Multipolare Ära
Von Jörg Kronauer
Chinas Aufstieg verändert die Welt. Der Volksrepublik ist es nicht bloß gelungen, sich aus der Armut zu befreien. Ökonomisch erstarkt, ist sie längst zu einem Machtfaktor geworden, der die globale Dominanz des Westens in Frage stellt. Der reagiert, indem er China immer schärfer attackiert – per Wirtschaftskrieg und mit einem militärischen Aufmarsch, der einen dritten Weltkrieg befürchten lässt.
Jörg Kronauer beleuchtet in der zwölfteiligen jW-Serie anhand zentraler Aspekte die Konsequenzen, die sich aus dem Aufstieg der Volksrepublik für die internationalen Beziehungen ergeben. (jW)
Es ging nicht nur um Ökonomisches, als Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva Mitte April zu Gesprächen mit seinem Amtskollegen Xi Jinping nach China reiste. Man habe auch gemeinsame »politische Interessen«, erläuterte Lula im Gespräch mit der Financial Times. Es gehe darum, eine »neue Geopolitik zu etablieren« und gemeinsam »die Regierung der Welt zu verändern«. Dazu wolle man »den Vereinten Nationen stärkere Geltung verschaffen«. »Über Jahrhunderte«, hatte Lula zuvor gegenüber dem chinesischen Sender CGTN geäußert, »waren nur einige wenige Länder stark und mächtig, und sie haben über die Geschicke der Welt bestimmt«. Diese Ära, daran ließ der brasilianische Präsident keinen Zweifel, neige sich dem Ende zu.
Chinas Aktivitäten in Südamerika wurden im Westen – anders als die in Afrika – lange Zeit kaum wahrgenommen. Zu Unrecht. Denn der Einfluss des Landes im Amerika südlich der USA ist in den vergangenen 20 Jahren deutlich angewachsen. Wie üblich begann es mit dem Ausbau des Handels. Das Gesamtvolumen im Außenhandel zwischen China und den Ländern Südamerikas betrug im Jahr 2000 zwölf Milliarden US-Dollar, im Jahr 2021 lag er bei knapp 450 Milliarden. Die Volksrepublik war damit zum zweitgrößten Handelspartner ganz Südamerikas aufgestiegen. Lediglich in Mexiko lagen die Vereinigten Staaten noch klar vorn – aufgrund der zahlreichen Maquiladoras (multinationale Fabriken) an der mexikanischen Grenze zu den USA.
Chinas Einfluss in Lateinamerika ist in einer Zeit gewachsen, in der der Einfluss der USA zurückging. Washington hatte Anfang der 2000er Jahre noch versucht, den gesamten Kontinent mit einem Freihandelsabkommen (Free Trade Area of the Americas, FTAA) zu einem festen Wirtschaftsblock zu formen. Die Verhandlungen scheiterten; dann verkämpften sich die USA im Mittleren Osten, eskalierten den Machtkampf gegen Russland und schließlich denjenigen gegen China. Wenngleich das Potential noch genügte, um in Südamerika den einen oder anderen Putsch zu unterstützen, Kraft genug, die Dominanz in der Region zu erhalten, blieb nicht. Washingtons Ruf auf dem Kontinent habe »spürbar gelitten«, und zwar vor allem »aufgrund der gewaltigen Lücke« zwischen seinem »Anspruch auf bedeutungsvolle Führung und seiner zugleich zu beklagenden Desinteresse an der Region«, konstatierte im Juni 2022 Foreign Affairs. Das und Chinas wachsender Einfluss veranlassten die US-Fachzeitschrift zu der Prognose, da dämmere wohl ein »postamerikanisches Lateinamerika« herauf.
Wie Chinas ökonomischer Einfluss in politischen übergeht, lässt sich gut am Beispiel Brasilien nachvollziehen. Die Volksrepublik war schon im Jahr 2009 zum größten Handelspartner des Landes aufgestiegen; zuletzt nahm sie 31,3 Prozent aller brasilianischen Exporte ab. Auf Rang zwei folgten die USA mit lediglich 11,2 Prozent. Als der bekennende Trump-Fan und China-Hasser Jair Bolsonaro 2019 in Brasília das Präsidentenamt antrat, gelang es ihm nicht einmal, den chinesischen Konzern Huawei aus den brasilianischen 5G-Netzen fernzuhalten: Brasiliens große Agrar- und Rohstoffkonzerne, auf die Bolsonaro seine Macht stützte, waren nicht geneigt, aus bloßer Rücksicht auf US-Interessen die Beziehungen zu ihrem längst unersetzlichen Absatzmarkt, der Volksrepublik, zu beschädigen.
Unter Lula geht Brasilien nun den nächsten Schritt. Bisher fungierte das Land vor allem als Rohstofflieferant für die Volksrepublik. Jetzt will Brasília eine Ära der Reindustrialisierung einleiten, und es fordert dazu Unterstützung von Beijing. Chinesische Unternehmen sollen in Zukunft nicht mehr in Rohstoff-, sondern in Hightechprojekte in Brasilien investieren; der Austausch in Forschung und Wissenschaft soll intensiviert werden. Zudem werden die beiden Länder, wie eingangs erwähnt, an einer »neuen Geopolitik« arbeiten, an einer Ära der Multipolarität. Und: Weitere Länder Lateinamerikas werden wohl folgen. Argentinien etwa hat erklärt, dem BRICS-Bündnis beitreten zu wollen. Das Ende der Absetzbewegung vom Westen, die da begonnen hat, ist noch längst nicht erreicht.
Teil vier: »China in Afrika«
Teil sechs: »Der Wirtschaftskrieg«
der zwölfteiligen China-Serie von Jörg Kronauer
Lesen Sie am Wochenende Teil 6 (von 12): China und der Wirtschaftskrieg
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Thomas K. aus Neuss (6. Mai 2023 um 08:17 Uhr)China – eine Perspektive für Linke? Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass Kronauer vor lauter Faszination vom Wiederaufstieg Chinas zur ökonomischen und politischen Weltmacht, die erfolgreich den USA Paroli bieten kann, vergisst, dass es sich bei der Volksrepublik um eine waschechte Klassengesellschaft handelt, mit einer riesigen industriellen Reservearmee in der Hinterhand, die als Lohndrückermannschaft die überragenden Konkurrenzvorteile sichert. Die Pflege ihres produktiven Menschenmaterials durch sozialstaatliche Maßnahmen sowie die imperialistischen Übergriffe auf die Ressourcen der Welt werden bei Kronauer als menschheitsbeglückende Wohltaten verklärt und gefeiert.
In der Serie Auf dem langen Marsch. Chinas Aufstieg
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Chinas Aufstieg verändert die Welt. Der Volksrepublik ist es nicht bloß gelungen, sich aus der Armut zu befreien. Wirtschaftlich erstarkt, ist sie längst zu einem Machtfaktor geworden, der die globale Dominanz des Westens in Frage stellt. Der reagiert, indem er China immer schärfer attackiert – per Wirtschaftskrieg und mit einem militärischen Aufmarsch, der einen dritten Weltkrieg befürchten lässt.
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