Zusätzliche Belastung
Von Gudrun Giese
Am Ende dürfte ein halbgares Gesetz herauskommen, wenn am Freitag im Bundestag über das hochtrabend als »Pflegereform« titulierte Pflegeunterstützungs- und Pflegeentlastungsgesetz (PUEG) abgestimmt wird. Im Mittelpunkt stehen dabei zum einen die Erhöhung der Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung ab dem 1. Juli, zum anderen die wegen der Inflation überfällige Anhebung von Pflegegeldern, die insbesondere auch Angehörigen zukommen sollen. Denn nach Angaben des Statistischen Bundesamtes finden über achtzig Prozent der Pflege von Alten und chronisch Kranken in der Bundesrepublik zu Hause statt – durch Verwandte oder sogenannte 24-Stunden-Kräfte aus osteuropäischen Ländern.
Der allgemeine Beitragssatz zur Pflegeversicherung steigt um 0,35 Prozentpunkte. Für Kinderlose soll der aktuelle Beitrag von 3,05 Prozent um 0,6 Punkte steigen. Versicherte mit zwei und mehr Kindern werden hingegen entlastet. Das Pflegegeld soll zum 1. Januar 2024 um jetzt 4,5 Prozent erhöht werden, nachdem kurzfristig noch ein Kompromiss der Koalitionsparteien beim Budget für die Kurzzeit- und Verhinderungspflege ausgehandelt wurde, das nun mit dem um 0,5 Prozentpunkte gekürzten Pflegegeld gegenfinanziert wird (siehe jW vom 24. Mai). Für die Kurzzeit- und die Verhinderungspflege sollen jährlich 3.386 Euro bereitgestellt werden, die die Pflegenden wahlweise für beide Leistungen einsetzen können. Der Kompromiss war scharf kritisiert worden – unter anderem von Eugen Brysch, Vorstand der Stiftung Patientenschutz.
Auch das gesamte Gesetz stieß auf Kritik, etwa in einer Expertenanhörung im Bundestag am 10. Mai: Das Pflegegeld und die ambulanten Sachleistungen würden nicht ausreichend erhöht, außerdem fehle es an einer dynamischen Preisanpassung für diese Leistungen. Nötig wäre eine grundlegende Systemreform, um Pflege nachhaltig zu finanzieren, hieß es von den Fachleuten im Gesundheitsausschuss. Die Interessenvertretung pflegender Angehöriger, »Wir pflegen!«, bemängelte das Fehlen wichtiger Vorhaben wie die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen in der Pflege über Steuern. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft forderte einen umfassenden Umbau des Pflegesystems, da nach heutiger Regelung gerade in der häuslichen Pflege die Kosten einer bedarfsorientierten Versorgung explodierten. Deshalb müsse es eine Dynamisierung der Leistungen geben.
Generelle Kritik am Gesetz übte der Sozialverband Deutschland: Es bleibe hinter den Notwendigkeiten zurück, und trotz der angespannten Lage in der Langzeitpflege enthalte es nur kurzfristig wirkende Vorschläge. Die langfristige Stabilisierung der Pflege sei vertagt worden. Der Deutsche Pflegerat warnte vor einem drohenden Zusammenbruch der Versorgungsstrukturen, da die notwendige Reform in der Pflege nicht angepackt werde. Die Sachverständige Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, betonte in der Anhörung die Bedeutung der häuslichen Pflege. Doch im Gesetzentwurf sei kein Ansatz zu erkennen, mit dem die Selbständigkeit der Pflegebedürftigen erhalten und gefördert werde. »Die Langzeitpflege ist eine der größten gesamtgesellschaftlichen Aufgaben, die wir haben«, sagte sie.
Auch nach der Anhörung im Gesundheitsausschuss riss die Kritik am Gesetzentwurf nicht ab, die auch Aspekte der stationären Pflege betraf. So nannte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland am 22. Mai das Vorhaben zur Pflegereform »halbgar«. Unberücksichtigt bliebe dort etwa die Lücke zwischen Kosten und realen Einkommen: »Für die stationäre Pflege werden Zuzahlungen von im Durchschnitt über 2.000 Euro im Monat fällig. Das durchschnittliche Einkommen alter Menschen liegt aber nur bei 1.700 Euro.«
Kein gutes Haar am Gesetz ließ auch Verdi-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler: »Statt die Pflegeversicherung auf eine solide Grundlage zu stellen, werden Versicherte ausgerechnet in diesen Zeiten zusätzlich finanziell belastet, ohne dass damit eine bessere Versorgung verbunden ist.« Damit lasse die Bundesregierung alle im Stich – Pflegebedürftige, pflegende Angehörige und die Beschäftigten in der Altenpflege. Das Gesetz enthalte nicht einmal die Maßnahmen, die im Koalitionsvertrag vereinbart worden seien, so die bei Verdi für Gesundheit, Soziale Dienste, Bildung und Wissenschaft zuständige Bühler. »Was wir jetzt brauchen, sind grundlegende Reformen, die die Einnahmebasis der Pflegeversicherung dauerhaft verbreitern.« Die Lösung bestehe in einer solidarischen Pflegegarantie, bei der »alle Einkommensarten in die Finanzierung einbezogen werden und sämtliche pflegebedingten Kosten abgedeckt sind«. Bis auf weiteres dürfte eine so gestaltete Finanzierung der Pflege ein frommer Wunsch bleiben.
Hintergrund: Altenpflege in Not
Immer mehr Seniorenheime stehen vor der Insolvenz, weil sie Plätze wegen Personalmangels nicht belegen können. Gleichzeitig arbeiten die Pflegekräfte am Limit, wie sie im vergangenen November in einer von der Gewerkschaft Verdi initiierten Aktionswoche »Trotz grün, gelb, rot: Die Pflege bleibt in Not« deutlich machten. Bundesweit beteiligten sich Beschäftigte aus der Altenpflege an den Veranstaltungen, bei denen sie eine grundlegende Reform der Pflege, die Stärkung der Tarifbindung, eine solidarische Pflegegarantie sowie eine verbindliche Personalbemessung forderten. Es fehle an Zeit für Gespräche mit den Heimbewohnern, klagte die Beschäftigte einer Einrichtung des Diakonischen Werks in Würzburg. Zeitnot und die Arbeit im Dauerstress trieben viele Kollegen dazu, den Beruf zu verlassen. Einen verbindlichen Personalschlüssel forderten bei einer Aktion die Beschäftigten der 26 Seniorenzentren der Arbeiterwohlfahrt (AWO) im Saarland. Im Koalitionsvertrag sei das versprochen worden. Außerdem müsse dringend in die Ausbildung des Nachwuchses investiert werden.
Während Thomas Greiner, Präsident des Arbeitgeberverbandes Pflege, aktuell einen Rechtsanspruch auf einen Pflegeheimplatz fordert, da zu viele Heime wegen leer bleibender Plätze vor der Insolvenz stünden, warnt Christel Bienstein, Präsidentin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe, vor einem solchen Anspruch. »Wir haben schon jetzt viel zu wenige qualifizierte Pflegefachpersonen in den Einrichtungen, die Personalschlüssel sind unterirdisch und das alles geht zu Lasten der Menschen, die auf eine gute Versorgung angewiesen sind«, sagte sie zum Wochenanfang gegenüber Taz. Kathrin Sonnenholzner, Präsidentin der AWO, plädiert wegen des Notstands in der Altenpflege für eine »nachhaltige Finanzreform der Pflegeversicherung, wirksame Strategien gegen den Fachkräftemangel und den Ausbau neuer, quartiersbezogener Versorgungskonzepte«. (gg)
Onlineaktionsabo
Das Onlineaktionsabo der Tageszeitung junge Welt bietet alle Vorteile der gedruckten Ausgabe zum unschlagbaren Preis von 18 Euro für drei Monate. Das Abo endet automatisch, muss also nicht abbestellt werden. Jetzt Abo abschließen und gleich loslesen!
Mehr aus: Schwerpunkt
-
Ernte in Nachbars Garten
vom 25.05.2023