Biss in sauren Apfel
Von Nick Brauns
In der Türkei sind die Wähler am Sonntag zur Stichwahl gerufen, sich zwischen dem amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu zu entscheiden. Um den Vorsprung des von einem islamistisch-faschistischen Bündnis getragenen Erdogan einzuholen, der in der ersten Runde auf 49,5 Prozent gegenüber 45 Prozent für Kilicdaroglu kam, hat sich der Vorsitzende der kemalistischen CHP die Schützenhilfe einer faschistischen Splitterpartei gesichert. Doch durch politische Zugeständnisse an die bei den Parlamentswahlen am 14. Mai auf rund zwei Prozent der Stimmen gekommene flüchtlings- und kurdenfeindliche »Siegespartei« (Zafer Partisi) riskiert der Oppositionskandidat nun, die für einen Durchmarsch unverzichtbaren Stimmen der Kurden wieder zu verlieren. In der ersten Runde hatte der kemalistische Kandidat gerade in Hochburgen der kurdischen Bewegung wie in Diyarbakir seine besten Ergebnisse eingefahren.
In einem gemeinsamen Protokoll haben sich Kilicdaroglu und der Vorsitzende der »Siegespartei«, Ümit Özdag, am Mittwoch auf die Abschiebung »aller Flüchtlinge und Illegalen« innerhalb eines Jahres geeinigt. Faktisch kündigt Kilicdaroglu damit im Falle seiner Wahl den Ausstieg aus dem 2016 auf Druck der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) abgeschlossenen Flüchtlingsabkommens mit der EU an. In diesem hat sich die Türkei verpflichtet, gegen Geldzahlungen der EU die Weiterreise von Migranten nach Europa zu verhindern und syrische Flüchtlinge bei sich zu versorgen. Der 28. Mai werde zum Referendum darüber, ob 13 Millionen Flüchtlinge gehen müssten, twitterte Özdag am Donnerstag. Nach Angaben der Vereinten Nationen liegt die Zahl der in die Türkei Geflüchteten bei rund vier Millionen, mehrheitlich aus Syrien.
Özdag setzte sich zudem mit der Forderung durch, an der Praxis staatlicher Treuhänderschaft über Städten festzuhalten, deren Bürgermeister unter Terrorvorwürfen ihres Amtes enthoben wurden. Allerdings soll die Einsetzung eines Zwangsverwalters anders als bislang erst nach Verurteilung eines Bürgermeisters und nicht schon während der Ermittlungen erfolgen. Fast alle der 2019 bei den Kommunalwahlen von der linken HDP gewonnenen 65 Städte in den kurdischen Landesteilen sind seitdem unter Zwangsverwaltung gestellt worden. Kilicdaroglu hatte der HDP im März im Gegenzug für deren Verzicht auf einen eigenen Präsidentschaftskandidaten ausdrücklich die Abkehr von dieser Praxis zugesagt.
Entsprechend scharf kritisierten die HDP und die Grüne Linkspartei (YSP), unter deren Dach die von einem Verbot bedrohte Partei zur Parlamentswahl angetreten war, am Mittwoch abend eine Beibehaltung dieser »Putschpolitik« als Bruch mit demokratischen Prinzipien. Nach einer Beratung beschlossen die beiden Parteien, dennoch in den sauren Apfel zu beißen und weiterhin zu einer taktischen Stimmabgabe für Kilicdaroglu aufzurufen. Einen Boykott der Stichwahl werde es nicht geben, verkündeten die Vorsitzenden am Donnerstag auf einer Pressekonferenz in Ankara. »Wir werden in der zweiten Runde der Wahlen gemeinsam an die Urnen gehen und das Ein-Mann-Regime ändern«, sagte die HDP-Kovorsitzende Pervin Buldan, der »Sturz des Erdogan-Regimes« sei alternativlos. Eine Instrumentalisierung von Flüchtlingen für politische Interessen nannte sie falsch und unmenschlich: »Das Flüchtlings- und Migrantenproblem kann nur gelöst werden, indem ein starker Friedenskampf gegen die Kriegspolitik geführt wird.«
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