Radikale Denkerin
Von Anja Flach
Die Ökofeministin und aktivistische Schriftstellerin Maria Mies ist am 16. Mai im Alter von 92 Jahren gestorben. Ihre Analysen sind weltweit die Basis revolutionärer feministischer Theorie und Praxis, unter anderem auch in der kurdischen Bewegung. Mies wuchs in der Vulkaneifel in dem kleinen Ort Auel in einer Bauernfamilie mit zwölf Kindern auf. Das einfache ländliche Leben prägte sie nachhaltig.
Fünf Jahre lang lebte und arbeitete Maria Mies in Indien, hier wurde sie zur Ökofeministin. 1968 kam sie zurück und erkannte schnell, dass erstarkte linke Organisationen die Geschlechterfrage als zweitrangig behandelten und der Staat die systematische Gewalt gegen Frauen leugnete. Mies studierte Sozialwissenschaften und veröffentlichte 1980 »Indian Women and Patriarchy«. Im Spiegel der indischen Gesellschaft erkannte sie das Patriarchat in der eigenen Gesellschaft. Sie wurde Mitbegründerin der zweiten Frauenbewegung in Deutschland, die die Geschichte feministisch interpretierte. »Wenn wir nicht wissen, wie die Dinge zu dem wurden, was sie sind, können wir nicht wissen, wie wir sie verändern sollen«, schrieb Mies in »Patriarchat und Kapital«.
Gemeinsam mit ihren Studierenden erforschte sie empirisch Gewalt an Frauen in Köln und eröffnete mit ihnen das erste autonome Frauenhaus. Wissenschaft müsse parteiisch sein, und man müsse die Situation verändern, um sie zu verstehen. Ausgangspunkt ihrer Analysen ist, dass die feministische Bewegung sich nicht getrennt von der Klassenfrage, der ausbeuterischen internationalen Arbeitsteilung und dem Imperialismus verstehen darf. Daher müsse das gesamte kapitalistische Patriarchat als lebensfeindliches System bekämpft werden.
Die Subsistenzperspektive
Mies fand heraus, dass Subsistenzproduktion von Frauen, in der Landwirtschaft tätigen und anderen Menschen nicht vorkapitalistisch ist, sondern im informellen Sektor sehr wohl zur Kapitalakkumulation beiträgt. Damit greift sie Rosa Luxemburg auf, die schon 1913 nachgewiesen hatte, dass zur »erweiterten Akkumulation des Kapitals« die Ausbeutung des klassischen Proletariers nicht ausreiche, sondern zusätzlich immer weiter nichtkapitalistische Milieus ausgebeutet werden müssten. Das Mann-Frau-Verhältnis sei ein koloniales, genau wie das Verhältnis zwischen Kleinbauern »und das zwischen Metropole und Kolonie sowieso«, erklärte Mies in einem Vortrag über die Subsistenzperspektive.
Sie sah es als schwerwiegenden Fehler der Frauenbewegung an, Gleichstellung zu fordern. »In einem ausbeuterischen kolonialen System kann Gleichstellung nur der Aufstieg zu den Siegern heißen, die zu den Profiteuren des Systems gehören. Gleichstellung bedeutet ja nicht die Gleichheit mit armen Subsistenzbauern. Subsistenz als Perspektive bedeutet die Abschaffung all dieser kolonialen Verhältnisse«, schrieb sie in ihrer Biographie »Das Dorf und die Welt«. Sie forderte eine radikale Umkehr zu einer lokal orientierten Wirtschaftsweise. Dabei nahm Mies heutige Diskurse wie »Degrowth« vorweg und rief dazu auf, in radikal verkleinertem Maßstab zu wirtschaften. Sie verstand die Subsistenzperspektive nicht als ein Zurück in vorindustrielle Zeiten, sondern als die Wiederherstellung einer Ökonomie, die Bedürfnisbefriedigung, das Wohlergehen der Natur und aller Menschen zum Ziel hat und nicht den Profit. Sie führte den Begriff des »guten Lebens« ein.
Abdullah Öcalan konnte in den ersten Jahren seiner Inhaftierung ab 1999 mindestens zwei Bücher von Maria Mies lesen: »Patriarchat und Kapital« und »Frauen, die letzte Kolonie«. Sie war eine der wenigen ökofeministischen Schreibenden, die damals ins Türkische übersetzt wurden. Dies war auch die Zeit, in der Öcalan die Grundlagentheorie des Demokratischen Konföderalismus herausarbeitete. So übernahm er auch den Begriff »Hausfrauisierung« von Mies. Hiermit ist die Externalisierung oder Exterritorialisierung von Kosten gemeint, die sonst vom Kapital getragen werden müssten. Das bedeutet, dass die Arbeitskraft der Frau als natürliche Ressource betrachtet wird, frei verfügbar wie Luft und Wasser.
Sowohl Mies als auch Öcalan fragen, welche Art von Gesellschaft vor dem Patriarchat existierte und wie die ersten Formen der andro- und anthropozentrischen Herrschaft entstanden sind. Sie richteten ihren Blick auf das Neolithikum und die landwirtschaftliche Revolution, die zwischen 6.000 und 4.000 vor unserer Zeitrechnung in Mesopotamien stattfand.
Jineoloji mögliche Antwort
Diese Perspektive brachte Mies in »Patriarchat und Kapital« dazu, die Geschichte nicht mehr als eine evolutionäre Abfolge fortschreitender Stadien und den Kapitalismus nicht mehr als das Ergebnis der Dialektik zwischen Produktivkräften und Produktionsmitteln zu sehen. Vielmehr erscheint der Kapitalismus als moderner Ausdruck dessen, was Mies einen »räuberischen Aneignungsmodus« nennt, der ursprünglich durch »das männliche Monopol über die Zwangsmittel«, die Kontrolle über die Körper der Frauen und ihre produktiven Fähigkeiten entstanden ist. Diese Sichtweise ist auch bei Öcalan zu finden. Er arbeitete zunehmend die untrennbare Verbindung zwischen der Geschlechterbefreiung und der ökologischen Revolution heraus und konnte mit dem Konzept des Kommunalismus Millionen von Menschen ermächtigen, die sich weigern, ihr Leben vom Staat kontrollieren zu lassen.
Die Gemeinschaft der Frauen Kurdistans (KJK) erklärte zum Tod von Mies, dass die kurdische Frauenbewegung mit Beginn des Jahres 2000 einen Dialog mit ihr aufgenommen hatte, um sie auf die kurdische Frauenrevolution aufmerksam zu machen. »Sie sah die kurdische Frauenrevolution in Rojava als eine neue Hoffnungsquelle in einer Zeit, in der sie immer mehr eine kritische Haltung zu den Frauenorganisierungen in Deutschland und Europa entwickelt hatte. Mit Freude können wir sagen, dass Maria Mies noch in der Zeit ihrer Gesundheit eine Frauenrevolution des 21. Jahrhunderts in Kurdistan erleben konnte. Sie ist auch dank solcher großartigen Frauen wie Maria Mies entstanden«, heißt es in der Erklärung der KJK.
Die Jineoloji, übersetzt »Wissenschaft der Frau«, die auf einen Vorschlag Öcalans zurückgeht, ist zu einem zentralen Bestandteil der Revolution von Rojava geworden. Sie stellt die Untersuchung von Gesellschaft, Geschichte, Religion, Epistemologie und vielen anderen Bereichen aus Frauenperspektive in den Mittelpunkt. Dabei wird sich nicht auf akademische Bildung beschränkt, sondern es werden Zentren aufgebaut, Seminare durchgeführt und auf allen Ebenen aktiv am Empowerment von Frauen gearbeitet. In diesem Sinne ist es eine mögliche Antwort auf Mies’ Forderung nach einem anderen Wissenschaftsparadigma. Die Jineoloji-Akademie schrieb in einer Erinnerung: »Als wir Maria Mies 2014 anlässlich der Jineoloji-Konferenz trafen, sagte sie, sie sei ›sehr bewegt und stolz zu sehen, dass es Frauen gibt, die die Hoffnung, die sie in ihrer Jugend mit der gleichen Illusion genährt hat, am Leben erhalten und dass diese Frauen den Kampf für die Freiheit multiplizieren und stärken‹. Sie begrüßte den Aufbau des Frauendorfes Jinwar in Rojava.«
Das ökologische Frauendorf ist wahrscheinlich das Paradigma für die Verbindung zwischen ökofeministischer Theorie und Praxis innerhalb der Jineoloji. In Jinwar organisieren Frauen und Kinder ihre Selbstversorgung, indem sie Agrarökologie praktizieren, die Gesundheitsversorgung durch traditionelle Medizin fördern, erneuerbare Ressourcen nutzen und Bildungsprozesse organisieren, die auf den Prinzipien und Werten der Jineoloji basieren.
Es wäre wünschenswert, dass sich die feministischen und ökologischen Bewegungen in Deutschland mehr mit dem Werk von Maria Mies befassen. In einem Interview in der kurdischen Frauenzeitschrift Neweya Jin 2017 kritisierte Mies die mangelnde Organisierung und die Zersplitterung der Bewegungen in Deutschland. Ihre internationalistische Perspektive, ihr Postulat der Zurückweisung von dualistischem Denken, ihre radikale Kritik am »Mittelklassefeminismus« zeigen uns auf, wie wir auch hier im Zentrum des kapitalistischen Patriarchats einen Ausweg finden und uns mit den weltweiten revolutionären Alternativen verbinden können.
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