Sentimentale Kritik
Von Klaus Müller
In dieses Jahr fällt der 400. Geburtstag William Pettys, der 300. Geburtstag Adam Smith’, der 250. Geburtstag Simonde de Sismondis und der 200. Todestag David Ricardos. In einer vierteiligen Serie erinnern wir an die großen Ökonomen, auf die Karl Marx rekurrierte. (jW)
Ist der Romantiker ein weltfremder, gefühlsbetonter Träumer von einer besseren Welt? Einer, der das Heil sucht in der Vergangenheit? In gewisser Weise treffen die Merkmale auf Sismondi zu, den Lenin zur ökonomischen Romantik zählt. Doch mit dieser Charakteristik allein wird man dem großen Franzosen nicht gerecht. Denn die Romantik ist vor allem Ausdruck des Unbehagens und der Kritik an der Menschenfeindlichkeit der sich herausbildenden kapitalistischen Gesellschaft. Keiner vor ihm hat ihre Gebrechen so klar benannt wie Sismondi. Das ist sein Verdienst. »Wenn in Ricardo die politische Ökonomie rücksichtslos ihre letzte Konsequenz zieht (…), ergänzt Sismondi diesen Abschluss, indem er ihren Zweifel an sich selbst darstellt.« Mit diesen Worten betont Karl Marx die Sonderstellung Sismondis und weist ihm einen Ehrenplatz in der Geschichte des ökonomischen Denkens zu. David Ricardo hat in England die klassische bürgerliche politische Ökonomie vollendet, der Franzose Sismondi krönt sie, indem er ihr eine fundierte Kritik der gesellschaftlichen Missstände hinzufügt.
Leben
Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondi wurde vor 250 Jahren, am 9. Mai 1773, in Genf als Sohn des Pastors Gédéon-Francois Simonde geboren. Er entstammte einer alten italienischen Adelsfamilie, die im Jahre 1524 aus Pisa nach Frankreich eingewandert war. Die sich zum Protestantismus bekennende Hugenottenfamilie war gezwungen, nach der 1685 erfolgten Aufhebung des Edikts von Nantes – es hatte den Protestanten Toleranz und Bürgerrechte gewährt – das katholische Frankreich zu verlassen und in die Schweiz überzusiedeln. Seine Kindheit verbrachte Sismondi auf dem Landsitz seiner vermögenden Eltern nahe seiner Geburtsstadt. Er schloss 1792 eine kaufmännische Lehre ab und begann im selben Jahr an der Genfer Akademie ein Studium der Rechtswissenschaften. Er musste es ein Jahr darauf abbrechen, weil seine Familie vor der Genfer Revolution nach England flüchtete, wo sie eineinhalb Jahre lebte.
Nach einem anschließenden Aufenthalt in der Toskana, nahe der Stadt Florenz, kehrte Sismondi im Herbst 1800 nach Genf zurück. Die Stadt gehörte seit 1798 zu Frankreich. Hier widmete er sich der literarischen Tätigkeit und nahm an Gesprächen von Schriftstellern und Gelehrten teil, die sich um Madame de Staël im Schloss Coppet am Genfer See scharten. Zum Gesprächskreis gehörten herausragende Persönlichkeiten aus ganz Europa, so auch Friedrich Schlegel, August Wilhelm Schlegel und Adelbert von Chamisso, allesamt bedeutende Vertreter der literarischen und philosophischen Romantik. Im Jahre 1819 heiratete Sismondi die Engländerin Jessie Allen, eine Tante von Charles Darwin. Die Ehe blieb kinderlos. Sismondi wird als weichherziger, gutmütiger und empfindlicher Mann beschrieben, als ein treuer Freund, fürsorglicher Sohn und vorbildlicher Gatte. Zeitgenossen berichteten, Sismondi sei von Kindheit an täppisch und ungeschickt gewesen, was ihn zum Stubengelehrten prädestiniert habe. Er arbeitete später unermüdlich, saß bis zum Ende seines Lebens täglich acht und mehr Stunden am Schreibtisch.
Das Werk und seine Zeit
Von Geburt und im Herzen Genfer, war Sismondi, wie der sowjetische Ökonom Andrej Anikin bemerkt, in Denkweise und in der Anlage seiner Werke Franzose. Aber auch die Italiener können ihn beanspruchen, hat er doch einen großen Teil seiner Forschungen der Geschichte und Wirtschaft Italiens gewidmet. Sismondi war des Lateinischen, Deutschen, Englischen, Spanischen und Portugiesischen mächtig. Er war Europäer und Kosmopolit im besten Sinne des Wortes. Sismondi gehört, schreibt Achim Toepel, der dessen Hauptwerk in der DDR herausgegeben hat, »zu den Denkern, die die wohl bewegteste Periode französischer Geschichte – das Jahrzehnt vor der bürgerlichen Revolution, die Revolution selbst« und die Jahrzehnte nach ihr – »mit wachen Verstande miterlebt und in ihren Schriften mitgestaltet haben«. Es war die Zeit gewaltiger Veränderungen im gesellschaftlichen Leben Europas: die Französische Revolution, die Napoleonischen Kriege, die Kontinentalsperre von 1806 bis 1813 – das Verbot, Waren aus England und seinen Kolonien zu importieren –, die industrielle Revolution und die ersten großen Wirtschaftskrisen des Industriekapitalismus, die sich zuerst in England zeigten.
Sismondi lebte in zwei entgegengesetzten Epochen: vor der Revolution in der des bürgerlichen Strebens nach Emanzipation, nach der Revolution in der Epoche, die vor allem die Kleinbürger desillusionierte. Beide Epochen prägten ihn. Vor allem sah Sismondi das große Elend des Volkes, für das er tiefes Mitgefühl empfand. So wurde er zum scharfen Kritiker des Kapitalismus und der bürgerlichen politischen Ökonomie. Er suchte nach Lösungen für die brennenden sozialen Probleme seiner Zeit. Toepel sagt, Sismondi gehöre »zu jenen in der Vergangenheit häufig anzutreffenden großen Gelehrten, deren wissenschaftliche Systeme eine umspannende Weite des geistigen Horizonts aufweisen. Neben der ökonomischen Theorie gibt es bei ihm die in sich abgeschlossene Staats- und Gesellschaftstheorie, in dem Buch ›Forschungen über die Verfassungen der freien Völker‹ niedergelegt, das gewaltige Geschichtswerk, in der 30bändigen ›Geschichte der italienischen Freistaaten im Mittelalter‹ und in der 33bändigen ›Geschichte der Franzosen‹ zu finden, und schließlich das sich aus vier Bänden zusammensetzende literarisch-historische Werk ›Die Literatur des südlichen Europas‹.« Die Vielfalt und die hohe Qualität seiner ökonomischen, philosophischen, historischen, literaturgeschichtlichen und rechtsphilosophischen Betrachtungen haben ihm viele Ehrungen eingebracht. Sismondi war Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Akademien und Gesellschaften in vielen Ländern Europas. Um in Ruhe und unabhängig wissenschaftlich arbeiten zu können, hat Sismondi das Angebot des Zaren Alexander (1777–1825), einen Lehrstuhl für Politische Ökonomie an der Universität Vilnius zu übernehmen, wie auch einen Ruf an die berühmte Sorbonne in Paris ausgeschlagen.
Ökonom
Die ökonomische Frühschrift Sismondis erschien 1801 in Genf und trug den Titel »Tableau de l’agriculture toscane«. Zwei Jahre später veröffentlichte er das erste größere ökonomische Werk »De la richesse commerciale«, wo er Inhalt und Entstehen des Handelsreichtums analysierte. Sismondi bekannte, ein glühender Anhänger der Lehren von Adam Smith (1723–1790) zu sein, dessen Freihandelslehre und Laissez-faire-Ansichten er zustimmte – jenes wirtschaftspolitische Leitbild privater Eigeninitiative und weitestgehender staatlicher Enthaltsamkeit, was ökonomische Angelegenheiten betrifft.
Im Jahre 1819 folgte sein ökonomisches Hauptwerk »Nouveaux principes de l’économie politique« (Neue Grundsätze der politischen Ökonomien). Dieses Buch sollte Sismondi bald in ganz Europa zu einem berühmten Ökonomen machen. Bemerkenswert ist, dass der Autor darin eine radikale Abkehr von Ansichten vollzog, die er früher vertreten hatte. Er verglich den Inhalt von Adam Smith’ Werk mit der sozial-ökonomischen Wirklichkeit seiner Zeit. Und musste feststellen, dass das freie Spiel der Kräfte, das egoistische Streben des Einzelnen nach Profit keineswegs, wie Smith und Ricardo angenommen hatten, zum größten Wohlstand aller führt. Im Vorwort zur ersten Auflage sagt er, zu dieser Einsicht sei er gelangt infolge der ersten Absatzkrise 1815 und angesichts des Leidens der Fabrikarbeiter und der Vernichtung des Wohlstandes der Bauern, deren Zeuge er in Italien, Frankreich und in der Schweiz gewesen war und von dem er auch aus England, Deutschland und Belgien wusste.
Sein Buch sei weniger das Ergebnis des gründlichen Studiums der Werke anderer Gelehrter. Seit Erscheinen seiner Frühschrift habe er nur wenige Fachbücher gelesen. Seine neuen Ansichten seien aus Beobachtungen der Wirklichkeit entstanden. Sie hätten ihn überzeugt, dass die Lehren von Smith, wie sie von Ricardo und anderen vertreten wurden, nicht richtig sein konnten. »Je mehr ich vorankam mit meiner Arbeit«, schrieb er, »um so überzeugter war ich von der Bedeutung und Richtigkeit der Änderungen, die ich am System von Adam Smith vornahm.« Es sei offensichtlich: Die Großindustrie bringe wenigen Wohlstand, aber der größte Teil der Bevölkerung darbe, nage am Hungertuch. Die Ökonomen und Philosophen nennen eine Nation reich, wenn »sie auf eine ungeheure Anhäufung von Reichtümern, auf eine vorbildliche Landwirtschaft sowie einen blühenden Handel stoßen, ferner Manufakturen vorfinden, die unaufhörlich die Produkte des menschlichen Fleißes vermehrten, und schließlich auf eine Regierung treffen, die über fast unerschöpfliche Schätze verfügt, wie z. B. England (…). Dabei lassen sie aber völlig außer acht zu untersuchen, ob diejenigen, die mit ihren Händen arbeiten und den ganzen Reichtum schaffen, nicht auf das äußerste beschränkt leben müssen (…). Eine Nation ist (…) nicht als reich zu bezeichnen, wenn der Reiche das gewinnt, was dem Armen verlorengeht (…).« Die alte ökonomische Wissenschaft lehre weder die Not und Ungleichheit zu verstehen, noch ihnen entgegenzuwirken.
Krisentheoretiker
Sismondi war der erste Ökonom, der eine Krisentheorie begründete. Das ist sein bleibendes Verdienst auf dem Gebiet der politischen Ökonomie und darin besteht seine theoriegeschichtliche Bedeutung. David Ricardo hatte sich nicht zum Krisenproblem geäußert, und Jean B. Say (1767–1832), der Franzose mit der Auffassung vom automatischen Marktgleichgewicht, hatte gar geleugnet, dass es Überproduktion geben könne. Jedes Angebot schaffe sich seine entsprechende Nachfrage stets selbst. Allenfalls könne es zu einer momentanen »Verstopfung der Absatzwege« kommen, wenn Produkte fehlten, die anderen die Absatzwege öffneten. Die periodische Überproduktion sei ihrem Wesen nach eine zufällige, leicht behebbare Unterproduktion.
Sismondis Argumentation gegen dieses Saysche Theorem ist bemerkenswert. Er geht bei seiner Krisenerklärung vom falschen Dogma Adam Smith’ aus, der den Wert des jährlichen Gesamtprodukts mit der Summe der Einkommen aus Lohn, Profit und Rente gleichsetzt, also den Wert des verbrauchten konstanten Kapitals (Maschinen, Material usw.) unberücksichtigt lässt. Der Wert der Produktion entspreche stets der Summe der Einkommen. Das Einkommen bilde die Nachfrage. Wie kann dann aber zuviel produziert werden? Sismondi meint, das Produkt eines jeden Jahres tausche sich gegen das Einkommen des jeweils vorangegangenen Jahres. Produktion und Absatz klafften auseinander, weil in einer wachsenden Wirtschaft das kleinere Einkommen der Vorperiode stets die höhere Produktion der laufenden Periode nachfragen und bezahlen müsse, wozu es nicht reiche. Die verzögerte Nachfragewirkung des Einkommens verursache die Krise. In den Lagern häuften sich unverkäufliche Waren, und zwar andauernd, weil die Möglichkeit zu konsumieren fortwährend kleiner sei als der Umfang der Produktion. Die kapitalistische Wirtschaft produziere mehr als sie verbrauchen könne.
Daher irrten Ökonomen wie Smith und Say, als sie vorschlugen, die Produktion auszudehnen, weil sie dadurch den Widerspruch zwischen der Produktion und der Konsumtion nur noch vergrößerten. Der einzige Ausweg aus der Krise sei der äußere Markt, eine Auffassung, die später Rosa Luxemburg in ihrer Kritik an den Marxschen Reproduktionsmodellen vertrat. Die Konzentration des Eigentums und des Vermögens in den Händen weniger verenge den Binnenmarkt. Die Produzenten seien gezwungen, ihre Waren auf fremden, äußeren Märkten zu verkaufen, eine Auffassung, der Lenin dezidiert widersprach. Vom rettenden Ausweg fremder Märkte ist es nicht weit bis zur unhaltbaren These, dass der Kapitalismus automatisch zusammenbrechen müsse, wenn es keine aufnahmefähigen äußeren Märkte mehr gäbe.
Einen weiteren Grund dafür, dass es im Kapitalismus nicht gelingen kann, alle produzierten Waren abzusetzen, sieht Sismondi in der ungleichen Einkommensverteilung.
Einkommensstruktur und Produktionsstruktur drifteten auseinander. Die Bezieher von Lohn könnten sich keine hochwertigen Güter leisten, ihre Einkommen reichten, wenn überhaupt, gerade für das Dringendste. Unternehmer und Bezieher von Profit, mit dem Notwendigsten komfortabel ausgestattet, fänden auf heimischen Märkten nicht genügend Luxuswaren, die ihnen gefallen und zögen ihnen ausländische Kostbarkeiten vor. Ein Teil der jährlichen Produktion bliebe unabsetzbar, weil er nicht der inländischen Einkommens- und Nachfragestruktur entspreche. Mit notwendigen Lebensmitteln sind die Begüterten gut versorgt, den Armen fehlt das Geld, mehr davon zu erwerben. Erst recht können sie sich keine Luxusgüter leisten.
Die Hauptursache des zur Krise führenden Widerspruchs zwischen der Produktion und der Konsumtion aber sah Sismondi in der Trennung von Eigentum und Arbeit, also in der Vernichtung der handwerklichen Produktion, der Ruinierung der einfachen Warenproduzenten. »Wir befinden uns in einer Lage, die für die Gesellschaft gänzlich neu ist«, sagt er. »Wir streben dahin, jede Art Eigentum von jeder Art Arbeit zu trennen.« Dadurch konzentriere sich der Reichtum in den Händen weniger, die kleinen Warenproduzenten würden ruiniert und proletarisiert, die Arbeiter verarmten immer mehr. Die größer werdende Produktion stößt auf eine mangelnde Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft, der innere Markt verenge sich. Sismondi sah die Lösung nicht allein darin, auf fremden Märkten Absatzwege zu finden. Er will zurück zur einfachen Warenproduktion, die Eigentum und Arbeit wieder zusammenführe. Der Staat solle intervenieren, nicht um die industrielle Entwicklung zu fördern, sondern um sie zu zügeln. Und er solle alles tun, um die soziale Lage der Arbeiter zu verbessern. Er soll die Löhne erhöhen und dem Manufakturarbeiter Aufstiegschancen und die Möglichkeit in Aussicht stellen, »durch gutes Verhalten Anteil am Profit des Unternehmens zu erlangen«.
Mit diesen Vorschlägen legt Sismondi den Grundstein für die sozialreformistischen Illusionen, denen über John Stuart Mill (1806–1873) bis in die Gegenwart zahllose bürgerliche Ökonomen erlegen sind, die das privatkapitalistische Eigentum schützen und mehren, zugleich die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung aber zugunsten der Benachteiligten korrigieren wollen. Achim Toepel lobt bei allen Mängeln Sismondis Krisentheorie. Bei ihm lassen sich die Krisen nicht auf irgendwelche außergewöhnlichen Störungen der kapitalistischen Wirtschaft wie Naturkatastrophen, politische Ereignisse etc. zurückführen.
Krisen sind für Sismondi keine Zufälle wie für Ricardo und Say. Sie sind Erscheinungen, die aus den kapitalistischen Produktionsverhältnissen gesetzmäßig entspringen. »Mit dieser großartigen Idee hatte Sismondi das ökonomische Denken seiner Zeit um eine wichtige Erkenntnis bereichert.« So hellsichtig seine Einsichten in die Funktionsweise der kapitalistischen Produktion waren, blieben sie doch begrenzt. Sismondi erkannte nicht, dass die Widersprüche zwischen Produktion und Konsumtion, zwischen Eigentum und Arbeit einen tieferliegenden Konflikt grundlegender Art widerspiegelten, den Grundwiderspruch des Kapitalismus zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privatkapitalistischen Aneignung der Produkte. Sismondi sah die Widersprüche des Kapitalismus und er geißelte sie scharf. Aber er begriff sie nicht, erkannte nicht, dass sie gesetzmäßig aus den Zuständen erwachsen, zu denen er zurück will und in denen er die Lösung sieht.
Das Urteil von Marx, Engels und Lenin
Im Manifest der Kommunistischen Partei heißt es: »In Ländern wie in Frankreich, wo die Bauernklasse weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmacht, war es natürlich, dass Schriftsteller, die für das Proletariat gegen die Bourgeoisie auftraten, an ihre Kritik des Bourgeoisregimes den kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Maßstab anlegten und die Partei der Arbeiter vom Standpunkt des Kleinbürgertums ergriffen. Es bildete sich so der kleinbürgerliche Sozialismus. Sismondi ist das Haupt dieser Literatur nicht nur für Frankreich, sondern auch für England. Dieser Sozialismus zergliederte höchst scharfsinnig die Widersprüche in den modernen Produktionsverhältnissen. Er enthüllte die gleisnerischen Beschönigungen der Ökonomen. Er wies unwiderleglich die zerstörenden Wirkungen der Maschinerie und der Teilung der Arbeit nach, die Konzentration der Kapitalien und des Grundbesitzes, die Überproduktion, die Krisen, den notwendigen Untergang der kleinen Bürger und Bauern, das Elend des Proletariats, die Anarchie in der Produktion, die schreienden Missverhältnisse in der Verteilung des Reichtums, den industriellen Vernichtungskrieg der Nationen untereinander, die Auflösung der alten Sitten, der alten Familienverhältnisse, der alten Nationalitäten. Seinem positiven Gehalte nach will jedoch dieser Sozialismus entweder die alten Produktions- und Verkehrsmittel wiederherstellen und mit ihnen die alten Eigentumsverhältnisse und die alte Gesellschaft, oder er will die modernen Produktions- und Verkehrsmittel in den Rahmen der alten Eigentumsverhältnisse, die von ihnen gesprengt wurden, gesprengt werden mussten, gewaltsam wieder einsperren. In beiden Fällen ist er reaktionär und utopistisch zugleich. Zunftwesen in der Manufaktur und patriarchalische Wirtschaft auf dem Lande, das sind seine letzten Worte.«
Auch Lenins Urteil zu Sismondi fällt dialektisch aus. In seiner Arbeit »Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik« schreibt er: »Im Gegensatz zu den klassischen Ökonomen, die bei ihren Systemen eine schon ausgebildete kapitalistische Gesellschaftsordnung im Auge hatten und die Arbeiterklasse als gegeben und selbstverständlich voraussetzten, hebt Sismondi gerade den Prozess des Ruins des Kleinproduzenten hervor, den Prozess, der zur Bildung der Arbeiterklasse geführt hat. Dass sich Sismondi durch den Hinweis auf diesen Widerspruch in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ein Verdienst erworben hat, ist unbestreitbar, doch hat er als Ökonom nicht vermocht, diese Erscheinung zu verstehen, und hat seine Unfähigkeit zu einer konsequenten Analyse mit ›frommen Wünschen‹ bemäntelt.« Und weiter: »In allen Punkten unterscheidet er sich dadurch von den Klassikern, dass er auf die Widersprüche des Kapitalismus hinweist. Dies einerseits. Anderseits vermag er in keinem Punkte die Analyse der Klassiker weiterzuführen (und will es auch gar nicht), weshalb er sich auf eine sentimentale Kritik am Kapitalismus vom Standpunkt des Kleinbürgers beschränkt. Diese Ersetzung der wissenschaftlichen Analyse durch sentimentale Klagen und Lamentationen bedingt die außerordentliche Oberflächlichkeit seiner Auffassung.« Sismondis Utopie antizipiere nicht die Zukunft, sondern restauriert die Vergangenheit; er blickte nicht vorwärts, sondern zurück.
Ausstrahlung
Die Ansichten und Arbeiten Sismondis beeinflussten zahlreiche Denker, z. B. Thomas Robert Malthus (1766–1834), der durch sein theoretisch und empirisch widerlegtes »Bevölkerungsgesetz« berühmt-berüchtigt werden sollte. Als direkter Schüler und Anhänger ist der französische Ökonom und Philosoph Eugéne Buret (1810–1842) zu nennen. Theoretisch »auf den Anschauungen Sismondis fußend, hat Buret allerdings seinen Reformprojekten mehr Kühnheit und Nachdruck verliehen und dadurch einen gewissen Einfluss auf manche sozialistische Schriftsteller in Frankreich ausüben können (…). Während bei Sismondi die Darlegung der zur Bekämpfung des Übels erforderlichen Maßnahmen nur sehr zögernd geschieht (…), stehen bei Buret die Projekte zur Überwindung der Widersprüche des sozialen Elends im Mittelpunkt seines Werkes«, schreibt Achim Toepel. Auch Karl Marx hat Burets Arbeiten geschätzt. Ein zweiter Schüler Sismondis ist Villeneuve-Bargemont, der gegenüber Sismondi christliche Grundsätze in die politische Ökonomie zu integrieren versuchte und so als erster einen Weg in der politischen Ökonomie beschreitet, »auf welchem ihm später noch andere Denker gefolgt sind und der schließlich in dem System des sozialen Mystizismus der Schriftsteller John Ruskin (1819–1900) und Leo Tolstois (1828–1910) gipfelt« (Toepel).
Sismondis Romantik beeinflusste Ökonomen wie Antoine-Elisé Cherbuliez (1797–1869), den Marx im Kapital einen Anhänger Sismondis nennt. Von seinen Zeitgenossen wurden der Ökonom Adolphe Jérome Blanqui (1798–1854), der Philosoph Joseph Droz (1773–1850), die frühen utopischen Sozialisten Henri de Saint-Simon (1760–1825) und Charles Fourier (1772–1837) von Sismondi beeinflusst, später dann auch Louis Blanc (1811–1882) und Johann Karl Rodbertus (1805–1875). Die russischen Volkstümler (Narodniki) griffen Sismondis Auffassung auf, dass die Konsumtion entscheidend sei und das Gesamtprodukt eines Landes nicht auf dem Binnenmarkt realisiert werden könne. Sie schlossen daraus auf reaktionär-romantische Weise, dass die kapitalistische Entwicklung in Russland unmöglich sei.
Literatur
– Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, Marx-Engels-Werke (MEW), Band 13. Berlin 1961
– Karl Marx: Das Kapital, Erster Band, Marx-Engels-Werke (MEW), Band 23. Berlin 1972
– Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Marx-Engels-Werke (MEW), Band 4. Berlin 1977
– Jean Ch. L. Simonde de Sismondi: Neue Grundsätze der politischen Ökonomie oder Vom Reichtum in seinen Beziehungen zur Bevölkerung, Erster Band, eingeleitet und herausgegeben von Achim Toepel. Berlin 1971
– Wladimir I. Lenin: Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik, Lenin-Werke, Band 2. Berlin 1961
– Andrej A. Anikin: Ökonomen aus drei Jahrhunderten. Berlin 1974
– Fritz Behrens: Grundriss der Geschichte der politischen Ökonomie, Band II. Berlin 1976
– Klaus Müller: Boom und Krise. Köln 2017
– Klaus Müller schrieb an dieser Stelle zuletzt am 8. März über die Hyperinflation in Deutschland 1923.
Die folgenden Teile in der Reihe »Bedeutende Ökonomen« erscheinen am 26. Mai (William Petty), am 16. Juni (Adam Smith) und am 11. September (David Ricardo)
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (8. Mai 2023 um 20:03 Uhr)Klaus Müller ist ein wundervoller Artikel zu einer der prägenden Figuren der Geschichte der politischen Ökonomie gelungen. Diese Wissenschaft war nie fertig und wird nie fertig sein. Sie benötigt die Sismondische Herangehensweise, die Theorie an der Praxis zu messen. Dass dabei auch Irrwege eingeschlagen werden: Wen wundert’s. Manch einem der Päpste heutiger Ökonomielehren wäre zu wünschen, Sismondis Weg zu folgen. Eigene Theoreme öfter infrage zu stellen, wenn sie der Praxis so ganz offensichtlich widersprechen: Das wäre gewiss unter anderem bei den Geld- oder Krisentheoretikern nicht unnütz. Dass sie dabei in sozialer Romantik versinken, ist kaum zu befürchten. Eher, dass sie in der Bedeutungslosigkeit enden, wenn sie weiter nur die alten, abgedroschenen Sprüche aufwärmen.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (10. Mai 2023 um 09:57 Uhr)Der Begriff Ökonomie entstammt dem griechischen »oikonomia«, was so viel bedeutet wie Haushaltsführung bzw. -verwaltung. Ökonomie kann man höchstens als Wirtschaftslehre nennen, aber niemals als Wissenschaft. Sie bleibt wie es immer schon war, ein theoretisch-ideologisiertes Machtinstrument!
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