Alles zuzutrauen
Von Kristian Stemmler
Man sei jetzt »stärker als je zuvor«: Die Klimaschutzaktionsgruppe »Letzte Generation« hat nach der bundesweiten Razzia vom Vortag am Donnerstag betont optimistische Töne angeschlagen. Die Gruppe berichtete in einer Mitteilung von zahlreichen neuen Spenden. »Wir merken, dass ganz, ganz viel Unterstützung gerade kommt«, sagte einer ihrer Sprecher am Donnerstag im ARD-»Morgenmagazin«. Die von der Generalstaatsanwaltschaft München vermutlich nicht zuletzt – wie hier und da spekuliert wird – mit Blick auf die bevorstehende Landtagswahl in Bayern veranlassten Durchsuchungen am Mittwoch in sieben Bundesländern lösten eine Welle der Solidarität für die Klimaaktivisten aus – auch bei Linken, die diese Gruppe bislang eher kritisch beobachtet hatten. In vielen Städten gab es am Mittwoch abend spontane kleinere Protestdemonstrationen gegen die Maßnahmen der Behörden, so in Berlin und München.
Unter Verweis auf den Paragrafen 129 des Strafgesetzbuches (»Bildung einer kriminellen Vereinigung«) waren die Sicherheitsbehörden am Mittwoch morgen gegen die Klimaschutzgruppe vorgegangen. Rund 170 Beamte durchsuchten 15 Wohnungen und Geschäftsräume in sieben Bundesländern. Besucher der alten Webdomain der Gruppe werden seither umgeleitet auf einen Warnhinweis des bayerischen Landeskriminalamtes. Mehrere Spendenkonten wurden eingefroren.
Für den Vorstandsvorsitzenden des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV), den Berliner Anwalt Peer Stolle, handelt es sich bei den Maßnahmen um »politisches Strafrecht in Reinform«, wie er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte. »Mit dem harten Instrumentarium des Strafrechts« wolle der Staat gegen eine politisch unliebsame Gruppe vorgehen. Jeder, der Kontakt zur »Letzten Generation« hatte oder sich positiv über sie geäußert habe, könne »ins Fadenkreuz der Ermittler geraten«, so Stolle. Der Berliner Protestforscher Saldivia Gonzatti kritisierte die Razzien ebenfalls als »überzogene Entscheidung«. Sie führten dazu, »dass die gesamte Bewegung kriminalisiert wird«, sagte er am Mittwoch in der ARD.
Solidarisch mit der Gegenseite zeigte sich nicht nur die Polizeilobby. Auch der Vorsitzende der größten Oppositionsfraktion im Bundestag, CDU-Chef Friedrich Merz, begrüßte die Maßnahmen vom Mittwoch. Ein Treffen mit der »Letzten Generation«, wie es zuletzt zwischen Aktivisten und Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) erfolgt war, lehnte er ab. »Das sind Straftäter und keine Gesprächspartner«, griff Merz im Sender N-TV im Stil der Münchner Staatsanwaltschaft noch ausstehenden Anklagen, Gerichtsverfahren und rechtskräftigen Urteilen vor. Auch Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger, der mit den Freien Wählern im Herbst auf Stimmenfang geht und von der CSU nicht in den Schatten gestellt werden will, prügelte auf die Gruppierung ein. Die »Letzte Generation« mache »auf alle Fälle« mit »zunehmend kriminellen Aktivitäten« auf sich aufmerksam, sagte Aiwanger am Donnerstag dem Radiosender Antenne Bayern. Bei Sprüchen wie »Pipelines in die Luft sprengen«, die er der Gruppe, die er »teilweise menschenfeindlich« nannte, zuordnete, müsse man »aufpassen«, welches »geistige Sammelsurium sich dort findet«. Denn, so Aiwanger: »Wer sich selbst auf die Straße klebt, wer anderen Autos und Schaufenster beschmiert, dem ist alles zuzutrauen.«
Anders als die Generalstaatsanwaltschaft in München sehen die Kollegen in Berlin derzeit keinen Anfangsverdacht für eine kriminelle Vereinigung. Das hielt die vom Inlandsgeheimdienst in die Landesregierung gewechselte neue Justizsenatorin Felor Badenberg (parteilos) nicht davon ab, ihrem Haus aufzutragen, die Gruppe zu überprüfen. Am Mittwoch abend in den ARD-»Tagesthemen« nach ihrer Einschätzung befragt, betonte die überfordert wirkende Senatorin wiederholt, dass es »auf den konkreten Einzelfall« ankomme, welchen Teil der Gruppe »man in Betracht zieht«. Auf die Frage, welche Optionen der Gruppe im Ernstfall bleiben, wo sie doch ihren Protest keineswegs einstellen wolle, sagte die frühere Vizepräsidentin des Bundesamtes für Verfassungsschutz, es sei der Gruppe überlassen, ob sie gegebenenfalls im Untergrund aktiv bleibe.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (25. Mai 2023 um 22:21 Uhr)Nicht nur Habeck ist genial, Frau Badenberg zieht gleich. Sie versteht, wie man durch Ankleben am Untergrund im Untergrund aktiv bleiben kann. Das ist fast schon GUT (Grand Unified Theory). Der nächst Filosofi-Nobelbreis ist ihrer.
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