Neuer Angriff
Von Dieter Reinisch, Belfast
In Großbritannien greift die konservative Regierung das Streikrecht an. Ein Antistreikgesetz steht vor der Annahme im Parlament. Anderen Ländern dient es als Vorbild: In Deutschland etwa verschärfen die Unionsparteien ihre Angriffe auf Arbeiterrechte. Dabei war die Entwicklung in Großbritannien lange abzusehen und hätte mit gewerkschaftlicher Koordination verhindert werden können. Dazu kam es nicht, und so ist das Antistreikgesetz, das für Streikende den Verlust des Arbeitsplatzes bedeuten kann, der vorläufige Höhepunkt der vor vier Jahrzehnten begonnenen Unterminierung der Arbeiterrechte.
Der Angriff ist eine direkte Reaktion auf die aktuellen Arbeitskämpfe. Im zweiten Halbjahr 2022 wurden 2,5 Millionen Arbeitstage durch Ausstände verloren. Im Dezember waren es 822.000 Tage – die meisten in einem Monat seit November 2011, als die Beschäftigten gegen Rentenkürzungen demonstrierten. Großbritannien erlebt die intensivste Streikwelle seit 1989, dem letzten Amtsjahr von Margaret Thatcher, als 4,1 Millionen Arbeitstage durch Arbeitskämpfe verlorengingen. Die Daten des Nationalen Statistikamts (ONS) zeigen, dass in den ersten beiden Monaten 2023 bereits 558.000 Arbeitstage durch Streiks verloren wurden. Hält der Trend an, könnte 2023 die Marke von 1989 erreicht werden.
Auslöser Lohnforderungen
Die Gründe dafür sind vielfältig: Privatisierungen, Pandemie, »Brexit«, permanente Krise der regierenden konservativen Tories und die wiederentdeckte Militanz einiger Gewerkschaften als Nachwirkung der Ära, als Jeremy Corbyn Labour-Vorsitzender war.
Auslöser war die Teuerungswelle, die im Frühjahr 2022 einsetzte: Mit dem Ukraine-Krieg und der westlichen Sanktionspolitik stiegen die Energiepreise, die die Inflation in die Höhe trieben. In den zwölf Monaten bis März 2023 stieg der Warenkorbindex um 13,5 Prozent und der Preisindex für Lebensmittel und nichtalkoholische Getränke um 19,2 Prozent – der höchste Wert seit 45 Jahren. Der Gewerkschaftsdachverband Trade Union Congress (TUC) informierte im April über den Preisanstieg einiger Lebensmittel im vergangenen Jahr: bei Milch 34 Prozent, bei Butter 23 Prozent, bei Brokkoli 15 Prozent und bei Kartoffeln 14 Prozent.
Die Gewerkschaften fordern Reallohnerhöhungen, denn viele Menschen können trotz Arbeit die monatlichen Ausgaben nicht mehr bestreiten. Doch Premierminister Rishi Sunak verweigerte sich solchen Forderungen und erklärte, keine Lohnerhöhungen über drei bis vier Prozent akzeptieren zu wollen. Statt dessen will er Streiks gesetzlich verhindern.
Er brachte die »Strikes (Minimum Service Levels) Bill« ein, durch die Arbeitsniederlegungen in Zukunft verboten werden können. Die Gesetzesinitiative wurde noch von Sunaks Vorgängerin Elizabeth Truss eingebracht. Im Oktober 2022 hatte sie bereits die »Transport Strikes (Minimum Service Levels) Bill« initiiert.
Verfehlte Strategie
Das neue Gesetz geht weiter: Es verlangt von Beschäftigten im öffentlichen Dienst, während Arbeitskämpfen ein Mindestmaß an Dienstleistungen aufrechtzuerhalten. Neben dem Verkehrswesen sind fünf weitere Bereiche betroffen: Gesundheitssystem, Bildung, Feuerwehren, Grenzschutz und nukleare Entsorgung. Arbeiter könnten in diesen Bereichen direkt vorgeschrieben bekommen, während laufender Streiks zum Dienst zu erscheinen – andernfalls können sie fristlos entlassen werden. Im Unterhaus wurde das Gesetz bereits angenommen und im House of Lords befindet es sich in der dritten und letzten Lesung. Im Sommer könnte es also in Kraft treten.
Gefahr für alle
Das Gesetz hätte mit koordiniertem Widerstand verhindert werden können, doch der TUC appellierte lediglich an die Abgeordneten, dem Gesetz nicht zuzustimmen – eine von Beginn an verfehlte Strategie, da Labour und die Schottischen Nationalisten (SNP), die beide das Gesetz ablehnen, keine Mehrheiten im Parlament haben und es daher nicht verhindern können. Auch Klagen werden vorbereitet.
Von einer Mobilisierung, um die Regierung in die Ecke zu treiben, aber wurde abgesehen. Im Januar gab es eine Kundgebung vor dem Parlament und einen Aktionstag am 1. Februar, an dem sich Hunderttausende beteiligten. Mehr kam vom TUC nicht, obwohl Einzelgewerkschaften breitere Mobilisierungen verlangten. So forderte die Feuerwehrgewerkschaft FBU einen Generalstreik gegen das Gesetz.
Wenn das Vorhaben im Sommer in Kraft tritt, reiht es sich in die Kette weiterer Gesetze zur Unterminierung des Streikrechts seit den 1980er Jahren ein. Seit dem Employment Act von 1980 gab es neun Gesetze zur Aushebelung des Streikrechts. So müssen Gewerkschaften eine 14tägige Vorlauffrist einhalten und können Arbeitskämpfe nur ansetzen, wenn sie ein Streikmandat von mindestens 50 Prozent der Belegschaft erhalten haben. Das muss alle sechs Monate mittels Abstimmung erneuert werden.
Die Regierung behauptet, das neue Gesetz würde im Einklang mit den Bestimmungen anderer europäischer Länder stehen. In einer Stellungnahme wiesen die größten europäischen Gewerkschaftsverbände, darunter der DGB, diese Behauptung im Januar zurück: »Im Gegensatz zum Vereinigten Königreich genießen Arbeiter in Spanien, Italien, Frankreich und Deutschland den Schutz nationaler Branchenkollektivverträge, die Mindeststandards für Beschäftigtenrechte für ganze Branchen festlegen.«
Der britische Vorstoß könnte eine Gefahr für alle Arbeiter Europas werden: So fordern hierzulande FDP, Unionsparteien und Unternehmerverbände mittlerweile regelmäßig die Einschränkung des Streikrechts, sobald eine DGB-Gewerkschaft zu einem bundesweiten Ausstand in einer der noch wenigen streikfähigen Branchen aufruft. Zuletzt etwa Ende März und Mitte April, als der öffentliche Verkehr bestreikt wurde.
Von Dieter Reinisch erscheint im Herbst 2023 im Papyrossa-Verlag »On Strike: Die Wiederkehr der Klassenkämpfe in Großbritannien«
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