Dein Feind, der Server
Von Reinhard Lauterbach
Die russische Staatsduma hat am Dienstag die Einführung einer digitalen Wehrerfassung gebilligt. Die Abgeordneten verabschiedeten unmittelbar nacheinander in zweiter und dritter Lesung eine Reihe von Änderungen, die auf diese Weise so schnell wie möglich in Kraft treten sollen. Die Unterschrift von Präsident Wladimir Putin unter der Novelle gilt als Formsache. Er hatte die Umstellungen selbst im Herbst 2022 in die Wege geleitet, nachdem die erste Teilmobilisierung die Fehleranfälligkeit des bisherigen Erfassungssystems vor Augen geführt hatte.
Die Neuerung verlangt von den zu Erfassenden keine persönliche Mitwirkung. Vielmehr werden Daten zusammengefasst, die bereits bei verschiedenen staatlichen Instanzen ohnehin vorhanden sind: bei Meldebehörden und Polizei, Bildungseinrichtungen und Finanzämtern oder der Sozialversicherung. Kern der Änderung ist die Einführung eines elektronischen Einberufungsbescheids. Er soll die gleiche Rechtskraft besitzen wie das bisherige Papierdokument und dem Einzuberufenden in sein Postfach bei dem bereits bestehenden digitalen Portal für Staatsdienstleistungen zugestellt werden. Die Zustellung gilt nach sieben Tagen als rechtswirksam, egal, ob der Betreffende die Mitteilung geöffnet hat. Im Anschluss hat sich der Angeschriebene innerhalb einer Woche auf dem »Wehrkommissariat« zu melden.
Auf diese Weise wollen die russischen Behörden eine verbreitete Form passiven Widerstands umgehen, wie sie als Reaktion auf die erste Mobilisierungswelle im Herbst 2022 zutage getreten ist: dass Wehrpflichtige zum Beispiel nicht unter ihrer offiziellen Meldeanschrift auffindbar sind oder dem Briefträger mit dem Einberufungsbescheid nicht die Tür öffnen. Solches »Untertauchen« wird jetzt schwieriger. Mit der Zustellung des Einberufungs- oder auch nur Erfassungsbescheides soll den Betroffenen auch die Ausreise aus Russland bis zur »Klärung des Sachverhalts« versperrt sein. Die nun geschlossene Gesetzeslücke hatte 2022 dazu geführt, dass sich vermutlich mehrere Hunderttausend junge Männer über die noch ohne Visum offenen Grenzen in Nachbarländer Russlands wie Kasachstan oder Georgien absetzen konnten.
Wer sich der Einberufung bzw. Vorladung beharrlich entzieht, muss nach den neuen Vorschriften mit Einschränkungen im bürgerlichen Alltag rechnen: Er verliert seinen Führerschein, das Recht, ein Gewerbe anzumelden – bei abhängig Beschäftigten ist ohnehin der Betrieb verpflichtet, als Hilfsorgan der Wehrerfassung zu wirken und die Einberufungsbescheide auszuhändigen –, oder die Fähigkeit, einen Kredit zu bekommen. Bei beharrlicher Weigerung drohen auch Geld- oder Haftstrafen. Kriegsdienstverweigerung ist in Russland rechtlich nicht vorgesehen. Der Militärdienst gilt als »nationale Ehrenpflicht«.
Die neuen Maßnahmen dienen für ihre Befürworter der sozialen Gerechtigkeit und vermindern die Gefahr von Korruption im Prozess der Wehrerfassung. Außerdem werde die persönliche Anwesenheit des Erfassten nur noch zur Musterung erforderlich sein – eine sogenannte Entbürokratisierung. Dass etwas mehr dahinterstecken dürfte, geht daraus hervor, dass Parlamentspräsident Wjatscheslaw Wolodin einen kommunistischen Abgeordneten, der sich weigerte, der Vorlage zuzustimmen, als »Saboteur« abkanzelte. Was die russischen Behörden kategorisch bestreiten, ist die Vermutung, vor dem Hintergrund der Neuerungen werde eine neue Mobilisierungswelle vorbereitet. Tatsache ist aber auch deren Vereinfachung, wenn sie zu einem künftigen Termin beschlossen wird. In der Ukraine sind ähnliche Maßnahmen in Vorbereitung, aber noch nicht endgültig umgesetzt.
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