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Aus: Ausgabe vom 16.05.2023, Seite 12 / Thema
Bühne

Kunst der Verlangsamung

Saddek El-Kebir inszeniert »Antigone« am Algerischen Nationaltheater mit Sehbehinderten und Gehörlosen
Von Sabine Kebir
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Ein klassisches Stück als Folie zur Verhandlung des algerischen Bürgerkriegs der 1990er Jahre. Die Schauspielerinnen Fatima Hamchérif als Antigone und Mounia Salaa als Ismene (Szene aus »Antigone«)

Einzig Hacène Assous, der Direktor des Regionaltheaters der westalgerischen Stadt Sidi Bel Abbès, hatte sich 2012 auf ein für das Land neuartiges Experiment des Regisseurs Saddek El-Kebir¹ eingelassen: Dieser wollte eine szenische Lesung eines seiner Jugendbücher, die auch in Blindenschrift vorlagen, mit Sehbehinderten inszenieren. Das Publikum sollte dabei in einem komplett abgedunkelten Raum sitzen und zuhören. Als Vorleser meldeten sich junge Angehörige des Sehbehindertenvereins der nahegelegenen Großstadt Oran, aber auch aus Sidi Bel Abbès und der Umgebung. Bei den Proben stellte sich schnell heraus, dass die Sehbehinderten nach wenigen Tagen nicht nur ihren eigenen Text beherrschten, sondern auch die Texte der anderen Mitwirkenden. Es lag nahe, sich zu fragen, ob sie ihre Rollen nicht auch spielen könnten.

Und sie konnten. Obwohl keiner der Beteiligten jemals auf einer Bühne gestanden hatte, wirkte ihr Spiel von vornherein ästhetisch, sogar außerordentlich harmonisch. Professionelle Schauspieler müssen den Bühnengang erst erlernen, aber Sehbehinderte bewegen sich von vornherein mit Bedacht. Alle Gesten waren im wahrsten Sinne des Wortes gemessen. Dass sie sich gegenseitig über das Gehör orteten, erzeugte eine Poesie der Verlangsamung, was die Zuschauer zugleich als eine eindringliche Verdeutlichung wahrnahmen. Obwohl das alles sofort sichtbar war, tat sich El-Kebir noch eine Weile schwer, die Idee des völlig verdunkelten Saales aufzugeben und nur die wandelnden Stimmen zu Gehör zu bringen. Aber die Darsteller wollten gern gesehen werden.

Ebenso erstaunlich wie ihr Spiel war ihr Engagement. Mit dem mittlerweile zum Stück »Salon der Freunde« mutierten Text behandelten sie nicht – wie es oft im Behindertentheater geschieht – ihre eigenen Probleme als Sehbehinderte, sondern ein die ganze algerischen Gesellschaft angehendes Sujet. Damit agierten sie als Gleichberechtigte in der Cité. Verfremdet in der afrikanischen Fabel »Der kluge Reisende lässt sein Herz zu Hause«, ging es um den Bürgerkrieg der 1990er Jahre, als der Hass auf alles Differente, das vom islamistisch verengten Kanon des Islam abwich, zu unsäglichen Gewalttaten geführt hatte.

Herausforderungen

Alltagsbedürfnisse sehbehinderter Darsteller sind erheblich höher als die von sehenden Schauspielern. Wer zu weit weg wohnte, musste während der Probezeit in Theaternähe untergebracht werden. In der Mittagspause in ein Restaurant zu gehen, hätte zu viel Zeit gekostet. Die Kosten für das Catering und die Unterbringung trug das Theater. Es gewährte den Darstellern dieselben Honorare wie professionellen Schauspielern.

Die begabte, aber überaus schüchterne Hakima Boudra hatte Schwierigkeiten, weil sie sich nicht überwinden konnte, im Theater zu essen und die Toilette zu benutzen. Erst als sie vor die Wahl gestellt war, sonst ausscheiden zu müssen, überwand sie ihre Scheu. Hakima wuchs dann erfolgreich in eine Rolle hinein, die ihrem Charakter vollkommen entgegengesetzt war – die herrische Heroldin einer Schildkrötenkönigin. Auch Abdelkader Hamidi wurde im Gegensatz zu seinem Erscheinungsbild eingesetzt. Er litt an der Mondkrankheit, einer mit Blindheit einhergehenden Hauterkrankung, bei der Kontakt mit Sonnenlicht vermieden werden muss. Der sehr schwach wirkende, in der Schule aber erfolgreiche Gymnasiast stellte einen jungen Affen dar, der den alten Affenkönig im Zweikampf entthront. Abdelkader und Hakima gewannen durch ihre Mitwirkung im »Salon der Freunde« an Selbstbewusstsein. Hakima erschien morgens bald ohne Begleitung im Theater. Abdelkader wollte plötzlich nicht mehr Medizin studieren, sondern strebte eine Ausbildung als Schauspieler an.

Bemerkenswert waren auch Persönlichkeitsveränderungen bei der zehnjährigen Mbarka, die zuvor in der Schule eher schlecht abgeschnitten hatte. Auf die Bühne gestellt, beherrschte sie als erste das gesamte Stück und korrigierte die anderen. Sie spielte eine quicklebendige Affenprinzessin und wurde fortan auch eine bessere Schülerin. Acht Jahre später schloss sie die Schule mit dem Abitur ab.

Amine Bensafi, Vorsitzender des Sehbehindertenvereins von Oran, ein Lehrer, der in seiner Freizeit auch die Laptops für die Sehbehinderten reparierte, spielte die Hauptrolle: den alten, ins Exil gezwungenen Affenkönig. Dieser befreundet sich mit der Schildröte Daya, fabelhaft dargestellt von der Bibliothekarin Ouarda Boulila. Mohammed Lehoueli, zweiter Vorsitzender des Oraner Sehbehindertenvereins, intervenierte von Zeit zu Zeit als Erzähler. Für die musikalische Begleitung sorgte Samir Mrabet, ein sehbehinderter Professor am Konservatorium von Sidi Bel Abbès.

Unbeabsichtigt fand die Premiere dann doch im Dunkeln statt. Aufgrund eines Unwetters war die Stromversorgung des Theaters zusammengebrochen. Normalerweise hätten die Zuschauer nach Hause gehen müssen. Aber das Spiel von Sehbehinderten wird durch Dunkelheit nicht beeinträchtigt, und dem Publikum gelang es ohne Schwierigkeiten, sich auf die rein akustische Wahrnehmung des Spiels einzulassen. Auch hier bestätigte sich, was Saddek El-Kebir dem ihn inspirierenden Buch »Anatomie der Sinne« von Waltraud Beyer-Naumann² entnommen hatte: Fällt einer der fünf Sinne aus, können sich die anderen in ungeahnter Weise schärfen und den fehlenden Sinn zumindest teilweise ausgleichen. Spätere Aufführungen fanden dann mit Beleuchtung statt.

Obwohl der »Salon der Freunde« ein medial stark beachtetes Projekt war, konnte El-Kebir erst 2016 ein weiteres Stück mit Sehbehinderten in Sidi Bel Abbès inszenieren, was wiederum auf die Initiative von Direktor Assous und seines Hauptinspizienten Abbas Touil zurückging. Touil war schon 2012 das organisatorische Herz der Inszenierung gewesen. Damals begann er auch, Theater mit Gefangenen zu inszenieren.

»Ödipus« adaptiert

2016 sollten Sehbehinderte »Ödipus« in einer Adaption des ägyptischen Autors Taufik El-Hakim (1898–1987) auf die Bühne bringen. Diese Version des sophokleischen Stücks ist wegen ihrer energischen Infragestellung familienpolitischer Traditionsbestände bis heute nicht nur für eine islamische Gesellschaft eine starke Provokation. Ödipus, nuancenreich gespielt von Bensafi, äußert Königin Jokaste gegenüber am Ende des Stücks einen, den Inzest scheinbar banalisierenden Satz: »Wenn du mir auch Frau und Mutter bist – ich liebe dich und werde dich immer lieben!« Ansonsten rollt das Stück fast in gewohnter Manier als hochspannende kriminalistische Untersuchung eines Doppelverbrechens ab, von dem der Hauptermittler Ödipus lange nicht weiß, dass er es selbst begangen hat. Aber nicht das von Sophokles und den meisten seiner Nachfolger als Hauptbotschaft herausgestrichene Inzestverbot steht hier im Fokus. El-Hakim wollte zeigen, wie eine glückliche Familie nicht nur durch politische Intrigen, sondern auch durch Festhalten an Konventionen sinnlos zerstört wird. Die Skandalisierung des unwissentlich begangenen Vatermords und des unwissentlich begangenen Inzests werden hier als Vorwand Kreons deutlich, um seinen Schwager, den populären König Ödipus, vom Thron zu stoßen. Nachdem er sich seiner Schuld bewusst geworden ist, will auch El-Hakims Ödipus auf die Herrschaft über Theben verzichten. Aber zugleich kämpft er darum, sein familiäres Glück mit Frau und Kindern im Exil fortzusetzen. Um die dennoch unweigerlich eintretende Familientragödie zu vertiefen, gab El-Hakim dem Kind Antigone eine tragende Rolle, die sie weder bei Sophokles noch in anderen Versionen hat: Das anfangs fröhliche Mädchen erlebt fassungslos den Suizid der Mutter und die darauf folgende Selbstblendung des Vaters.

Mit Nacera Choulis darstellerischen und stimmlichen Fähigkeiten war eine geradezu ideale Jokaste gefunden worden. Ein Glücksfall – sie verkörperte einen zugleich erotisch und mütterlich strahlenden Frauentyp. Auch sie war keine professionelle Schauspielerin. In einem gewaltsam ausgetragenen Ehekonflikt war sie erblindet und kämpfte sich seitdem schwer durchs Leben. Sehbehindert waren auch die Studentin Roumaissa Lahmar Belhadj, die eine ausdrucksstarke Antigone darstellte, sowie die beiden ebenfalls studierenden jungen Mädchen Fatima Hamchérif und Mounia Salaa. Mangels geeigneter männlicher Kandidaten – Hamidi war inzwischen gestorben und Lehoueli stand nicht zur Verfügung – übernahmen sie die Rollen des Boten und des Schäfers als Botin und Schäferin, von denen Ödipus schließlich die Wahrheit erfuhr. Thronursupator Kreon und – ausgerechnet – der blinde Seher Theresias mussten von den sehenden professionellen Schauspielern Amin Bouterfas und Ahmed Ben Khal übernommen werden. Beide am Theater von Sidi Bel Abbès fest engagierte Mimen nahmen aus solidarischem Interesse an dem Projekt teil. Sie blieben auch bei ihrer Entscheidung, als sich herausstellte, dass die sehbehinderten Laien ebenbürtige schauspielerische Fähigkeiten entwickelten.

Für die »Ödipus«-Tragödie standen mehr Mittel zur Verfügung als für den »Salon der Freunde«. Bei der ersten Inszenierung hatte eine zum Boxring gespannte Kordel für die Sicherheit der sehbehinderten Darsteller gesorgt. Nun legte der Bühnenbildner Yahia Benamar einen Kreis aus einem von innen beleuchteten Plastikrohr auf den Bühnenboden, das Orientierung gab. Darüber erhob sich aus ähnlichem Material die Silhouette des Königspalastes. Auch diese Inszenierung machte eine Tournee durchs ganze Land und nahm an Theaterfestivals teil. Nach Meinung vieler Fachleute erhielt sie ungerechterweise keinen Preis.

Gestiegene Akzeptanz

Die Coronapandemie beeinträchtigte auch das algerische Theaterleben. Erst Ende 2022 konnte eine dritte Inszenierung mit Sehbehinderten begonnen werden. In den Jahren zuvor war die Wahrnehmung der Probleme behinderter Menschen in Algerien deutlich gestiegen. Auch beeindruckte die Leistung behinderter Athleten, die bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio mehr Medaillen für Algerien errangen als die nichtbehinderten Sportler. Jetzt forderten mehrere Theater El-Kebir auf, ein Stück mit Sehbehinderten zu inszenieren. Diesmal plante er, auch nach gehörlosen Darstellern zu suchen. Außerdem sollte die Vorstellung durch eine Deskription für sehbehinderte und durch Gebärdensprache für gehörlose Zuschauer zugänglich gemacht werden. Als sich El-Kebir wegen der guten technischen Ausrüstung bereits für das Nationaltheater in Algier entschieden hatte, kam energischer Protest aus Sidi Bel Abbès, wo man schließlich die ersten beiden Inszenierungen möglich gemacht hatte. Schließlich einigte man sich auf eine Koproduktion. Die eigentliche Arbeit am Stück sollte in Sidi Bel Abbès stattfinden, weil dort mit einem Kern bereits erfahrener Darsteller gerechnet werden konnte, der sich auch zum ersten Casting, im November 2022, einfand.

Diesmal schlug El-Kebir erneut ein Stück vor, das auf Sophokles zurückgeht: »Antigone« – in der arabischen Übersetzung des literarischen Wegbereiters der ägyptischen Moderne, Taha Hussein (1889–1973), der selbst sehbehindert war. Die Geschichte der beiden Söhne des Ödipus, Eteokles und Polyneikes, die sich im Kampf um die Macht gegenseitig umbringen, ließ sich wieder auf den algerischen Bürgerkrieg adaptieren, in dem sich islamistisch-theokratische und demokratisch orientierte Algerier gegenübergestanden hatten. Ouissem Rahmani, El-Kebirs Assistentin, erarbeitete eine Adaption, die Husseins sehr ans klassische Arabisch angelehnte Sprache für das heutige algerische Publikum anpasste.

Im Stück richtet der erneut von einer Machtvakanz profitierende Kreon ein Staatsbegräbnis für Eteokles aus und verbietet, Polyneikes, der sich gegen ihn gestellt hatte, zu begraben. Der Leichnam wird vor der Stadt den Geiern preisgegeben. Die Schwester Antigone – als Vertreterin der überkommenen humanistischen Moral – schleicht sich mehrfach nachts zu der Leiche und bestreut sie mit Staub, was den wachhabenden Soldaten nicht entgeht. Antigone widersetzt sich den eindringlichen Bitten ihrer Schwester Ismene, von ihrem Tun abzulassen, wie auch dem Versuch Kreons, dies vor der Öffentlichkeit zu verschleiern. Hier konnte das algerische Publikum eine Parallele zu dem »Concorde Civile« genannten Stillschweigen erkennen, das Präsident Abdelaziz Bouteflika nach dem Bürgerkrieg der Gesellschaft verordnet hatte. Statt der zunächst angekündigten juristischen Aufarbeitung wurden Gewaltverbrecher und ihre Befehlshaber verschont und sogar mit materiellen Zuwendungen ruhig gestellt, während weder ihre Opfer oder deren Verwandte noch die Medien sie anklagen durften. Eine Aufarbeitung dieses Bruderkrieges fand ebensowenig statt wie im antiken Drama des Sophokles.

»Also sprechen und schreiben wir«

Da eine Klassikeradaption nicht zu vollkommener Parallelisierung führen kann, wurden zur Orientierung des Publikums dem Stück mehrere kurze Filmporträts ermordeter algerischer Intellektueller vorangestellt: Mohammed Boudia, der das Nationaltheater nach der Unabhängigkeit als erster leitete, zugleich aber auch in den Reihen der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) kämpfte und 1973 in Paris durch eine Autobombe des Mossad getötet wurde. Abdelkader Alloula, Leiter des Theaters von Oran, wurde 1994 Opfer eines islamistischen Attentats. Azzedine Medjoubi, Leiter des Nationaltheaters in Algier, wurde ein Jahr später von einem islamistischen Kommando erschossen. Und Tahar Djaout, ein auch literarisch erfolgreicher, sehr bekannter Journalist, der 1993 einer der ersten im Bürgerkrieg von Islamisten ermordeten Intellektuellen war. Die Darstellerin der Antigone spricht seinen berühmten Satz: »Wenn wir sprechen, müssen wir sterben, wenn wir schreiben, müssen wir sterben, wenn wir schweigen, müssen wir sterben. Also sprechen und schreiben wir.«

Rasch stand fest, dass Amine Bensafi zum dritten Mal einen König – diesmal den Kreon – spielen würde. Wie ergreifend Fatima als Antigone und Mounia als Ismene – im »Ödipus« waren sie Schäferin und Botin gewesen – schon bei den ersten Proben die Dialoge der beiden Schwestern meisterten, war eine große Überraschung. Ihre überschwängliche Emotionalität musste wieder etwas zurückgeschraubt werden. Der schüchterne Abdelsamai Ben Dada, der Haimon spielen sollte, hatte offenbar noch keinerlei Liebeserfahrung und tat sich in der Rolle von Antigones Verlobten zunächst schwer, bewältigte sie aber immer besser. Ein großer Glücksfall waren zwei Brüder, die El-Kebir während einer Castingreise im ostalgerischen Batna entdeckt hatte. Die beiden stark sehbehinderten Zwillinge Houcine und Hacène Ferroudj waren bereits erfolgreich als Analogkünstler in der Unterhaltungsbranche tätig und hatten lange vergeblich versucht, auch auf der Bühne Fuß zu fassen. Nun fiel es den beiden Improvisationstalenten nicht leicht, sich an einen festen Text zu halten. Dass El-Kebir den Boten durch zwei analog Spielende darstellen ließ, erhöhte die Strahlkraft der Rolle erheblich.

Die Integration gehörloser Behinderter in die algerische Gesellschaft ist bislang weniger erfolgreich als die Integration Sehbehinderter. Während letztere schon lange alle Bildungsgänge durchlaufen können, können Gehörlose dank digitaler Techniken erst jetzt Universitäten besuchen. Die Kommunikation bei der Theaterarbeit musste ein Dolmetscher vermitteln. Den Text zu verstehen und sich einzuprägen war für die gehörlosen Darsteller viel schwieriger als für die Sehbehinderten. Aber die Gebärdensprache, mit der Mahdi Ben Atia und Muni Seddouki – die beiden Wächter des Leichnams von Polyneikes – den beiden Boten und später Kreon erklären, was sie nicht und schließlich doch gesehen haben, verlieh diesen Szenen besondere theatralische Wirksamkeit. Wenn die beiden Gehörlosen nicht selber spielten, erklärten sie am linken und rechten Rand der Bühne den gehörlosen Zuschauern den Verlauf in Gebärdensprache.

Lange wurde nach einem Theresias gesucht, bis er schließlich in Aschraf Bou Abdelallah gefunden wurde, der eigentlich nur ein Praktikum im Rahmen eines Bühnenbildstudiums absolvierte. Dass in Algerien Sehbehinderte ein solches Studium aufnehmen können, lässt sich nur als Relikt großzügiger radikalsozialistischer Prinzipien erklären. Zum Bühnenbild konnte Aschraf kaum etwas beitragen, aber er verfügte über eine schöne, starke Stimme. Da er – anders als die anderen Sehbehinderten – keinen »Bühnengang« entwickeln konnte, wurde für ihn ein chinesisches Schattenspiel erfunden: Der weise Theresias, der hier als die eigentliche Macht im Staate auftritt, agiert als großer Schatten hinter einer Leinwand, während Kreon im Vordergrund mit ihm diskutiert. Die Leinwand bot sich auch für andere Szenen an: Antigones Schatten beugt sich über den toten Polyneikes und streut langsam Staub (aus Reis) über ihn.

Groß war die Darstellung der Königin Eurydike durch Roumaissa, die im »Ödipus« 2016 das Mädchen Antigone gespielt hatte. Die Szene, in der Kreon sie zu dem toten Haimon führt, den sie verzweifelt abtastet und wieder zum Leben zu erwecken sucht, wurde ein Höhepunkt der Inszenierung.

Das am längsten ungelöste Problem blieb die Musik. El-Kebir hatte an ein einziges Instrument gedacht: die düstere Tuba. Es stellte sich aber heraus, dass die Tuba in Algerien nicht gespielt wird und bestenfalls als Begleitinstrument westlicher Musik bekannt ist. Trauer wird nur mit der Flöte, allenfalls mit der Klarinette, ausgedrückt. Samir Mrabet, der die Musik für den »Salon der Freunde« und für »Ödipus« arrangiert hatte, mochte sich eine auf die Tuba beschränkte Musik überhaupt nicht vorstellen. Das fiel auch Azzedine Kada Filalli, einem Musiklehrer aus Oran, der ihn später ersetzte, zunächst schwer. Erst, als El-Kebir auf die Idee kam, ihm den Trailer des Films »Shining« von Stanley Kubrick vorzuspielen, konnte er sich auf die Tuba einlassen.

Nichts verbergen

Der übliche Schluss des »Antigone«-Stücks, wonach sich der auf ganzer Linie gescheiterte Kreon wie einst Ödipus in ein freiwilliges Exil begibt, wurde geändert und – aus heutiger Sicht – realistisch verschärft: Theresias lässt Kreon verhaften und führt Ismene, die einzige Überlebende des Herrscherhauses, auf den Thron. So können die mit ihm verbundenen Wirtschaftsclans auf fortgesetzte Komplizenschaft zählen.

Anders als 2012, als die Sehbehinderten im Dunklen spielen sollten, und auch anders als beim »Ödipus«, als die Sehbehinderten sich bemühten, wie Sehende zu spielen, wurden sie diesmal ermuntert, ihre Behinderung nicht zu verbergen. Zum Beispiel, wenn nötig, einander mit ausgestreckten Armen zu suchen. Die letzten Proben wurden im Nationaltheater in Algier abgehalten. Dort fand am 14. März vor ausverkauftem Saal die Premiere statt. Seit dem Ende des Ramadan Ende April touren die sehbehinderten und gehörlosen Darsteller mit dem Stück durch ganz Algerien.

Anmerkungen

1 Saddek El-Kebir studierte 1967–1972 in Berlin (DDR) Theaterwissenschaften. Sabine Kebir hat mit ihm zusammen maghrebinische Märchen für Kinder und Jugendliche auf deutsch, arabisch, französisch und kabylisch publiziert und seine Film- und Theaterprojekte dramaturgisch begleitet. Bei den Inszenierungen in Sidi Bel Abbès war sie auch als Fotografin beteiligt.

2 Waltraud Beyer-Naumann: Anatomie der Sinne im Spiegel von Philosophie, Ästhetik, Literatur, Köln/Weimar/Wien 2003. Beyer-Naumann verfolgt hier den Sichtwandel auf die menschlichen Sinne von der Antike bis zur Gegenwart.

Sabine Kebir schrieb an dieser Stelle zuletzt am 10. Februar 2023 über eine US-Inszenierung der »Dreigroschenoper« mit afroamerikanischen Schauspielerinnen und Schauspielern.

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