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Aus: Ausgabe vom 24.05.2023, Seite 12 / Thema
Ukraine-Krieg

Im Schützengraben

Formierung der Kriegsmoral. Was sich aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine und der westlichen Verteidigung lernen lässt
Von Norbert Wohlfahrt und Johannes Schillo
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Heute sind Militarismus und Kriegsfanatismus etwas ganz anderes als früher: Sie dienen der »guten Sache« der Freiheit und der Menschenrechte (Kundgebung in Berlin, 20.1.2023)

Im zweiten Jahr des Ukraine-Kriegs kann man weder der Politik noch den Medien, ganz zu schweigen von den Vertretern der politischen und anderer Wissenschaften, vorwerfen, dass sie sich groß bei den Gründen für diesen Krieg aufhalten würden. Mit der nichts erklärenden, aber den Feind definierenden Formel vom »russischen Angriffskrieg« ist die Frage des Kriegsgrundes erledigt und die moralische Verurteilung des Kriegsverbrechers Putin und seiner völkerrechtswidrigen Vorgehensweise kann sich in geradezu furchterregender Hemmungslosigkeit verbreiten.

Patriotisches Denken in Sachen Krieg und Frieden ist angesagt, und das nationale Interesse definieren diejenigen, die den Krieg dazu nutzen, ihre geopolitischen Zielsetzungen voranzutreiben und ihrer Nation mehr Durchschlagskraft zu verleihen. In der Kritik stehen nicht diejenigen, die die Ukraine mit Waffen vollstopfen, damit diese ihre territoriale Souveränität behaupten kann, nicht diejenigen, die gar nicht genug Streubomben und anderes militärisches Gerät bekommen können, um ihrem russischen Todfeind den Garaus zu machen, sondern diejenigen, die für Frieden plädieren und Zweifel an der Formel hegen, dass mit mehr Waffen Frieden geschaffen würde.

Die Kriegsmoral die binnen eines Jahres das Denken in Freund-Feind-Kategorien zur patriotischen Hauptaufgabe gemacht hat, die öffentlich-rechtliche TV-Sendungen wie »Können wir Krieg?« als skeptische Volksaufklärung zur Selbstverständlichkeit erklärt und den Militarismus aufs Töten fremder Soldaten spezialisierter Experten geradezu als aufgeklärten Genuss zelebriert – bedarf nicht nur einer Erklärung, sie bedarf auch der Gegenrede.

Wo der Krieg in seiner öffentlichen Besprechung sich darauf konzentriert, die russischen Verbrechen und die ukrainischen Heldentaten in immer neuen Varianten zu bebildern, sollte doch ein Blick darauf geworfen werden, welche politischen Absichten und Zielsetzungen sich mit der nicht erst seit 2022 umkämpften Ukraine verbinden, warum die USA ihre Rolle des »leading from behind« auch in diesem Krieg ganz offensiv wahrnehmen und warum die europäischen Nationen eine Konkurrenz ganz neuer Art darum führen, wer mit welchen Waffen und Unterstützungsleistungen aus dem Krieg als europäische Führungsmacht hervorgeht.

Feindschaft der NATO

Der von der Ukraine zum Verfassungsauftrag erhobene Wille, Mitglied der NATO zu werden, ist von Russland schon frühzeitig als direkte Bedrohung aufgefasst worden.¹ Russland reagierte darauf im Dezember 2021 mit der Vorlage eines Vertragsentwurfs. Dieser beinhaltete nicht nur die Forderung nach Rückzug der NATO auf das Gebiet von vor 1997, sondern auch die Forderung, keine Raketensysteme zu stationieren, die das Gebiet der anderen Seite treffen könnten. Die Antwort der NATO auf den Vertragsentwurf war eindeutig. Sie setzte sich aus zwei Komponenten zusammen: Ein Staat dürfe nur selbst über seine Sicherheit entscheiden, und jegliche Aggression gegen die Ukraine werde schwerste wirtschaftliche und finanzielle Folgen haben. Mit dieser Antwort wurde für Russland zugleich klargestellt, dass aus Sicht der NATO eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO zu den unmittelbaren Souveränitätsrechten gehört und Russland die NATO »ihren eigenen Weg gehen lassen« müsse (so der ehemalige deutsche Botschafter Rüdiger von Fritsch 2022).

Auf dem NATO-Gipfel im Juni 2022, nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, wurden drei Beschlüsse gefasst, die die NATO-Vorwärtsverteidigung auf eine neue Stufe hoben und im Rahmen der »Zeitenwende« die auf Russland gerichtete NATO-Strategie fundamentieren:

– Durch die Aufnahme von Schweden und Finnland in die NATO »ist die Ostsee auf dem besten Weg, ein NATO-Binnenmeer zu werden (…). Die baltischen Staaten gewinnen maritimes Hinterland, gegebenenfalls Aufmarschraum, sie finden in Schweden, in anderem Maße auch in Finnland, logistische Alternativen. Das vervollständigt die Sicherheitsarchitektur in der Region.« (NATO-Sicherheitsexperte Hans Uwe Mergener).

– Die NATO-Landpräsenz in Osteuropa wird erheblich aufgestockt. Das Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv der NATO soll durch »eine substantielle und durchgängige Präsenz auf dem Land, zur See und in der Luft« sichergestellt werden, und zwar »vorne mit robusten, im Einsatzgebiet stationierten, dimensionsübergreifenden, kampfbereiten Streitkräften zur schnellen Verteidigung« (Strategisches Konzept der NATO, 2022).

– Schließlich wird auch noch ein neues Streitkräftemodell (New Force Model, NFM) auf den Weg gebracht. Die schnelle Eingreiftruppe, die vorsieht, dass 40.000 Soldaten in spätestens 15 Tagen vor Ort sein können, wird so aufgestockt, dass bis Tag 30 weitere 30.000 Soldaten der Bereitschaftsinitiative folgen können. Im Rahmen des neuen Streitkräftemodells will die NATO in der Lage sein, innerhalb von maximal zehn Tagen bis zu 100.000 Soldaten zu verlegen, bis spätestens Tag 180 soll es dann möglich sein, mit noch einmal weiteren 150.000 Soldaten nachzulegen.

Die von den USA getragene nukleare Abschreckung wird im Zuge dieser Diskussion um die Notwendigkeit einer eigenständigen europäischen Nuklearstrategie bereichert. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron lobt nicht nur die »stabilisierende Tugend« der Atomwaffen, auch der deutsche Verteidigungspolitiker Johann Wadephul (CDU) fordert eine Zusammenarbeit mit Frankreich bei den Nuklearwaffen. Zwischen Frankreich und Deutschland entwickelt sich eine Auseinandersetzung über die »Teilhabe« bei der Entscheidung über den Einsatz von Atomwaffen. Die Optionen für eine »Weltmacht Europa« fasst eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (von Eckhard Lübkemeier 2020) so zusammen: »Europa braucht robuste nichtnukleare Fähigkeiten für zwei Hauptzwecke: zur Verteidigung und zur Intervention. (…) Verteidigungspolitische Autonomie erfordert eine eigenständige nukleare Abschreckungsfähigkeit. (…) Dies würde Deutschland und seiner ›Kultur der militärischen Zurückhaltung‹ einiges abverlangen: bei Verteidigungsausgaben, Einsätzen und Rüstungsexporten. Dafür braucht es eine tabulose Debatte über die Rolle des Militärischen für ein Europa, das ›sein Schicksal in die Hand nimmt‹ (Bundeskanzlerin Angela Merkel).«

Der ukrainische Nationalismus

Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand – anders als von ukrainischen Nationalisten (auch in Kooperation mit den Faschisten) angestrebt – keine unabhängige, westlich orientierte Ukraine, sondern eine territorial vergrößerte Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik. Die von der ­ukrainischen nationalen Rechten erbittert bekämpfte Sowjetunion realisierte den »Traum der Vereinigung der ukrainischen Länder unter einer Herrschaft« (Kerstin S. Jobst: »Geschichte der Ukraine«, 2015). Nach 1991 gilt die Ukraine in den Augen des Westens als ein Staat, der den Anforderungen einer freiheitlichen Demokratie in keiner Weise genügt. Das »Krebsgeschwür Korruption« (so die Vertreterin der USA bei der UNO, Victoria Nuland) und eine »semi-autokratische« Regierung machen es aus westlicher Sicht notwendig, diesem Staat, der sich nicht entschieden genug gegen Russland aufstellt, hilfreich unter die Arme zu greifen.

Bis 2014 arbeitet sich die Ukraine an den Bedingungen ab, unter denen der Westen ihr die nicht näher bestimmte Perspektive eröffnet, sich durch eine »Annäherung« an die NATO und die EU in eine vorteilhaftere Position hineinwirtschaften zu können. In politisch-strategischer Hinsicht bemüht sich der neue Staat an vorderster Stelle um gute Beziehungen zu den freiheitlichen Führungsmächten und deren Militärbündnis – 1994 beteiligt sich die Ukraine als erster Staat aus dem Bereich der GUS am NATO-Programm »Partnership for Peace«, 1997 gründet sie unter US-Patronage mit Georgien, Usbekistan, Aserbaidschan und Moldova die GUUAM, ein politisch-militärisches Bündnis als Gegengewicht gegen die russische Machtstellung in der GUS. Umgekehrt bilden die neuen Beziehungen zum Westen aber nur den Auftakt für eine lange Liste von Forderungen der westlichen Staaten. So wurde die Absicht Wiktor Janukowitschs, nach dem im November 2012 paraphierten Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine die Russische Föderation an dem Abstimmungsprozess zu beteiligen, von der EU abgelehnt und im Gegenzug von der Ukraine die Öffnung der Märkte und die Anpassung an die Gesetze und Normen der Union verlangt.

Am 22. Februar 2014 setzte das ukrainische Parlament Janukowitsch, der zuvor nach Russland geflüchtet war, sowie das von seiner Partei der Regionen dominierte Kabinett ab. Dieser Vorgang, der »mit der ukrainischen Verfassung nicht unbedingt in Einklang zu bringen war« (Jobst), wurde rasch mit der Anerkennung der neuen Regierung durch die westlichen Staaten legitimiert und im Mai 2014 mit der Wahl des »Schokoladenkönigs« Petro Poroschenko – »ein offenbar recht flexibler Oligarch« (Jobst) – zum neuen Präsidenten gekrönt. Die neue Regierung sah ihre primäre Aufgabe darin, sich soweit es irgendwie ging, gegen Russland und alles Russische zu positionieren und »die ukrainische Demokratie zu festigen«. In den Ministerien, in Polizei, Justiz, Funk und Fernsehen begann ein energisches Aufräumen – gerichtet gegen alles, was einer verkehrten Affinität zur Vorgängerregierung und zu Russland verdächtig war. Russisch als zweite Amtssprache wurde abgeschafft, der Frontmann der rechten Swoboda-Partei wollte dem friedliebenden ukrainischen Volk schnell den freien Kauf und Besitz von Schusswaffen erlauben und die freie Meinungsbildung im Land durch das Verbot einiger TV-Sender, speziell russischer, befördern. Der neue Verteidigungsminister machte kein Geheimnis aus seiner Überzeugung, dass er den Vertrag über den russischen Flottenstützpunkt für eine unerträgliche Schmach hielt, die schnellstmöglich aus der Welt zu schaffen sei.

Der ukrainische Nationalismus entwickelte sich nach dem – »faschistischen« (Putin), aus westlicher Sicht aber glorreichen – Maidan-Aufstand, der mit tatkräftiger Unterstützung des Westens den – wegen seiner »Schaukelpolitik« störenden – Janukowitsch aus dem Amt gebracht hatte, in aller Entschlossenheit gegen Russland. Dabei wurde von der ukrainischen Regierung so gut wie alles kritisch unter Beschuss genommen, was aus ihrer Sicht als Unterstützung und Kooperation westlicher Staaten mit dem Feind gewertet werden konnte. Dabei drehte sie den Spieß sogar um: Aus Sicht des seine »Freiheit« erkämpfenden Staates errichtete nun der Westen, insbesondere Deutschland, immer weitere »Mauern«, die dem ukrainischen Freiheitskampf im Wege stehen und das Verhältnis zwischen freiheitsliebendem ukrainischen Volk und westlichen Zauderern geradezu umkehren.

Nord Stream, NATO-Mitgliedschaft, präventive Sanktionen – die Liste der Unterlassungen westlicher Zögerer und Zauderer ist aus ukrainischer Sicht beliebig erweiterbar und hat nur einen Inhalt: Allein die bedingungslose Feindschaft gegen Russland hilft der Ukraine wirklich, und wenn der Westen nicht bereit ist, seinen Kapitalismus hierfür aufs Spiel zu setzen, dann erweist er sich als potentieller Parteigänger der Unfreiheit. Deshalb hat der Krieg aus Selenskijs Sicht den unverhohlen ausgesprochenen Vorteil, dass er das Blatt ganz prinzipiell zu seinen Gunsten ändert. »Von jetzt an haben die Geschichtsbücher ein neues Kapitel: Als die Ukraine die Welt einte. Als die Demokratie wieder wehrhaft wurde. Als die Tyrannei ihre Antwort in einer Sprache erhielt, die sie versteht (…). Doch die Ukraine hat den gesamten Kontinent gestärkt. Heute gehen die Menschen in Europa auf die Straßen. Heute hat Europa starke Sanktionen verhängt. Heute hat Europa einstimmig beschlossen, dass die Ukraine zukünftiges Mitglied der EU ist.« (­Wolodomir Selenskij, »Botschaft aus der ­Ukraine«, 2022)

Das »eigentliche« Russland

Russland begründet seine Sichtweise auf die ­Ukraine – wie es Nationalisten in der Regel zu tun pflegen – mit der Geschichte. Danach wurde die Ukraine voll und ganz vom bolschewistischen Russland geschaffen und war Teil der von Lenin verfochtenen Staatsdoktrin eines konföderativen, auf weitgehende Unabhängigkeit der Republiken setzenden Staatsaufbaus. Für das heutige russisch-nationalistische Selbstverständnis liegt schon hier ein Kardinalfehler vor, weil damit Verwaltungseinheiten quasi zu Staatsgebilden aufgewertet wurden, die wiederum eigene nationale Bestrebungen entwickelten. »Vom Standpunkt des historischen Schicksals Russlands und seiner Völker waren die Leninschen Prinzipien des Staatsaufbaus nicht nur einfach ein Fehler, sie waren, sozusagen viel schlimmer als ein Fehler. Seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 ist das vollkommen offensichtlich«, so Putin in seiner Rede an die Nation.

Russland – so lässt sich bilanzieren – gründet seinen »Revisionismus« auf einen Nationalismus, der sich auf »die Russen« als die ethnisch bestimmte Volksgruppe bezieht, die die nationale Idee repräsentiert. Diese nationale Idee eines eigentlichen Russlands macht die russische Staatsführung gegen den empirischen Verlauf der territorialen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine geltend und kritisiert ihre Vorgängerregierungen als Schädiger russischer Interessen. Deren laxer Umgang mit der territorialen Idee eines die Russen einigenden Russlands gilt für Putin und seine Regierung als »antirussisch«, und es ist nicht zuletzt der Sozialismus, der für diese Vernachlässigung substantieller Staatlichkeit verantwortlich zu machen sei. So steht in den Augen der russischen Staatsführung ein »eigentliches« Russland einer – dazu noch schamlos vom Westen ausgenutzten – russenfeindlichen Staatlichkeit gegenüber, die Russen unterdrückt. Diesen Tatbestand gilt es aus russischer Sicht zu korrigieren.

Von Interessen schweigen

Allen am Krieg beteiligten Parteien geht es um handfeste geopolitische Interessen, die das Handeln ihrer Nation bestimmen. Die Unterscheidung zwischen »guten« und »bösen« Akteuren, die der Kriegsmoral so geläufig ist, hat ihren Grund in den patriotischen Zwecksetzungen, die sich in und an diesem Krieg geltend machen. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Kriegsmoralisten das Töten in staatlichem Auftrag als Notwendigkeit verstehen, die sich aus ihrer Vorstellung von Völkerrecht und territorialer Integrität ergeben, passt zu der Brutalität, mit der die Nationen den Krieg betreiben, um Frieden zu ihren Bedingungen zu schaffen. Die Unerbittlichkeit, mit der sich das Gute, das der »freie Westen« repräsentiert, die Schädigung und Vernichtung des Bösen zur Aufgabe macht, das im östlichen Aggressor mit seiner ganzen Brutalität zutage treten soll, ist ein beängstigender Alptraum und doch Realität. Aus dieser Unerbittlichkeit lässt sich einiges lernen:

Im Krieg soll nicht die Sache zählen, um die es geht, also die geostrategischen Überlegungen und die auf Eingrenzung und Schädigung feindlicher Mächte ausgerichteten Verteidigungsstrategien, sondern die Frage, wer angefangen hat. Dass ein Kriegsbündnis wie die NATO eine internationale Vereinbarung nach der anderen storniert, bis vor die Haustür des erklärten Feindes seine Vorwärtsverteidigung vorantreibt und dessen Nachbarland zu einem feindlichen Gegenüber aufpäppelt, ist geschenkt. Dass Russland mit seinem Angriffskrieg das Völkerrecht bricht (was nach eigener Aussage der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder mit dem Kosovokrieg ebenfalls getan hat), macht aus Sicht der Kriegsmoralisten diesen Staat zum Terrorstaat, dem unsere ganze Verachtung zu gelten hat. Jeder Hinweis darauf, dass dieser Krieg nicht vom Himmel gefallen ist, Gründe hat und Interessen im Spiel sind, die mit Moral recht wenig zu tun haben, gilt als potentielles Feindverständnis.

Lernen ließe sich auch einiges über die Rolle einer Öffentlichkeit und eines Wissenschaftsbetriebes, für die das Wort Propaganda nur da Gültigkeit hat, wo Regime als »totalitär« oder »autokratisch« eingestuft werden. Statt dessen betreiben sie aus vollster Überzeugung Aufklärung im nationalen Interesse, achten dabei auf die Maßstäbe publizistischer Ausgewogenheit und wissenschaftlicher Methodik und sind Parteigänger des ukrainischen Volkes, das seine Freiheit mit seinen Toten verteidigt. Die westlichen Werte von »Freedom and Democracy«, die sonst stets mit Blick auf ihre Gültigkeit kritisch hinterfragt werden dürfen, sind die unumstößlichen Leitplanken des öffentlich zu Denkenden, und die USA sind – Trump hin oder her – der Leithammel des seine Werte verteidigenden Westens. Es ließe sich auch lernen, dass die Moral, die bei dieser Parteilichkeit im Spiel ist, manchmal hemmungslos macht und Journalistinnen in Panzer kriechen lässt, wobei anscheinend das Glücksgefühl angesichts funktionierender Haubitzen schon das Vergnügen vorwegnimmt, das diese beim Umbringen des Feindes erzeugen.

Es ließe sich auch lernen, wie schnell ein Staat, der noch bis vor kurzem als korrupt galt und als Failed State geführt wurde, zum Bannerträger der Freiheit avanciert und mit seinem unbedingten Willen, Leib und Leben seiner Bevölkerung für seine territoriale Integrität zu opfern, zum Vorzeigesubjekt gelungener Selbstbehauptung stilisiert wird. Ein Exclown, der die Klaviatur des Medialen beherrscht, gibt dem »freien Westen« vor, was er für seine Verteidigung braucht, und er scheut dabei selbst vor dem Griff nach Streubomben und Langstreckenraketen nicht zurück. Das trägt ihm keineswegs den Ruf ein, durchgeknallt zu sein, sondern macht ihn zum gefeierten Star der vielen Staatszusammenkünfte, in denen weitere Schritte zur Erledigung des Feindes auf der Tagesordnung stehen. Dass die Ukraine Mittel eines Stellvertreterkrieges ist, kehrt sich aus Sicht dieses Staatsmanns um, wenn er denjenigen, an deren Tropf er hängt, die Leviten liest, ihre Zurückhaltung bei der Waffenbeschaffung geißelt und den Sieg über Russland verkündet, den die Zauderer und Zögerer womöglich hintertreiben.

Lernen ließe sich auch etwas über die Weltmacht USA und ihren deutschen Bündnispartner. Die Vereinigten Staaten und deren Präsident beanspruchen mit der größten Selbstverständlichkeit den Führungsanspruch für das Vorgehen gegen Russland, und den Chef im Weißen Haus kümmern die Souveränitätsrechte seines Partners hierbei herzlich wenig. Der deutsche Bündnispartner, der lange Zeit versucht hatte, seine Treue zur amerikanischen Nation mit einigen ökonomischen Sonderwegen bei der Förderung seines Exportkapitalismus zu kombinieren, erweist sich als williger Mitmacher beim Sanktionsregime, bürdet seiner Bevölkerung erhebliche wirtschaftliche Einschränkungen auf und begibt sich, so schnell es geht, an die Front der Putin-Bekämpfer.

Lernen ließe sich auch noch etwas über das Verhältnis von Moral und Gewalt. Aus den Gutmenschen, die Rechte unterdrückter Minderheiten achten, aus identitätspolitisch Aufgeklärten, die die plurale und diverse Gesellschaft fordern, werden ohne viel Federlesens Verteidiger von Militarismus, Aufrüstung und Ankläger eines »Lumpenpazifismus«, denen gar nicht genug staatliche Gewaltmittel zur Durchsetzung des kriegsmoralisch Gebotenen bereitgestellt werden können. Die Gewalt ist die Schwester der Moral, und Moralisten verachten all jene, die eine Kritik an Gewalt und den Subjekten haben, die sich diese zum Mittel machen. Man lernt daraus, wie wenig der Blick in die Geschichte hilft: Heute sind Militarismus und Kriegsfanatismus etwas ganz anderes als damals. Und das hat einen Grund: Sie dienen der guten Sache.

Mehr als »Frieden«

Damit lässt sich schlussendlich auch etwas über den Frieden lernen. Denn außer einigen Friedensbewegten geht es keiner der beteiligten Parteien um ihn. Amerika und seine Bündnispartner sehen im Krieg die Chance, die Russen entscheidend zu schwächen, US-Präsident Biden erklärt mit aller Deutlichkeit, dass Amerika die Annexion der Krim niemals anerkennen werde, der NATO-Generalsekretär Stoltenberg verkündet die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine »zu einem späteren Zeitpunkt«, und der deutsche Bundeskanzler betont wiederholt, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen dürfe. Die Ukraine teilt der Öffentlichkeit mit, dass das Abkommen von Minsk Geschichte sei und niemals wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden könne, die Krim statt dessen zurückerobert werden müsse. Der russische Präsident pocht auf die Sicherheitsinteressen seines Landes und warnt vor einer Zerstückelung seiner Nation usw.

Alle beteiligten Parteien betreiben also mit immer weiter gesteckten Zielsetzungen ihren Krieg. Der Westen munitioniert die Ukraine »mit allem, was sie braucht«, wie die gängige Formulierung von Biden, Scholz und Co. heißt – und ob die Russen einen Atomkrieg anzetteln, schreckt immer weniger. Frieden? Der wird sicher irgendwann kommen. Auf Basis des erreichten Kräfteverhältnisses werden sich dann neue Kriegsziele entwickeln und die Friedensordnung vor immer neue Herausforderungen stellen. Darauf wird sich in der Konkurrenz der beteiligten Staaten schon kräftig vorbereitet und darauf geachtet, gestärkt auch aus diesem Krieg hervorzugehen. Deshalb kann man aus diesem Krieg auch lernen, dass es mit dem Wunsch nach Frieden nicht getan ist.

Anmerkungen

1 Putin macht dies zuletzt in einer Rede Ende November 2021 unmissverständlich klar: »Es geht vor allem um das Entstehen von Bedrohungen, die von diesem Territorium ausgehen könnten. Wenn ein Gefechtssystem auf dem Gebiet der Ukraine auftaucht, dann wäre die Flugzeit nach Moskau sieben bis zehn Minuten.«

Norbert Wohlfahrt ist Professor i. R. für Sozialmanagement an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. ­Johannes Schillo ist Sozialwissenschaftler. Von ihnen erscheint in diesen Tagen unter dem Titel »­Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch. Lektionen in patriotischem Denken über ›­westliche Werte‹« eine »Flugschrift« im ­Hamburger VSA-Verlag (133 Seiten, 10 Euro).

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (24. Mai 2023 um 11:17 Uhr)
    Viel Zeilenhonorar für nichts Neues. »Allen am Krieg beteiligten Parteien geht es um handfeste geopolitische Interessen, die das Handeln ihrer Nation bestimmen.« Irgendwie alle böse, so die äquidistante Schlussfolgerung des Professors und des Sozialwissenschaftlers.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Thomas K. aus Neuss (26. Mai 2023 um 15:36 Uhr)
      Die Guten und Bösen im Krieg. Dass für den Leserbriefschreiber »nichts Neues«, also keine neuen Erkenntnisse bei der Lektüre des Artikels herauskommen, wäre erfreulich, wenn er damit meint, dass die Schlussfolgerungen »des Professors und des Sozialwissenschaftlers« auch die seinigen seien. Aber dem ist leider nicht so. Das Insistieren von Wohlfahrt und Schillo auf eine vernünftige Erklärung des Krieges statt einer Schuldigsprechung einer oder gleich beider Seiten heißt gerade nicht, dass »alle böse« sind. Wohlfahrt und Schillo betonen doch, dass die moralische Kennzeichnung der Konfliktparteien einerseits nichts zur Erklärung der Sachlage beiträgt und andererseits das Schlachtfest, das gerade in der Ukraine stattfindet, so richtig anheizt.

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