt, dem stellvertretenden Minister Lorant Barankay, dessen frommer, friedfertiger Vater einst von Lorants jetzigen Spießgesellen ermordet worden war.

Das Geschehen gipfelt in einem Streik, mit dem sich die Leute im Dorf gegen den Hungerlohn des Grundherrn wehren, obwohl ihnen klar ist, dass er in einem Blutbad enden wird. Dem Autor geht es nicht nur darum, die Ausweglosigkeit und fehlgeleitete Wut der Notleidenden zu zeigen, die sich gegen ihre vermeintlichen Konkurrenten – »Drecksjuden!«, »Drecksbauern!«, »Dreckszigeuner!« – richtet; ebenso wichtig ist es ihm, anhand der Vorgeschichte des Streiks zu erzählen, wie schwer es den Bauern fällt, einander zu vertrauen. Den größten Nutzen aus den Debatten um Kämpfen oder Nachgeben zieht die Romni Julka, deren Wissen – wie Szekely sarkastisch schreibt – »in diesem mörderischen Sommer im gleichen Maße anschwoll wie die Zahl der Toten in den zerbombten Städten und die Nummernkonten der Königlich-Ungarischen Kriegsgewinnler bei den Auslandsbanken«.

In einem fast höhnischen Epilog verkehrt Szekely das tragische Ende des Romans ins Positive, mit dem unerwarteten Überleben seiner Protagonisten. Wer weiß, ob dieser märchenhafte Schluss nicht auch dem Bedürfnis des Autors geschuldet war, in der Schilderung ihrer Niederlage den Funken der Hoffnung anzufachen.

Ulrich Blumenbach hat die dinghafte, dabei bilderreiche Sprache des Autors im Deutschen bewahrt. Zu bedauern ist lediglich, dass es sich wegen des fehlenden Originalmanuskripts um die Übersetzung einer Übersetzung handelt, und zwar in ein schroffes Deutsch, das dem Ungarischen mit seiner Wiener Einfärbung – das Ita Szent-Ivanyi in »Verlockung« vorbildlich getroffen hatte – nicht immer angemessen ist. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass Szekely über Neogermanismen wie »kirremachen«, »überklicken« oder »herumgammeln« glücklich gewesen wäre. Drei lesenswerte Nachworte – von dem Schweizer Journalisten Sacha Batthyani, von Szekelys Tochter und von der beherzten Herausgeberin Silvia Zanovello – stillen das Verlangen des Lesers, mehr über das bewegte Leben des genialen Autors, das Auffinden seines Romans und die langwierige, letztlich erfolglose Suche nach dem ungarischen Original zu erfahren.

Janos Szekely: Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann. Hg. von Silvia Zanovello. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Diogenes-Verlag, Zürich 2023, 698 Seiten, 28 Euro

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