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Aus: Ausgabe vom 03.05.2023, Seite 11 / Feuilleton
Festivalfilm

Die Alten und die Jungen

Von Selbsthistorisierung und Computerspielindustrie: Am 1. Mai endeten die 69. Kurzfilmtage Oberhausen
Von Manfred Hermes
Everyday Daylight,  Everyday Daylight  Total Refusal, Österreich
Nicht hören, nicht sehen, nicht mitspielen: Total Refusal

Unter dem Namen »re-selected« wurde auf den diesjährigen 69. Kurzfilmtagen Oberhausen die Selbsthistorisierung versucht. Über Carlos Álvarez’ »Los hijos del sub­desarollo«, einem Pamphlet gegen die oligarchisch erzwungene Unterentwicklung der kolumbianischen Unterschicht hieß es im Katalog 1976 (und dem Reprint 2023): »Der Tenor des Films ist aggressiv … Der Projektor nagelt die Gesichter und Taten des Gegners auf die Leinwand, macht sie zu Zielscheiben einer Kamera, die sich als Gewehr versteht.« Das sind starke Worte für einen Film, dessen Kameragewehr immer die entscheidenden Sekunden zu lang auf die Gesichter ausgezehrter Kleinkinder geheftet blieb.

Vor 46 Jahren hatte sich daran wohl kaum jemand gestört. Heute ist das anders, dafür ist es nicht mehr so leicht, im audiovisuellen Synkretismus der aktuellen Wettbewerbsprogramme und Sonderreihen Sinn und Funktion politischer Bedeutung zu ermitteln. Filme scheinen sogar um so besser und einnehmender zu sein, je geringer ihr Anspruch auf Wirkmacht oder politische Relevanz ist, und einige haben darin einen beträchtlichen Sog erzeugt. David Gaso legt in »Niska trava« (Kurzgemähtes Gras) ein kroatisches Suburbia aus, dessen lakonische Episodik für einen 23jährigen erstaunlich souverän ist. In Mox Mäkelas »Noita miettien« werden menschenleere Innenräume und Außengelände durch sparsame elektronische Interventionen bewegt und von der hypnotisch-sonoren Stimme der 64jährigen Künstlerin überlagert, die die schweren Sätze ihrer Bewusstseinsströme bis an die Neige des Atems führt. Juri Semaschkos »Musor­naja Golowa« profitierte so sehr von der humoresken Ausstrahlung des belarussischen Darsteller-Filmemachers wie von seinem Thema der dialektisch unterlaufenen Wünsche, das er in der Art von Jan Svankmajers Surrealität aufführt.

Keiner dieser Filme hat einen Preis gewonnen. Dadurch wurde auch in Oberhausen die inzwischen selbst für die Oscars geltende Tendenz bestätigt, Auszeichnungen als zustimmendes Signal in Richtung aktueller Haltungen und Befindlichkeiten zu behandeln. Das schließt auch den ukrainischen Beitrag »Tschornobil 22« von Olexiij Radinski ein, dessen Film über die Einnahme des Reaktorgeländes durch russische Truppen den Hauptpreis des Festivals erhalten hat.

An anderer Stelle boten sich Anlässe, über die Gestaltwechsel politischer Rhetoriken nachzudenken. Dem hartgesottenen Kameragewehr der 1970er scheint jetzt der nölige und nicht selten überheblich auftretende Selbstverständigungstext zu entsprechen, der im Grunde nicht mal mehr den ästhetischen Anbau braucht. Hausbackenste Selbsterkundungen können Avantgardestatus reklamieren. Beim Film »Untitled« »von Sweatmother, ein*er Londoner Trans-Künstler*in«, ist es genau diese Benennung, die alles Wichtige sagt; in Gretel Marín Palacios »Camino de lava« erfüllen Schildchen wie »Afrofeministin« und »queere Kubanische Aktivistin« die gleiche Funktion.

Da kann man nicht oft genug auf Heiterkeit, Humor und Witz als einem berechtigten, ja lebensnotwendigen Element beharren. Das Kurzfilmfestival, ohnehin immer gut darin, die möglichst coolen Leute und die neuartigsten Ausdrucks- und Explorationsformen ins Programm zu ziehen, hat so an anderer Stelle für »comic relief« gesorgt: Im diesjährigen kuratorischen Schwerpunkt »Against Gravity. The Art of Machinima«. Der Genrename meint Filme, die auf Computerspielmaterial beruhen und um 1990 erstmals auftraten, als Computerspiele zunehmend fotorealistischer, strukturierter und immersiver wurden. Der Goldstandard der Machinima-Reihe war eindeutig »Grand Theft Auto«, und das nicht nur, weil in dem Spiel nicht nur ein Los Angeles nachgebildetes Stadtmodell von immenser Ausdehnung und größter Präzision steckt. Ab der fünften Version gab es erstmals Mitschnittoptionen und einen Regiemodus, der Verstöße gegen die primäre Verwendung geradezu unumgänglich machte.

Jacky Connollys »Descent Into Hell« (2022) lyrisiert diese sonst so schamlos destruktive und hyperaktive Welt, erweitert deren Wirklichkeitsmarkierungen und stellt die sonst eher an die Ränder verwiesenen weiblichen Figuren nach vorne. Grayson Earles Screen-Capture-Arbeit »Why don’t the cops fight each other?« (2021) dreht sich um klandestine Vorfestlegungen im Code. In »Grand Theft Auto« (GTA) kann jeder jeden töten, bloß Polizisten nicht. Sie ließen sich nicht mal zum Spaß aufeinanderhetzen, immer laufen sie – als eine die in Software eingeschriebene Entsprechung des Corpsgeistes – in entgegengesetzter Richtung davon. »Hardly Working« (2022) der Gruppe »Total Refusal« hebt dagegen auf »non-playable-characters« ab, die soziale Dekoration in Spielen, die anscheinend oft schlampig programmiert ist. Da gibt es dann Frauen, die nichts anderes machen, als mit gesenktem Haupt ein putzlappengroßes Stück Holzboden zu fegen oder Männer, die ständig und überall Nägel einschlagen, manchmal auch in die Luft.

Den Leuten von »Total Refusal« wurde im übrigen das Privileg zuteil, die Reihe mit einem Liveauftritt einzuleiten. Das sich kokett »pseudokommunistisch« nennende Kollektiv hob darin ständig auf die wirtschaftliche Potenz der Games-Industrie ab, die noch die letzten Ritzen ihrer Realitätssimulationen mit ihrem »Superkapitalismus« ausstopfen würde. Doch so total, wie es der Bandname behauptet, kann der ideologiekritische Refus hier gar nicht sein, denn um selbst auf die Spielebene kritischer Zwecke zu gelangen, muss man stark ins Feld verwickelt sein. Auch in der widersetzlichen Nutzung von GTA besteht der Spaß darin, im Auto durch die Stadt zu brettern, Ampeln bei Rot zu überfahren oder Unheil auf Gegenfahrbahnen anzurichten – oder auch dann, wenn man sich statt in menschlicher Gestalt als Kuh oder Schimpanse verwirklicht, um wie ein Apokalyptiker der Letzten Generation Schnellstraßen zu blockieren.

Dieser gut eingespielte und witzige Liveauftritt war ein früher Höhepunkt des Festivals. Es war auch erstaunlich, wie stark die cinematischen Effekte kameralos erzeugter Nichtfilme sein können, die das kollektive Spielen auf einem Podium vor einer Leinwand erbringt. Aber selbst der aufmüpfige Slapstick mit Algorithmen profitiert noch von der überrealistischen Optik und den unermesslichen Bewegungsoptionen der Games.

Die Kurzfilmtage waren aber nicht auf eine forcierte Modernität und Jugendlichkeit fixiert. Es ging sogar auffallend oft um Alter, Altern und Gebrechlichkeit, auch in ihrer nacktesten Körperlichkeit. Christiana Perschon ließ in »Bildwerden« die 90jährige Isolde Maria Joham mehrfach ein Hochgerüst hoch- und wieder herunterklettern; eine Mühsal, der sich die Künstlerin alltäglich aussetzt, um ihre Großformate zu malen. Das Festival wiederum hielt Angela Haardt, die die Kurzfilmtage zwischen 1990 und 1997 mit strenger Hand geleitet hatte, mit einem Filmprogramm zu ihrem 80. Geburtstag die Treue.

Das Alte und Älteste kam in einer Werkschau der Filme von Marcel Broodthaers ein weiteres Mal zum Zuge. Broodthaers’ Konzeptualismus war um 1990 prägend für »institutionskritische« Stränge in der bildenden Kunst. Seine humorvollen und nostalgischen Seiten wurden aber jetzt in Oberhausen viel deutlicher, ebenso wie sein Ansatz, sich in den Zwischenräumen von Kategorien, Medien und Ordnungssystemen zu bewegen. Über seine Filmarbeit hat er nicht umsonst gesagt: »Je ne suis pas cinéaste«, »ich glaube an das Kino sowenig wie an irgendeine andere Kunstform«. Das Medium der flüchtigen Erscheinung war ihm aber als Mittel gegen die Verdinglichung, brave Bedeutsamkeit und die Kapitalmarktseite des Kunstwerks willkommen. Kürzere Kurzfilme als die von Broodthaers sind selbst in Oberhausen nur selten gezeigt worden (»Défense de fumer« von 1970 ist nur wenige Sekunden lang). Es war ein erhabenes Gefühl, die schlichten Broodthaers-Filme in einem Großkino zu sehen, in dem jetzt wieder »Guardians of the Galaxy Vol. 3« laufen wird.

Die Hauptpreisträger der 69. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen

Der mit 8.000 Euro dotierte Große Preis der Stadt Oberhausen, verliehen im Internationalen Wettbewerb, ging in an den ukrainischen Regisseur Olexij Radinski für seinen Film »Tschornobil 22«. Radinski mischt heimlich gemachte Handyaufnahmen der russischen Eroberung des Gebiets um Tschernobyl mit Aussagen von Anwohnern und Angestellten des Kraftwerks.

Im Deutschen Wettbewerb ging der mit 5.000 Euro dotierte Hauptpreis an Gernot Wieland für »Turtleneck Phantasies«, in dem der Filmemacher historische Berichte und persönliche Erinnerungen montiert.

Den 3sat-Nachwuchspreis im Deutschen Wettbewerb, dotiert mit 2.500 Euro, gewann die Filmemacherin Narges Kalhor für »Sensitive ­Content«, eine Arbeit, die Handyaufnahmen von Gewalt bei den Protesten im Iran verarbeitet.

Im NRW-Wettbewerb erhielt Silke Schönfeld den mit 1.000 Euro dotierten erste Preis für »Ich darf sie immer alles fragen«, die persönliche Aufarbeitung von sexueller Gewalt in der Familie der Filmemacherin. (jW)

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