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Aus: Ausgabe vom 14.04.2023, Seite 7 / Ausland
Massengrab Mittelmeer

Rechte Lügen demontiert

Italien: Regierung Meloni ruft wegen Zahl Schutzsuchender Notstand aus. Ihre Politik hat ihn verursacht
Von Alex Favalli
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Schutzsuchende haben von Rom nichts Gutes zu erwarten (Catania, 12.4.2023)

Die Regierung von Giorgia Meloni rief am Donnerstag den »Notstand« aus. 31.292 Personen sind seit Jahresanfang an den italienischen Küsten angekommen. Im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres waren es noch 7.928, ein Jahr zuvor 8.505. Seit Melonis Amtsantritt am 21. Oktober lag die Gesamtzahl der Ankommenden bei 59.509. Es passiert also das genaue Gegenteil von dem, was Meloni ihren Wählern versprochen hat. Lösungen, um dem »Notstand« zu begegnen, wurden nicht gefunden. Das einzige, was man getan hat, ist, NGOs rechtlich zu verfolgen, sich mit Behörden in den Transitländern zu treffen und Strafen gegen »Schlepper« zu verschärfen.

Beim Vollbrachten handelt es sich um illusorische Maßnahmen, die eine Fehlinterpretation der internationalen Migrationsdynamik zum Vorschein bringen. Zudem wird die vergebliche Hoffnung erkennbar, ein komplexes soziales Phänomen mit denselben Instrumenten anzugehen, mit denen Kriminalität bekämpft wird: Man delegiert die Migrationsangelegenheit an Miliz und Polizei, die nicht immer an die Rechtsstaatlichkeit gebunden sind. Das erinnert an die EU-Grenzagentur Frontex. Da kommt die Frage auf, ob die EU und die »antieuropäische« Giorgia Meloni nicht doch mehr gemeinsam haben als anfangs angenommen.

Zum Thema NGOs: Laut Institute for International Policy Studies (ISPI) ging vor dem Amtsantritt Melonis ein Fünftel aller Hilfsoperationen auf sie zurück. Heute ist ihr Anteil auf 6,7 Prozent gesunken. Das bedeutet, dass nur einer von 15 geretteten Schiffbrüchigen von einer NGO gerettet wird. Die restlichen 14 erhöhen die Arbeitsbelastung der Küstenwache und in den meisten Fällen auch die Überfüllung des »Hotspots« Lampedusa. Die Regierung beschließt also Maßnahmen, die sie selbst überfordern. Ein Geniestreich.

Bei jeder günstigen Wetterlage fahren etliche Lastkähne von der tunesischen Küste ab. Auch die ostlibysche Route wird regelmäßig von Fischerbooten mit Hunderten von Menschen befahren. Die italienische Küstenwache kann dabei ihrer Aufgabe kaum nachkommen. In einer Anhörung vor der Verkehrskommission am 3. April erklärte General Nicola Carlone, dass die Küstenwache über 10.800 Mitarbeiter verfüge. Es würden aber zwischen 12.000 und 14.000 benötigt.

Früher waren die NGOs in die Bresche gesprungen. Doch die Regierung weicht nicht von ihrem Irrglauben ab, sie seien ein »Pull-Faktor« und zögen Schutzsuchende zusätzlich an. Auf der Pressekonferenz zum Unglück von ­Cutro, bei dem am 26. Februar 92 Migranten ertranken, wies Meloni jegliche Verantwortung zurück: »Glaubt von Ihnen wirklich jemand, dass meine Regierung sie sterben lassen wollte?« Ihr Kampf gegen die NGOs spricht für sich.

Außerdem bleibt die Zahl der in Italien residierenden Ausländer trotz steigender Migrantenzahl stabil. Das nicht erst seit kurzem: Sie ist weder zwischen 2014 und 2017, als 625.000 Menschen ankamen, noch in den vergangenen Jahren signifikant gestiegen und beträgt laut ISPI seit etwa zehn Jahren etwa fünfeinhalb Millionen. Davon hört man seitens der rechten Propagandamaschine in Italien jedoch nichts. Rechte Medien zeichnen vielmehr ein Bild, wonach nur Italien mit dem »Notstand« konfrontiert sei und die nördlicheren EU-Staaten sich ins Fäustchen lachten, weil sie keine Küste am Mittelmeer haben.

Wieder dementieren die Zahlen die Lügen: Tatsächlich steht Italien bei den Asylanträgen nur an vierter Stelle in der EU, obwohl es bei der Zahl der Anlandungen an erster Stelle steht. 2022 gingen 77.195 Anträge ein. Zum Vergleich: 116.140 waren es in Spanien, 137.505 in Frankreich und 217.735 in Deutschland. Kurzum, in Berlin gab es viermal so viele Anfragen wie in Rom, und alles deutet darauf hin, dass dies auch in diesem Jahr so bleibt. Beispielsweise bei den 76 Überlebenden des Schiffsunglücks von Cutro: Nur 23 baten Italien um Schutz; alle anderen zogen es vor, in ein anderes Land zu wechseln.

Ihre Angehörigen, die vor der Küste Kalabriens ertrunken sind, wurden hingegen zu den anderen Toten im Mittelmeer hinzugezählt. Seit Jahresbeginn waren es bereits 576, davon 494, also 85 Prozent, auf der zentralen Route nach Italien. Dies ist der einzige wirkliche Notstand, den die Regierung ausrufen sollte.

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