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Aus: Ausgabe vom 09.05.2023, Seite 11 / Feuilleton
Politisches Lied

»Es war das Ende einer großen Hoffnung«

Über den Putsch in Chile vor 50 Jahren, das Erbe Allendes und den Abend »Por Todo Chile« in der jW-Maigalerie. Ein Gespräch mit Gina Pietsch
Von Peter Merg
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»Jeder Künstler, der auf sich hielt, hat sich solidarisch erklärt.« (KP-Chef Luis Corvalán besucht die DDR, 1977)

Mit dem Abend »Por Todo Chile« erinnern Sie am Donnerstag mit Fabio Costa in der Berliner Maigalerie an den 50. Jahrestag des rechten Putsches gegen die Allende-Regierung in Chile und das blutige Ende des »chilenischen Wegs zum Sozialismus«. Wie haben Sie den Putsch damals in der DDR wahrgenommen?

Mich erschreckte der Putsch aufs äußerste. Ich hatte die Vorgänge in Chile seit Beginn der Unidad Popular sehr intensiv verfolgt, war von Allendes Ankündigung, im Falle seines Wahlsieges die DDR völkerrechtlich anzuerkennen, begeistert gewesen, kannte seit dem zweiten Festival des politischen Liedes die Gruppe Quilapayún, hatte mich mit jedem Festival mit weiteren chilenischen Künstlern wie Inti-Illimani, Isabel und Ángel Parra und mit Violeta Parras zweiter Tochter Luisa, die ins Stadion musste (wo die politischen Gefangenen interniert und teilweise ermordet wurden, jW), angefreundet. Um alle, die ich nun schon kannte, musste man bangen, um Allende, Víctor Jara, Pablo Neruda trauern. Es war das Ende einer auch für mich großen Hoffnung, die wieder aufzubauen mindestens bis Nicaragua dauerte (wo 1979 die Revolution siegte, jW).

Wie hat die DDR-Kulturszene auf den Putsch reagiert?

Wir wussten damals noch nicht, dass es 40.000 Opfer dieser Diktatur, mindestens 3.200 Tote, mindestens 28.000 Gefolterte, unzählige Verschwundene geben würde, dass bekannte Täter durch Amnestie geschützt, Folterer und Mörder nicht bestraft würden, vor zehn Jahren erst die Festnahmen von Víctors Mördern erfolgen würde. Dass auch Neruda ermordet wurde, war unvorstellbar. Bei allen, mit denen ich verbunden war, ein großer Schrecken, eine große Angst um die, die man kannte, eine Soliveranstaltung um die andere.

Die Solidarität mit den Verfolgten in Chile hat in der DDR eine große Rolle gespielt. Wie hat sich das auf kultureller Ebene ausgedrückt?

Jeder Künstler, der auf sich hielt und mehr wollte, als Geld verdienen, hat sich solidarisch erklärt und Víctors, Quilas und Intis Lieder gesungen, so es ihm möglich war. Viele neue sind entstanden. Ich habe bei vielen Kollegen gespürt, dass es ihnen wie mir ging – eine Herzensangelegenheit war das, von großem Informationsinteresse getragen, ermöglicht zum Beispiel durch die Filme von Gerhard Scheumann und Walter Heynowski oder die Fotos von Thomas Billhardt. Zu unserem Bestreben, Solidarität zu zeigen, gehörte freilich nicht viel Mut, denn unser Staat stand ja genauso dahinter. Ich habe mit meiner Gruppe »Jahrgang 49« 1978 in vier lateinamerikanischen Ländern ­singen dürfen, natürlich nicht in Chile, aber immer ging es um die mutigen Kämpfe der Menschen und die ungeheure Trauer um deren Schicksale. Daniel Vigliettis Song »Por Todo Chile« fehlte in keinem unserer Auftritte, was uns in Ecuador und Peru Auftrittsverbote, in Venezuela Ausweisung am Flughafen einbrachte.

Was ist das Konzept des Abends, welche Lieder haben Sie dafür ausgesucht?

Wir wollen uns erinnern an einen »neuen Weg« der drei große Jahre lang begangen wurde, ein friedlicher, unblutiger, parlamentarischer, »chilenischer Weg«, im ersten Land der Welt, in dem 1970 ein sozialistischer Präsident demokratisch gewählt wurde. Bei seinem Amtsantritt leidet die Bevölkerung Hunger, die Kindersterblichkeitsrate liegt bei rund 30 Prozent. Aber nun halten die Unterdrückten den Atem an. Das Wahlprogramm Allendes am 4. September 1970 enthält 40 Maßnahmen, die den Menschen das versprachen, was ihnen jahrhundertelang versagt war.

Wir wollen in Liedern, Texten und Moderationen über die gewaltigen Fortschritte sprechen, die die Unidad Popular in dieser kurzen Zeit errang. Wir wollen aber auch sprechen über durch zu große Hoffnungen begangene Fehler, die sehr an die der Pariser Kommune hundert Jahre zuvor erinnern. Letzteres fällt mir sehr schwer, der Liebe zu diesen wunderbaren Menschen geschuldet, scheint mir aber nötig.

Welche Lieder? Ich kann hier nicht alle 17 Lieder und vier großen Gedichte nennen. Da wir den Abend machen anlässlich vierer 50. Todestage, die von Pablo Neruda, Víctor Jara, Salvador Allende und der Unidad Popular, werden die vier in Liedern, Texten und Moderationen natürlich Thema sein. Meiner eigenen Tradition und politischen Gesinnung entsprechend natürlich auch Brecht und Violeta Parra, León Gieco, Franz Josef Degenhardt und Dieter Süverkrüp.

Worin besteht die Bedeutung des »chilenischen Wegs« heute?

Allende hat das in seiner letzten Rede in der Moneda so gesagt: »Ich bin sicher, dass die Saat, die wir im Bewusstsein Tausender und Abertausender Chilenen gesät haben, nicht vollständig ausgelöscht werden kann.« Und er hat recht behalten. Die Revolte vom 18. Oktober 2019 holte 1.300.000 Menschen auf die Straße, dank der Jugendlichen, der Frauen, des großartigen Volkes Chiles, das wieder mit Mut und Klugheit kämpft, mit neuen Liedern und mit den großen, die die Unidad Popular sang. Wir alle wissen, welchen langen Atem sie brauchen werden, aber – nun Neruda: »Sie können wohl alle Blumen abschneiden, aber sie können den Frühling nicht verhindern.«

Gina Pietsch, Jahrgang 1946, ist Sängerin und Schauspielerin. In der DDR war sie unter anderem bei »Jahrgang 49«, der ersten professionellen Gruppe des politischen Liedes. Ihr Programm »Por Todo Chile« mit Fabio Costa feiert am Donnerstag in Berlin Premiere.

»Por Todo Chile« – Ein Abend anlässlich von vier 50. Todestagen. Pablo Neruda, Víctor Jara, Salvador Allende, Unidad Popular. Maigalerie, Torstr. 6, Berlin

Wartelistenplätze unter: maigalerie@jungewelt.de oder Tel.: 0 30/53 63 55-37

ginapietsch.de

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