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Aus: Ausgabe vom 20.05.2023, Seite 1 (Beilage) / Wochenendbeilage
Philosophie und Printmedien

»Der Kampf für Holzmedien ist Kern unserer Arbeit«

Über die schwierige Existenz der Zeitschrift La Décroissance, Postwachstum und Angst vor einer Welt ohne Humor. Ein Gespräch mit Vincent Cheynet
Interview: Marc Hieronimus
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»Macht Babys, keinen Krieg« – eine Titelseite der Zeitschrift La Décroissance

Diesen Sommer wird La DécroissanceLe journal de la joie de vivre mit der Nummer 200 ein Jubiläum feiern. Wie hat dieses Abenteuer begonnen, und wo stehen Sie heute?

Die erste Ausgabe der Zeitschrift ­Casseurs de pub kam 1999 in den Handel. Der für Abonnenten reservierte Lettre de Casseurs de pub wurde 2004 zu La Décroissance (wörtlich Schrumpfung, Rückgang, Verminderung; meist mit »Postwachstum« übersetzt, jW). Damals war das Wort noch buchstäblich Blasphemie. Heute werden wir ernst genommen, aber wir erleben den Niedergang der gedruckten Zeitung. Es ist eine enorme Herausforderung, sich unter diesen Umständen zu halten. Es geht nicht nur um die Verkaufszahlen: Wir behandeln alle möglichen Themen und haben in der Redaktion oft Meinungsverschiedenheiten. Ohne die Unterstützung und die Ermutigung durch unsere Leser gäbe es uns nicht mehr. Wir müssen die Hoffnung aufrechterhalten gegenüber den völlig gleichgerichteten Massenmedien, die keine Gegenmacht, sondern die eigentliche Macht darstellen. Zugang zur französischen Öffentlichkeit zu bekommen, das bedeutet de facto, sich in einen kleinen Pfizer-, NATO-, McKinsey- usw. -Soldaten zu verwandeln. Der Kampf für die echten Holzmedien ist der Kern unseres Engagements. Wir scherzen oft: Wer verschwindet zuerst – La Décroissance oder der Kapitalismus? Bis dahin gilt es, so lange wie möglich durchzuhalten.

Warum sind Sie gegen die Werbung, ist das nicht auch eine Kunstform?

Die Frage führt uns zurück zu den Anfängen von Casseurs de pub! Die Werbung ist Verkaufspropaganda. In dieser Eigenschaft kann sie Künstler anstellen, genau wie die politische Propaganda. Das ist ja die Tragik, dass Maler, Illustratoren oder Musikerinnen nur noch in der Werbung Berufsaussichten finden und ihr Talent in den Dienst dieser verheerenden, parasitären Industrie stellen. Das System der Werbung stürzt uns in eine verkehrte Welt: Die Konsumgesellschaft ist kein Mittel, sondern ein Selbstzweck. Um diese fundamentale Frage nicht zu vernachlässigen, haben wir eine Casseurs de pub-Kolumne eingerichtet, die vom Schriftsteller und Zeichner Jean-Luc Coudray betreut wird. Heute muss man überdies vom Medien-Werbe-System sprechen, denn die Massenmedien und die Werbung bilden nur noch ein einziges System.

Anfang der 1970er Jahre verkündete schon einmal eine Zeitung »Werbung ist bescheuert, sie hält uns für bescheuert, und sie macht uns bescheuert«. In derselben Publikation, der Hara-Kiri (ab 1970 Charlie Hebdo), begann Pierre Fournier als erster, die ökologische Krise zu thematisieren. Ist La Décroissance eine neue oder verbesserte Charlie Hebdo?

Ihre Frage ist kompliziert, denn man muss Pierre Fournier (1937–1973, jW) von Hara-Kiri und Charlie Hebdo trennen, wo er recht isoliert war, und sogar von La Gueule ouverte, der Zeitung, die speziell für seine Ideen gegründet wurde. Fournier hat sie nur drei Ausgaben lang geleitet, bevor er starb. La Décroissance beruft sich klar auf La Gueule ouverte als Vorläufer, aber nur auf diese Zeitspanne, denn danach schwenkte die Zeitung in Richtung der liberal-libertären Bewegung um. Ich nutze oft die humoristische Formulierung von Fournier: »Wenn ich das Wort Fachmann höre, ziehe ich meinen Revolver. Wenn der Fachmann herausragend ist, schieße ich.« Das ist selbstverständlich metaphorisch und eine Provokation. Sie soll vor der technokratischen Versuchung warnen, wie der, die wir auf drastische Weise während der Coronapandemie erleben konnten. Zur Erinnerung sei nur erwähnt, dass Charlie Hebdo zu dieser Zeit die Gegner der Pfizer-Impfung mit Hitleranhängern in Verbindung brachte. Es gäbe viel Gutes und viel Kritisches über diese satirische Wochenzeitung zu sagen …

Noch ein anderes Vorbild ist wichtig für uns, nämlich die nordamerikanische Zeitschrift Adbusters. Nach ihrem Beispiel haben wir Casseurs de pub gegründet, unser Name stammt direkt daher. Ihr Gründer und Leiter Kalle Lasn hat den Wahlspruch »Man muss die Finanzleute umbringen, metaphorisch natürlich«. Ein weiterer provokanter Spruch, der die Herrschaft der Zahlen und des Zählbaren anprangern soll. Was wirklich zählt, kann nicht gezählt werden, wie etwa das Lächeln, das mir meine Großmütter geschenkt haben.

La Décroissance wird von mehreren Künstlern illustriert, darunter hauseigene wie Léandre und Druilhe, sowie von internationalen wie dem Maler Patrick McGrath Muňiz, der in seinen Ölbildern christliche und kapitalistische Ikonographie miteinander verknüpft. In Deutschland gelten »Karikaturen« als unseriös.

Patrick McGrath Muňiz ist ein sehr talentierter Maler, der unser Blatt regelmäßig mit seiner lateinamerikanischen Feinfühligkeit und Kultur bereichert. Wenn wir nicht ernsthaft sind, umso besser: Nichts macht mir größere Angst als eine Welt ohne Humor. Die aktuelle Tendenz ist ja, im Bereich Humor Gesetze erlassen zu wollen, damit niemand »verletzt« wird. Das ist im übrigen ein sehr beunruhigendes Anzeichen für das Stärkerwerden der totalitären Gesinnung. Es heißt oft, eine gute Zeichnung ist besser als ein langer Artikel. Aber das eine schließt das andere nicht aus, beide sind wichtig und ergänzen sich.

Das Wort Décroissance macht Angst. Niemand will etwas verlieren. Warum nicht »nachhaltige Entwicklung« oder »grünes Wachstum« oder so etwas? Das ist in aller Munde

Vor einigen Jahren kamen ein paar Deutsche zu uns, weil sie eine Zeitung wie La Décroissance gründen wollten. Unsere Mitstreiter aus der französischsprachigen Schweiz haben ihre Zeitschrift Moins! genannt. Ich fand, dass die deutsche Übersetzung Weniger! ein hervorragender Titel wäre und habe ihn Ihren Landsleuten vorgeschlagen, aber die haben dieselbe Bemerkung gemacht: »Das macht Angst, und die Deutschen sind nicht bereit, das anzunehmen.« Ich versichere Ihnen: In Frankreich war es das gleiche. Und Deutschland ist ein typisches »Exwachstumsland« mit Gehältern, die zu den weltweit höchsten gehören. Mehr als anderswo müssen wir den Sinn für Grenzen, die Ablehnung der Maßlosigkeit, der Hybris erlernen, und zwar in allen Bereichen. Das ist das Kernanliegen von La Décroissance, die selbstverständlich nicht für einen Rückgang von allem für alle für immer ist, das wäre genauso dumm und irrational wie ewiges Wachstum. Die von Ihnen erwähnten Konzepte aber sind nur semantische Operationen, die Wörtern einen grünen Anstrich verleihen sollen, deren Bedeutung gerade die Grenzenlosigkeit ist.

Ohne Wachstum und Krieg kein Kapitalismus. Was kommt danach? Der in Ihrer Zeitung oft erwähnte Autor Jean-Claude Michéa scheut sich nicht, das System danach, oder für das man kämpfen muss, »Sozialismus« zu nennen.

Wir sind keine Gesinnungspresse. Die verschiedenen Strömungen und Blickwinkel, seien es anarchistische, christliche, ökologische, demokratische usw., bereichern die Debatte über das Postwachstum. Ich bewundere den Philosophen Jean-Claude Michéa, so sehr, dass ich mich schon darüber ärgere. Es fällt mir schwer, einen Text zu schreiben, ohne ihn zu zitieren. Aber es gibt hier keinen Guru. Die Décroissance versteht sich mehr als Lehre des kritischen und dialektischen Verstands denn als politische Philosophie. In Anlehnung an ein philosophisches Bonmot kann man sagen, was uns interessiert, ist zunächst, selbst denken zu lernen, bevor wir Ideen vertreten. Partei- und Systemgeist sind mir ein Greuel. Außerdem fürchte ich wie die Pest die »gläubigen Atheisten«, die mit ihrem Fanatismus und Fundamentalismus an die schlimmsten Auswüchse der Religionen erinnern, die sie lauthals anprangern. Das dahingestellt, haben wir es oft genug wiederholt: Es ist klar, dass die Décroissance, also der Rückgang, aktuell alle anderen Ungleichheiten bedingt.

La Décroissance ist nicht nur gegen Werbung und antikapitalistisch, sondern auch gegen Cannabislegalisierung, gegen künstliche Fortpflanzung, gegen Digitalisierung, gegen Impfpflicht. Ist Ihre Zeitung reaktionär?

Nur wenn man meint, dass der Widerstand gegen den liberalen Technokapitalismus es ist – was offensichtlich nicht der Fall ist, im Gegenteil. Das haben die meisten Linken leider nicht verstanden und machen sich regelmäßig zum perfekten »nützlichen Idioten« des Systems. Besagter Jean-Claude Michéa untersucht es schon seit langem: Die »moderne Linke – oder vereinigte oder liberal-libertäre – (…) definiert sich selbst ontologisch als Fortschrittspartei, das heißt als Avantgarde in allem. Es ist also verständlich, warum die totale Modernisierung der Schule und des Lebens – seit dem 17. Jahrhundert der Kern des kapitalistischen Programms – dem einfachen Volk fast immer unter einer linkskulturellen Regierung aufgezwungen wird, und zwar mit der größten Kohärenz und Effizienz« (Jean-Claude Michéa, »L’enseignement de l’ignorance«, Climats, 2006, jW). Nehmen wir ein einfaches Beispiel von heute: Wenn ich sage, es gibt ebensowenig Transsexuelle wie es lebende Tote gibt, wird man mich in den Massenmedien als reaktionär und transphob bezeichnen. Aber man ist Mann oder Frau, genau wie man tot oder lebendig ist, es sei denn, man hält sich für den auferstandenen Jesus. In seiner Vorstellung kann man alles mögliche sein, aber man wechselt nicht von XX zu XY oder umgekehrt. Wenn ich eine wissenschaftliche Denkweise unter Beweis stelle, bin ich nicht »reaktionär«, im Gegenteil. Wer aber die Wissenschaft verleugnet, ist ein Feind der Aufklärung. Vor allem kann ich Menschen in Nöten nur dann wirklich helfen, wenn ich der Realität ins Auge sehe.

Ihre Zeitschrift ist auch antitechnologisch. Ist die Technologie angesichts des Zustands des Planeten nicht die einzige Hoffnung, die bleibt?

»Nicht die Technik unterwirft uns, sondern die Übertragung des Heiligen auf die Technik«, hat Jacques Ellul bemerkt, einer der wichtigsten Vordenker der Décroissance. Wenn die Wissenschaft dem Irrationalismus zum Opfer fällt, sprechen wir von Wissenschaftsgläubigkeit. Dieser Szientismus ist die Übertragung des Heiligen auf die Wissenschaft, von der Ellul spricht. Sie verwandelt sie in magisches Denken und verspricht uns die Loslösung von den Naturgesetzen. Das Paradoxe ist, dass sich dieser Fanatismus wie ein Verbündeter der Wissenschaft gibt, dabei ist er ihre Negierung. Und wer wissenschaftliches Denken an den Tag legt, indem er diesen Wahn von Erleuchteten ablehnt, wird als Ketzer bezeichnet. Indem sie die Wissenschaft wieder an den ihr zugehörigen Platz verweist, erweist sich unsere Zeitschrift – und keineswegs nur sie – als die wahre Verteidigerin von Technologie und Wissenschaft.

In Ihrer zurückliegenden Nummer, der 197., informiert Matthias Rude Ihre Leser über die Grünen in Deutschland. Erzählen Sie uns von den französischen Grünen. Es gibt auch eine Décroissance-Partei, oder?

»EELV, Europe Écologie – Les Verts, ist die Partei, die am glaubwürdigsten Meinungsmache für den grünen Kapitalismus betreibt, der die soziale Atomisierung zur Voraussetzung hat, die die ›gesellschaftlichen Errungenschaften‹ gewährleisten«, resümiert unser Redakteur Denis Bayon. In der Formulierung ist alles zusammengefasst. Grünen-Chef Yannick Jadot steht den liberalen Positionen der deutschen Grünen sehr nah. Er war der erste, der Waffenlieferungen an die Ukraine forderte, so wie er zuvor schon als erster auf die Impfung gegen Corona drängte, mit dem bekannten Erfolg.

Dieser Umschwung fand statt, als der liberal-libertäre EU/NATO-Flügel, vertreten durch Daniel Cohn-Bendit, dort die Macht übernommen hat. Die französischen Grünen sind, wie unser US-amerikanischer Zeichner Ken Avidor es ausdrückt, die »Raging war-pigs« aller NATO-Kriege. So haben sie die Fortsetzung der Bombardierungen in Jugoslawien gefordert, dann die Einsätze im Kosovo, in Libyen und in Syrien unterstützt. Halten wir fest, dass es die gleichen Psychotypen in Moskau, Paris und Berlin sind, für die jegliches Hinterfragen der Kriegspropaganda ihres jeweiligen Lagers einer Kollaboration mit dem Feind gleichkommt. Der Titel eines Buchs von Ivan Illich, einem der wichtigsten Vordenker der Décroissance, fasst ihren Werdegang gut zusammen: »Die Korruption des Besten bringt das Schlimmste hervor.« Waffenexporte und Unterstützung der militärischen Interventionen der NATO, Impfpflicht mit dem Serum von Pfizer, Kommerzialisierung der Fortpflanzung und ihrer schönen neuen Welt (künstliche Befruchtung, Leihmutterschaft …), E-Mobilität, Drogenlegalisierung, Sterbehilfe, bedingungsloses Grundeinkommen, »Wokeness« usw. EELV steht an der Spitze aller »Fortschritte« des liberalen Kapitalismus. Die französischen Grünen haben gerade eine Kampagne zur Mitgliederwerbung gestartet, mit dem Slogan »Venez comme vous êtes« (Kommt, wie ihr seid, jW), also dem Slogan von McDonald’s. Damit ist alles gesagt.

Ich möchte noch etwas zu dem exzellenten Interview mit Matthias Rude über den noch radikaleren Wandel der deutschen Grünen sagen. Sie kamen ursprünglich vom Pazifismus und drehten den bekannten antikommunistischen Spruch »Lieber tot als rot« um in »Lieber rot als tot«. Diese Haltung ist der Gegensatz zu meiner Überzeugung. Bernard Charbonneau, der Vordenker, auf den ich mich am häufigsten beziehe, betonte vielmehr: »Das Leben des Menschen hat nur einen Sinn in Abhängigkeit von einem Ziel, das es übersteigt und das es wert ist, dafür zu sterben«.

Auch die Décroissance-Partei, die ich 2006 mit Bruno Clémentin gegründet habe, ist vom System verschlungen und am Ende zersetzt worden. Serge Latouche, der bekannteste Theoretiker des Postwachstums, hatte uns vor dieser Sackgasse gewarnt, aber wir waren damals zu ehrgeizig. Anders als der »Papst der Décroissance« bestehen wir aber nach wie vor auf der Notwendigkeit ihrer politischen Umsetzung.

In Frankreich ist die Kollapsologie in Mode, die besagt, dass das Ende der Welt nicht morgen bevorsteht, sondern morgen früh. Wie schaffen Sie es, Ihre gute Laune zu behalten?

Alles wird geboren, lebt und stirbt. Und was für uns gilt, gilt auch für Kulturen. Das Gefühl der Allmacht, das zum Glauben führt, wir könnten unserer Endlichkeit entkommen, ist gerade einer der Gründe unseres Niedergangs. Erwachsenwerden lässt sich mit dem Bewusstwerden der eigenen Sterblichkeit definieren. Die Ökologie ist für uns sehr wichtig, aber sie steht an zweiter Stelle. Wir möchten wieder zu einem philosophischen Denken zurückkommen, das anleitet, unserem Leben einen Sinn zu geben, zum Beispiel indem wir die Natur schützen. Das ist der Schlüssel zur »Lebensfreude« im Untertitel unserer Zeitung. Der Mathematiker Nicholas Georgescu-Roegen, eine weitere Vorbildfigur der Décroissance, hat sie als das Ziel des Lebens bezeichnet. Wir sind sehr kritisch in bezug auf die Pseudowissenschaft der Kollapsologie. Aber ihr regressiver Diskurs findet großen Anklang in den Medien, weil er mit dem zeitgenössischen Utilitarismus in Einklang ist. Serge Latouche hat hierzu bemerkt, dass wir »von der Leugnung der Umweltkrise in den Medien zur Mode der Kollapsologie übergegangen« sind und dabei einen Systemwechsel, wie ihn die Décroissance fordert, völlig außer acht gelassen haben. »Diese war laut den meisten Kommentatoren utopisch, unnötig alarmistisch und lächerlich und stand nicht auf der Tagesordnung, als sie 2001 aufkam. Zwanzig Jahre später ist sie immer noch genauso utopisch, aber jetzt ist es zu spät, von ihr zu träumen, weil sie vom laufenden Zusammenbruch überholt wurde. Sie steht also immer noch nicht auf der Tagesordnung. Vorher war der mögliche Zusammenbruch eine Illusion, und es war richtig, nichts zu tun. Jetzt kann man nichts mehr machen.« (Serge Latouche, L’Abondance frugale comme art de vivre. Bonheur, gastronomie et décroissance, Payot & Rivages, 2020, jW)

In der Rubrik »Die Gespräche des Professors Foldingue« nehmen Prominente auf der Behandlungscouch Platz. Ist die Psychologie, vor allem die Psychoanalyse, der Schlüssel zum Verständnis unserer Zeit?

Ich habe ein Buch über dieses Thema geschrieben (Vincent Cheynet, »Décroissance ou décadence«, Le Pas de côté, 2014, jW). Mit Sigmund Freud kann man sagen, Vater und Mutter setzen dem Kind eine erste Grenze, indem sie ihm etwas verbieten: »Nein, diese Frau bzw. dieser Mann gehört mir.« Der junge Mensch ist so gehalten, sein Begehren umzustrukturieren, aber auch, es gegenüber einer Person zurückzuhalten. Das ist die Überwindung des Ödipus. Hinter dem Wachstumsdiskurs, der Entwicklungsideologie und allgemeiner der Entgrenzung, auf der der Liberalismus basiert, findet man die Aufhebung dieses grundlegenden Tabus. Diese Problematik ist selbstverständlich fundamental, weil die Wachstumsideologie all unsere Lebensbereiche berührt, bis ins Intimste. Sie ist nicht nur ein bloßes wirtschaftliches Phänomen.

Vincent Cheynet,… geboren 1966, gründete 1999 den Verein und die Zeitschrift Casseurs de pub, 2003 die Zeitung La Décroissance und 2006 die Parti pour la décroissance. Parallel zu seinem Engagement in Vereinen und in der Politik war Vincent Cheynet etwa zehn Jahre lang künstlerischer Leiter in einem multinationalen Werbeunternehmen (Publicis Lyon), bevor er sich gegen seinen früheren Beruf als Werbefachmann wandte. Im Jahr 2003 gründete er die Monatszeitschrift La Décroissance – Le journal de la joie de vivre, deren Chefredakteur er ist. Bei den Parlamentswahlen 1997, 2002 und 2007 kandidierte er im zweiten Wahlkreis des Departements Rhône (467 Stimmen bzw. 1,07 Prozent). Bei seiner letzten Kandidatur vertrat er die Partei für Postwachstum (Parti pour la décroissance), die er 2006 zusammen mit Bruno Clémentin und Yves Scaviner ins Leben gerufen hatte.

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