Der kriminalisierte Kandidat
Von Sascha Schmidt
Silke Zimmer aus Nordrhein-Westfalen soll künftig den Handel im Verdi-Bundesvorstand vertreten. Die Delegierten der Bundesfachbereichskonferenz der Gewerkschaft, die in der vergangenen Woche vom 17. bis 19. April in Berlin stattfand, votierten bei der Abstimmung über die Nominierung mit deutlicher Mehrheit für die 51jährige, die bisher in Nordrhein-Westfalen an der Spitze des Landesfachbereichs steht. Während sie auf 124 Stimmen kam, musste sich der zweite Kandidat, Orhan Akman, mit 18 Stimmen begnügen. Der als kämpferisch und unangepasst geltende Gewerkschafter hatte sich seit der Ankündigung seiner Kandidatur für den Bundesvorstand vor rund einem Jahr einer regelrechten Hexenjagd ausgesetzt gesehen. Der Höhepunkt waren zwei fristlose Kündigungen im vergangenen Sommer, nachdem Akman gefordert hatte, Medienberichten über Vetternwirtschaft in der Gewerkschaft nachzugehen.
Sowohl Zimmer als auch Akman hatten sich den Delegierten jeweils 15 Minuten lang vorstellen können. Eine nur scheinbare Gleichberechtigung, wie der unterlegene Kandidat kritisiert. Denn tatsächlich hatte sich Zimmer seit Monaten bei unzähligen Regionalkonferenzen und Veranstaltungen präsentieren können, während Akman das verweigert wurde. Auch während der Konferenz in Berlin herrschte insbesondere während der Personaldiskussion eine hitzige und feindselige Atmosphäre, wie Teilnehmer gegenüber junge Welt berichteten. Ganze Gruppen hätten während Akmans Rede den Saal verlassen, es gab Zwischenrufe und Störungen.
Inhaltlich standen bei beiden Kandidaten die beginnenden Tarifverhandlungen für den Handel im Mittelpunkt. »Existenzsichernde und allgemeinverbindliche Tarifverträge im Handel sind besonders wichtig, weil viele Handelsbeschäftigte trotz jahrelanger harter Arbeit von Altersarmut bedroht sind«, kündigte Zimmer einer Pressemitteilung von Verdi zufolge in ihrer Ansprache an. »Dagegen helfen nur deutlich höhere Entgelte. Dafür will ich mit den Beschäftigten zusammen kämpfen.« Akman sprach bestehende Probleme an: »Tarifverträge und Tarifpolitik sind das Kerngeschäft der Gewerkschaften. Und genau im Kerngeschäft sind wir als Verdi-Fachbereich Handel mehr oder minder bankrott. Denn die Tarifbindung im Handel geht seit Jahren den Bach runter. Verdi ist nicht mehr in Lage, die Erosion der Tarifbindung zu stoppen.« Mehr als 80 Prozent der Betriebe im Einzel- und Großhandel wendeten keine Tarifverträge mehr an, und insbesondere Onlinehändler wie Amazon und Zalando, aber auch Lieferdienste wie Flink seien »tariffreie Zonen«. Er sprach sich dafür aus, die bisher auf Landesebene verhandelten Tarifverträge auf nationaler oder sogar internationaler Ebene zu zentralisieren: »Die maßgeblichen kapitalistischen Unternehmen agieren national und global. Als Tarifgewerkschaft sollten wir den Blick auf die Wertschöpfungs- und Lieferketten richten und Tarifverträge entlang dieser Ketten anstreben. Hierfür ist im ersten Schritt eine Vereinheitlichung von Flächentarifverträgen durch bundesweite Tarifverträge oder zumindest einen Rahmentarifvertrag mit Mindeststandards notwendig.«
Die Delegierten waren zu einer solchen kontroversen Diskussion nicht bereit. Eine Gruppe von Beschäftigten der Modekette H & M, die auf der Konferenz den Umgang mit dem in ihrem Unternehmen erkämpften Digitalisierungstarifvertrag kritisierten, standen auf verlorenem Posten. Als sie den Umgang mit Akman anprangerten, wurde ihnen sogar das Wort entzogen und die Beratung kurzzeitig unterbrochen. Schon bei den vorgelagerten Konferenzen der Bundesfachgruppen, bei denen die Delegierten des Einzel- und des Großhandels jeweils separat getagt hatten, war deutlich geworden, dass es kaum Interesse an Diskussionen gab. Mangels Anträgen und Wortmeldungen gingen diese Konferenzen vorzeitig zu Ende.
Um ganz sicher zu gehen, hatte Verdi für die Konferenztage sogar einen privaten Sicherheitsdienst angeheuert. Als Akman in seiner Rede die Vermutung äußerte, dass dieses für Gewerkschaftsversammlungen ungewöhnliche Aufgebot mit seiner Anwesenheit zu tun habe, wurde dem nicht widersprochen. »Diese Art der Kriminalisierung eines Kandidaten finde ich für unsere Gewerkschaft unwürdig«, kommentierte er anschließend. Gegenüber dem Branchenblatt Lebensmittelzeitung kündigte er bereits an, den Kampf nicht aufgeben zu wollen. Zumindest auf der juristischen Ebene ist die Auseinandersetzung ohnehin noch nicht vorbei. Am 20. Juni verhandelt das Arbeitsgericht Berlin über die Umstände von Akmans Abberufung als Bundesfachgruppenleiter Einzelhandel, am 5. Juli steht vor dem Landesarbeitsgericht die Berufungsverhandlung über die vom Verdi-Bundesvorstand ausgesprochenen fristlosen Kündigungen an. In der Vorinstanz hatte Akman in allen wesentlichen Punkten recht bekommen, die Gewerkschaftsspitze hat allerdings Widerspruch gegen die Entscheidung eingelegt.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (24. April 2023 um 14:39 Uhr)Ich habe das fragwürdige Vergnügen, seit nunmehr einem Jahr einer simplen Information bzw. Stellungnahme von Verdi zu einem überschaubaren Themenkomplex hinterherzubetteln – inkl. allerlei Vertröstungen … Selbst die ehrenwerte Bundesvorsitzende wollte mir schreiben … ;) Verdi ist eine Gewerkschaft der Kapitalisten und kippt genauso um wie die SPD, Linke und Co. – daher »spendiere« ich meine Beitragssgroschen zukünftig lieber nach Kuba oder Kurdistan!
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Gabriel T. aus Berlin (24. April 2023 um 08:21 Uhr)In Verbindung mit dem aktuellen Tarifvertrag zeigt dies schon, dass deutsche Gewerkschaften irgendwie ein anderes Selbstverständnis habe als Gewerkschaften in anderen Ländern.
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