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Aus: Ausgabe vom 25.04.2023, Seite 15 / Betrieb & Gewerkschaft
Gewerkschaftsbewegung in Guatemala

»Mit 35 ist es fast unmöglich, noch Arbeit zu finden«

Erst zu jung, dann zu alt. Miese Arbeitsbedingungen in Guatemala und schwache Gewerkschaften. Ein Gespräch mit Juan Eliseo Aguilar Coyoy
Von Thorben Austen, Quetzaltenango
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Widerstand gibt es immer wieder, aber der wird nicht von den Gewerkschaften organisiert: Protest von Kaffepflückern (Guatemala-Stadt, 25.6.2003)

Sie führen einen Prozess vor dem Arbeitsgericht gegen Ihren ehemaligen »Arbeitgeber«. Um was geht es?

Ich arbeitete seit zwanzig Jahren bei der Ingecop, bei La Inspección General de Cooperativas, einer staatlichen Institution, die die Finanzprüfung für die Kooperativen übernimmt. Kooperativen sind eine häufige Wirtschaftsform in Guatemala. Für die Gewerkschaft der Beschäftigten der Ingecop bin ich bis Ende dieses Jahres gewählter Generalsekretär für das Departamento Quetzaltenango. Als Gewerkschaftsfunktionär bin ich bis zwei Jahre nach Ende meiner Amtszeit unkündbar, dennoch wurde im vergangenen Jahr mein Arbeitsverhältnis aufgelöst. Die Begründung ist, ich hätte drei Arbeitstage unentschuldigt gefehlt. Tatsächlich habe ich an diesen Tagen aber an einer Schulung der Gewerkschaft teilgenommen, was arbeitsrechtlich möglich ist. Dafür war ich ordnungsgemäß abgemeldet. Gegen meine Kündigung klage ich vor dem Arbeitsgericht. Wir denken, sie ist Teil der Strategie mit der Unternehmen und die Regierung gegen unabhängige Gewerkschaften vorgehen.

Seit wann sind Sie gewerkschaftlich organisiert?

Ich habe mich als junger Mann der revolutionären Bewegung in Guatemala angeschlossen. 1982 bis 1987 habe ich bei einem Reifenhersteller hier in Quetzaltenango gearbeitet und dort auch die gewerkschaftliche Organisierung vorangetrieben. Auch weil wir dabei recht erfolgreich waren, wurden viele Kollegen entlassen und der Betrieb letztlich in einen benachbarten Landkreis verlagert. Ich wurde auch entlassen, enthielt eine Abfindung. Später war ich politisch aktiv im kommunistischen »Partido Guatemalteco del Trabajo« (PGT) und bis zum Friedensabkommen 1996 auch in der Guerillabewegung. Seit Mai 2002 arbeite ich als Buchhalter bei der Ingecop und bin in der dortigen Gewerkschaft aktiv, unsere Gewerkschaft ist wiederum Teil der Union de Trabajadores de Quetzaltenango, UTQ.

Ich hörte, dass es auch in anderen privaten Unternehmen in Quetzaltenango und in der Hauptstadt in den 1980er Jahren starke Gewerkschaften gab. Warum sind Gewerkschaften heute in privaten Unternehmen kaum noch präsent?

Das hat verschiedene Gründe, es gibt verschiedene Strategien der Unternehmer, um dies zu erreichen. Zum Teil haben die Unternehmen die Gewerkschaften mit Geld und kurzfristigen Leistungen dazu gebracht, sich selbst aufzulösen. Manche Unternehmen, die in guatemaltekischem Privatbesitz waren, wurden mittlerweile auch an internationale Konzerne verkauft, was die gewerkschaftliche Organisierung erschwert. Dabei ist selbst in neoliberalen Verträgen wie dem Freihandelsabkommen TLC die Freiheit der gewerkschaftlichen Organisierung in transnationalen Unternehmen festgelegt. Das Recht wird aber nicht umgesetzt. Heute legen Unternehmen den Arbeitern vor ihrer Einstellung einen Fragebogen vor, in dem gefragt wird, ob man Mitglied einer Gewerkschaft ist oder auch nur Kontakte zu Gewerkschaften hat. Da beeilen sich die Kollegen natürlich, das Nein anzukreuzen. Darüber hinaus hat nach dem Friedensabkommen eine gewisse Entpolitisierung und Entsolidarisierung eingesetzt, viele sind von der Propaganda des Kommerz und Konsumismus beeinflusst und empfinden Gewerkschaften eher als störend. Eine Rolle spielten natürlich die Morde, die Repression während des Bürgerkrieges. Und auch heute gibt es noch Morde an aktiven Gewerkschaftern. In den letzten Jahren nehmen diese sogar wieder zu.

Wie sind die Arbeitsbedingungen in privaten Unternehmen, zahlen diese die gesetzlich verankerten Leistungen wie die Krankenversicherung IGSS, das steht für Instituto Guatemalteco de Seguridad Social, oder Urlaubs- und Weihnachtsgeld?

Nicht immer. Es gibt Fälle, in denen sich Kollegen beim IGSS behandeln lassen wollten und nicht akzeptiert wurden, weil die Unternehmen die Anteile nicht abgeführt haben. Der Lohn ist oft schlecht, häufig gibt es nur den gesetzlichen Mindestlohn von etwas mehr als 3.000 Quetzales (etwa 350 Euro), in der Landwirtschaft auf den großen Fincas noch weniger. Und das bei vertraglichen Arbeitszeiten von zehn bis zwölf Stunden täglich. Manchmal kommen noch unbezahlte Überstunden dazu. Das ist ein Hungerlohn, der nicht zum Leben reicht. Gerade jungen Leuten wird oft nur ein Jahresvertrag gegeben, der dann verlängert werden muss und zu steter Unsicherheit führt. Bei jungen Beschäftigten wird der geringe Lohn mit der geringen Erfahrung begründet, ab 30 dann damit, dass man »alt« sei. Mit 35 ist es heute in Guatemala fast unmöglich, noch Arbeit zu finden.

In bezug auf die Gewerkschaften im öffentlichen Sektor ist häufig zu hören, diese existieren zwar, seien aber korrupt, mit den rechten Regierungen der vergangenen Jahrzehnte verbündet gewesen und betrieben eine klientelistische Politik. Wie sehen Sie das?

An der Kritik ist vieles richtig. Die Gewerkschaften zum Beispiel im öffentlichen Bildungs- und Gesundheitswesen sind sehr mächtig. Sie nutzen diese Macht aber nicht, um Verbesserungen in den Bereichen durchzusetzen, die der gesamten Bevölkerung zugute kämen, sondern nur, um Gehaltserhöhungen durchzusetzen. Davon profitieren aber oft auch nicht alle, sondern nur bestimmte Gruppen der Beschäftigten, und zwar die, die schon zu den besser bezahlten Gruppen gehören. Im öffentlichen Gesundheitswesen herrscht viel Korruption, ein kriminelles Netzwerk, von den Verantwortlichen in den Departamentos bis hoch zum Gesundheitsminister und Staatspräsidenten, unterschlägt Medikamente und verkauft sie auf eigene Rechnung. Die Gewerkschaft deckt dieses Netzwerk oder ist Teil davon. Im öffentlichen Bildungssektor kommen manche Kollegen gar nicht zur Arbeit, was sich natürlich auf die sowieso schon schwierige Situation im öffentlichen Bildungssystem auswirkt, das wird aber auch von der Gewerkschaft gedeckt, weil es ihre »Klientel« ist.

Die sozialen Kämpfe in Guatemala haben heute ihren Schwerpunkt auf dem Land, Kleinbauern und Landarbeiter verfügen über Organisationen wie Comité de Unidad Campesina, CUC, Comité de Desarrollo Campesino, Codeca, oder Comité Campesino del Altiplano, CCDA. Was müssten Gewerkschaften tun, um die Arbeiterbewegung auch in den Städten zu stärken?

Die UTQ versucht, die Bildung von Gewerkschaften im informellen Sektor voranzutreiben, aber es fehlen Ressourcen, und es ist schwierig. Informell Beschäftigte haben kein festes Einkommen, leben von dem, was sie täglich verdienen. Da ist es schwer, zum Beispiel ein oder zwei Tage nicht zu arbeiten, um eine gewerkschaftliche Schulung zu besuchen. Manche verlieren auch das Interesse, zum Beispiel wenn für die Marktverkäufer gegenüber der Stadtverwaltung etwas durchgesetzt wurde, etwa ein formeller Verkaufsstand. Damit geben sie sich dann zufrieden, sehen weitere Arbeit als »Zeitverschwendung« oder wollen Geld, wenn sie zu Treffen der Gewerkschaft kommen. Was die Organisierung auf dem Land betrifft, Organisationen wie CUC oder Codeca sind sicher wichtige soziale Organisationen, aber eben keine Gewerkschaften und haben auch nicht diese Funktion. Außerdem sind die Übergänge zwischen Stadt und Land fließend, viele der Menschen im informellen Sektor der großen Städte sind vom Land zugezogen oder kommen nur zum Arbeiten in die Stadt. Aus Mangel an Alternativen versuchen sie, sich mit Verkauf oder dem Anbieten kleiner Dienstleistungen über Wasser zu halten. Die UTQ versucht, Arbeiter in der Stadt wie auf dem Land zu organisieren. Es ist aber schwer, nicht zuletzt wegen des schlechten Rufs der Gewerkschaften. Es gibt aber auch positive Beispiele wie die Gewerkschaft »El Movimiento de Trabajadores Campesinos« (MTC) in San Marcos. Unserer Meinung nach müssen Gewerkschaften autonom sein, frei in ihrer Organisierung, unabhängig von staatlichen Zuschüssen und fähig, im Interesse ihrer Mitglieder mit den Unternehmen zu verhandeln. Die großen Gewerkschaften im Bereich öffentlicher Bildung und Gesundheitsversorgung, die Gewerkschaft der Angestellten im Kongress und andere erfüllen diesen Anspruch nicht.

Juan Eliseo Aguilar Coyoy ist Generalsekretär der Gewerkschaft der Beschäftigen der »Inspektionskommission der Kooperativen« in Quetzaltenango und aktiv in der »Arbeiterunion Quetzaltenango« (UTQ)

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