Das Attentat
Von Gabriel Kuhn
Am 30. April jährt sich zum 30. Mal eines der bizarrsten und verstörendsten Ereignisse der Sportgeschichte: das Attentat auf Monica Seles während des WTA-Turniers im Tennisstadion am Rothenbaum in Hamburg.
Monica Seles wurde 1973 im damaligen Jugoslawien geboren und übersiedelte mit ihrer Familie als 12jährige in die USA, um ihrem Talent an der berühmten Tennisschule von Nick Bollettieri den letzten Feinschliff zu geben. Seles spielte sowohl Vorhand als auch Rückhand beidhändig. Vier Jahre später, im Mai 1990, besiegte sie erstmals die damalige Weltranglistenerste Steffi Graf, ausgerechnet in Berlin. Im März 1991 löste sie Graf als Nummer eins der Weltrangliste ab.
Als Nummer eins schlug Seles auch im April 1993 beim WTA-Turnier in Hamburg auf. Mittlerweile 19 Jahre alt, war sie bereits im Besitz von acht Grand-Slam-Titeln. Die Zukunft im Damentennis gehörte ihr.
Göttin Steffi
Das gefiel nicht allen. Auch nicht Günter Parche, einem 38jährigen Dreher aus der Stadt Nordhausen in Thüringen. Parche wurden verschiedene Persönlichkeitsstörungen attestiert, er wohnte bei seiner Tante, hatte nie in einer Beziehung gelebt. Dafür vergötterte er Steffi Graf. Als immer deutlicher wurde, dass Seles ihr den Rang ablaufen würde, schnappte er sich am 27. April 1993 einen Plastiksack, steckte einen Schlafanzug, eine Wurst und ein Küchenmesser hinein und machte sich nach Hamburg auf. Es war das erste Mal, dass er seinen Heimatort verließ. Die Absicht war, Monica Seles’ anscheinend unaufhaltsamen Aufstieg zu stoppen und Steffi Graf weitere Jahre an der Spitze des Damentennis zu sichern.
Am 30. April spielte Seles in Hamburg ihr Viertelfinalmatch gegen die Bulgarin Magdalena Maleewa. Seles führte 6:4 und 4:3, als sich ihr beim womöglich letzten Seitenwechsel Parche von hinten näherte und ihr das mitgebrachte Messer in den Rücken rammte. Er wollte ein zweites Mal zustechen, wurde jedoch von einem Sicherheitsbeamten überwältigt.
Seles wurde ins Universitätsklinikum Eppendorf eingeliefert, die Verletzungen waren nicht lebensbedrohend. Die psychischen Folgen des Attentats erwiesen sich jedoch als schwerwiegend. Mehr als zwei Jahre lang spielte Seles nicht auf der WTA-Tour, hatte posttraumatische Belastungsstörungen, konnte nicht schlafen, nahm 30 Kilogramm zu.
Als sie im August 1995 auf die Tour zurückkehrte, gelang ihr bei den Canadian Open in Toronto gleich ein Turniersieg. An ihre frühere Form kam sie dennoch nie wieder heran. Einen Grand-Slam-Titel konnte sie ihrer Sammlung noch hinzufügen, 1996 besiegte sie im Finale der Australian Open die Baden-Württembergerin Anke Huber. Nach einer Erstrundenniederlage bei den French Open 2003 beendete sie ihre Karriere.
Klage abgewiesen
Das Attentat auf Seles hat einige perfide Komponenten. Die erste ist, dass Günter Parches Plan voll aufging. Er betonte stets, dass er Seles nicht töten, aber sie vom Tennisthron der Damen stoßen wollte, da dieser Platz Steffi Graf gehörte. Das war ihm gelungen. Nach Seles’ Verletzung blieb Steffi Graf weitere 187 Wochen Nummer eins der Weltrangliste. Hinzu kommt, dass das Turnier in Hamburg zu Ende gespielt wurde. Steffi Graf verlor im Endspiel gegen die Spanierin Arantxa Sánchez Vicario. Der Veranstalter, der Deutsche Tennisbund, redete sich auf die Spielerinnen raus: Die Fortsetzung des Turniers sei in Absprache mit ihnen erfolgt. Magdalena Maleewa meinte dazu später im Hamburger Abendblatt: »Damals war ich gerade 18 Jahre alt, jemand, der nicht den Mut hatte, aufzustehen und zu sagen: ›Das ist nicht normal, was wir hier tun!‹.« Seles selbst hatte nicht mit einer Fortsetzung des Turniers gerechnet. In ihrer 2009 erschienenen Autobiographie »Immer wieder aufstehen« schrieb sie: »Das war eine harte Lektion über das Tennisbusiness: Eigentlich geht es nur ums Geld.«
Ihre Kolleginnen bekleckerten sich auch wenige Tage später nicht mit Ruhm, als anlässlich des WTA-Turniers in Rom 17 der Top-25-Spielerinnen darüber abstimmten, ob Seles den ersten Rang in der Weltrangliste bis zu ihrer Rückkehr behalten solle. 16 waren dagegen, nur die Argentinierin Gabriela Sabatini enthielt sich der Stimme. Steffi Graf war nicht anwesend.
Günter Parche wurde am 13. Oktober 1993 vom Amtsgericht Hamburg zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Das Urteil wurde nach einem Berufungsverfahren vom Landgericht bestätigt. Parches Anwalt, Otmar Kury, erklärte in einer NDR-Dokumentation aus dem Jahr 2013, dass das Urteil »rechtsfehlerfrei« und »richtig« gewesen sei. Seles und ihre Familie sahen das nicht so. Auch mit einer Millionenklage gegen den Deutschen Tennisbund blitzten sie ab. Mitgefühl von seiten des DTB gab es dafür wenig. Der damalige DTB-Pressesprecher Jens-Peter Hecht meinte in der NDR-Doku, dass schon wenige Stunden nach dem Attentat klar gewesen sei, dass »der erste amerikanische Anwalt die Familie darauf hingewiesen hat, dass man daraus möglicherweise Geld schlagen kann«.
Günter Parche starb im August 2022 in einem Nordhausener Pflegeheim. Monica Seles lebt heute zurückgezogen in Florida. Nach Deutschland kehrte sie nach den Ereignissen in Hamburg nie zurück.
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vom 28.04.2023