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Aus: Ausgabe vom 12.04.2023, Seite 3 / Schwerpunkt
Ukraine-Krieg

Zweifel am Sieg

Neue bekanntgewordene US-Dokumente zeigen: Washington rechnet mit allenfalls teilweisem Erfolg der ukrainischen Frühjahrsoffensive
Von Reinhard Lauterbach
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Ukrainische Soldaten der 28. Brigade an der Frontlinie in Bachmut (27.3.2023)

Die US-Militärführung ist offenbar nicht überzeugt davon, dass die angekündigte ukrainische Frühjahrsoffensive zu einem vollen Erfolg führen kann. Dies geht aus weiteren Geheimdokumenten aus dem Pentagon hervor, aus denen am Montag abend (europäischer Zeit) die Washington Post zitierte. Demnach sei sowohl die Personalstärke als auch die Versorgung der ukrainischen Truppen mit schweren Waffen nicht so gut, dass ein vollständiger Sieg – das bedeutet, die Rückeroberung der gesamten Südküste der Ukraine und ein möglicher Vorstoß auf die Krim – realistischerweise zu erwarten sei. Bei einer Besprechung ukrainischer und US-amerikanischer Spitzenmilitärs Mitte März habe die US-Seite daher die ukrainische Militärführung aufgefordert, ihre Operationsziele an die vorhandenen Möglichkeiten anzupassen.

Ukrainische Militärvertreter bestätigten die Echtheit des Dokuments, gaben aber den Vorwurf an die Aufrüster der Ukraine zurück: Der Westen liege mit seinen Waffen- und Munitionslieferungen hinter den eigenen Zusagen zurück, und dass die Armee an Munitionsmangel leide, werde von ukrainischen Politikern offen zugegeben, zitiert die ­Washington Post Offizielle aus Kiew. Was ein aus US-Sicht realistisches Ziel der Frühjahrskampagne sein könne, blieb in dem Dokument offen; angestrebt wird offenbar, die russischen Versorgungslinien durch die 2022 eroberten Teile des Bezirks Saporischschja »bedrohen« zu können. Schon früher hatten US-Militärs die ukrainische Vorstellung, im Laufe der Frühjahrsoffensive die Krim zurückerobern zu können, als »sehr ehrgeizig« – im Klartext: deutlich überzogen – kritisiert.

Für die Plausibilität dieser Stimmungen auf seiten der USA sprechen auch Äußerungen ukrainischer Politiker, die nicht direkt in diesem Kontext gefallen sind. So warnte der Chef des Kiewer Sicherheitsrates, Olexij Danilow, am Wochenende in einem Interview davor, sich in seinen Erwartungen auf eine großangelegte Frühjahrsoffensive zu fixieren. Die Ukraine führe ihre Gegenoffensive jeden Tag, an dem sie die bisherige Frontlinie halte, sagte Danilow im ukrainischen Fernsehen. Parallel dazu räumte Verteidigungsminister Olexsij Resnikow ein, dass die Bemühungen der Armee, weitere Reservisten einzuziehen und auszubilden, hinter den Planvorgaben zurückgeblieben seien. Die Mobilisierung werde deshalb zeitlich ausgedehnt und »in aller Ruhe« fortgesetzt, so Resnikow am Montag. Gegenwärtig habe die Ukraine eine Million Soldaten unter Waffen, außerdem würden eigens für die Frühjahrsoffensive neue Brigaden in Reserve gehalten.

Für die Vermutung, dass sich die Begeisterung, für das Land in den Tod zu gehen, in der ukrainischen Bevölkerung in Grenzen hält, sprechen immer wieder auftauchende Meldungen über die Festnahme von Ärzten, die Einberufenen gegen Zahlungen in Höhe vierstelliger Dollarsummen falsche Untauglichkeitsbescheinigungen ausgestellt hätten. Umgekehrt senkt das Militär die Anforderungen offenbar ständig ab. Vor kurzem wurde ein Fall bekannt, dass in Lwiw ein Mann, dem beide Hände amputiert waren, seinen Einberufungsbefehl bekam. Erst nachdem ein Sturm der Empörung durch die sozialen Netzwerke gegangen war, wurde die Order zurückgenommen. Am Montag wurde ein Kriegsdienstverweigerer zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Der 40jährige, der erklärte, keine Waffe in die Hand nehmen zu können, sei Einberufungsbescheiden wiederholt nicht nachgekommen, teilte die Staatsanwaltschaft des Kreises Tjatschiw im Westen des Landes mit.

Gleichzeitig werden in ukrainischen Medien immer wieder Stimmen laut, die beginnen, die Bevölkerung auf ein unerfreuliches Ende des Konflikts vorzubereiten. Eine besondere Rolle spielt dabei der ehemalige Berater von Präsident Wolodimir Selenskij, Olexij Arestowitsch, der im Winter aus dem aktiven Dienst ausgeschieden war und sich jetzt auf die Verbreitung unangenehmer Wahrheiten spezialisiert hat. So erörterte er unlängst in einem längeren Interview, dass der Ukraine auch nach einem gewonnenen Krieg eine schwere Zukunft bevorstehe: mit einem zerstörten Land, einer Armee traumatisierter Kriegsveteranen, die womöglich ihre Gewalterfahrungen an ihren Frauen und Kindern abreagieren würden, einer um die Gefallenen und Geflohenen geschrumpften arbeitsfähigen Bevölkerung, in der ein Beschäftigter vier Kinder, Alte und Invaliden zu versorgen hätte. Ob die westlichen Verbündeten ihre Hilfszusagen einhalten würden, sei völlig unklar, so Arestowitsch. Er riet in diesem Zusammenhang der ukrainischen Führung davon ab, sich wieder Atomwaffen beschaffen zu wollen. Das wäre nach seinen Worten zwar technisch innerhalb weniger Monate möglich; es sei aber für ein ohnehin von westlicher Hilfe abhängiges Land wie die Ukraine klüger, sich weiter als Vertreter der »regelbasierten Ordnung« darzustellen, statt die Geberländer durch den einseitigen Griff nach der Bombe zu brüskieren.

Hintergrund: Die Haut des Bären teilen

Die Debatte über die ukrainischen Kriegsziele gegenüber der Krim – wenn es Kiew denn gelingen sollte, die Halbinsel zu »deokkupieren« – wird in der Ukraine nach wie vor angeregt geführt. Offiziell ist die von Wolodimir Selenskij ausgegebene Devise, die Krim müsse »vollständig befreit« werden. Und sein Sicherheitsratschef, Olexij Danilow, legte Anfang dieses Monats einen Zwölf-Punkte-Plan vor, was zu diesem Zwecke nach der Eroberung alles zu tun sei:

Erstens die nach der Übernahme der Halbinsel errichtete Brücke zum russischen Festland zu sprengen, zweitens alle seit 2014 abgeschlossenen Grundstücksgeschäfte zu annullieren, drittens die seitdem »illegal« auf die Krim übergesiedelten Russen zu deportieren, viertens die unter russischer Herrschaft unterdrückten ukrainischen und krimtatarischen Aktivisten wieder in ihre Rechte einzusetzen, fünftens – natürlich – die russische Sprache zu verbieten, sechstens ein gigantisches Denkmal für die Versenkung des Flaggschiffs der russischen Schwarzmeerflotte zu errichten, siebtens die Stadt Sewastopol umzubenennen in »Objekt Nr. 6« und noch einiges mehr. Die letzte Idee veranlasste den dortigen Bürgermeister Michail Raswoschajew zu einem Vergleich mit den Krankenblättern der Patienten von Anton Tschechows Irrenhauserzählung »Krankenzimmer Nr. 6«. Mit der »Therapie« solcher Menschen wie Danilow befasse sich gerade die russische Armee, so der Bürgermeister.

Ein paar Tage nach Danilows Machtphantasien äußerte sich dann Selenskijs außenpolitischer Berater Andrej Sibiga gegenüber der Financial Times. Der Moment, an dem ukrainische Truppen die Grenzen zur Krim erreichten, sei der Moment, um Verhandlungen mit Russland über deren Zukunft aufzunehmen, sagte er. Er bekam Kübel von Kapitulationsvorwürfen über den Kopf gegossen und musste klarstellen: Bei diesen Gesprächen könne es nur um den freiwilligen Abzug Russlands von der Krim gehen. Damit dann die Danilows ihre Phantasien ausleben können. (rl)

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (12. April 2023 um 11:43 Uhr)
    Die am Anfang des 21. Jh. verkündete Busch-Doktrin: »Wir sind die Guten, die sind die Bösen«, und sein Kampf begann! Heute kann man feststellen, die Idee funktioniert nicht mehr. Das Ziel der USA wurde entlarvt: Zündeln, Unruhe stiften, Kriege entfachen weltweit, um damit ihrem imperialen militärisch-industriellen Komplex Aufträge zu verschaffen. Mit dem Krieg in der Ukraine hat sich der »Wertewesten« aber ganz schön verrechnet. Durch diesen Krieg wird das Machtgefüge in Europa neu geordnet. Darüber hinaus ist eine neue ideologiefreie, pragmatische Weltordnung im Entstehen, in der im Gegensatz zur USA-Perspektive, China sei der Hauptfeind, stellen die russischen und chinesischen Doktrinen unmissverständlich fest, dass sie den Westen nicht als ihren Feind betrachten. In dieser ideologiefreien, pragmatischen, von China geführten Weltordnung wird der »Wertewesten« mit eigenen kapitalistischen Waffen und Marktprinzipien geschlagen. Grund dafür ist, dass in den vergangenen dreißig Jahre eingebildete Siege des »Wertewestens« eine falsche Ideologie gebundene schädliche politische Kaste an die Macht gebracht haben: die alte Garde von Bush junior und Biden, die Neuen sowie in Deutschland von der Leyen und Baerbock. Die sind fest an eine Ideologie gebund, keine Realpolitiker, mit denen, wergen nicht endenden Sanktionspaketen und durch falsche Einschätzungen des Gegners, nicht mal ein Blumentopf zu gewinnen möglich ist. Der »Wertewesten« versinkt damit in dem selbst hervorgebrachten politischen Sumpf! (Übrigens nicht umsonst sprach Trump mit Recht vom Washingtoner Sumpf, der ausgetrocknet werden sollte.)
    • Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (12. April 2023 um 16:18 Uhr)
      Zitat: »Wir sind die Guten, die sind die Bösen« - Ich nehme mal an, W. Putin wird seine Leute mit ähnlichen Worten motivieren. Auch in Ihrem Kommentar müssten Sie außer Namen und Ländern nicht sehr viel ändern, um eine spiegelverkehrte Stoßrichtung zu erzeugen. – Erinnern Sie sich an den US-General, der Vietnam in die Steinzeit zurückbomben wollte? Wenn ich die Bilder von zerstörten ukrainischen Wohnhäusern, Schulen, Krankenhäusern, Kraftwerken … sehe und nicht sehr viel mehr wüsste, käme ich auf die Idee, dieser General hat das mit Bomben und Raketen, made in USA, angerichtet!
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (12. April 2023 um 04:07 Uhr)
    Man beklagt in der Ukraine eine »um die Gefallenen und Geflohenen geschrumpfte arbeitsfähige Bevölkerung, in der ein Beschäftigter vier Kinder, Alte und Invaliden zu versorgen hätte.« Diese Aussage kommt mir bekannt vor, denn eine solche Situation hatten wir in der DDR, als über die offene Grenze bis 1961 die jüngsten - und dazu gut ausgebildeten Arbeitskräfte in Millionenstärke in die BRD hinübergingen. Dann hieß es: »Ihr Kommunisten bekommt doch den Hintern nicht hoch und könnt noch nicht einmal vernünftige Renten zahlen«. Wer hatte ein Interesse daran? Wie sah die Alterspyramide in Ostdeutschland vor der Wende aus - wie sieht sie jetzt aus, zum Beispiel in der Uckermark, so erfreulich es ist, wenn statt dessen wieder die Wölfe Einzug gehalten haben? Aber es gibt eben auch eine andere Art von Wölfen, auf die sich die Ukraine nach dem Krieg gefasst machen muss. Alles wird in die Taschen großer Agrarkonzerne des Westens fließen. Ich meine natürlich nur die Gebiete, welche die von den Briten gelieferte Uranmunition zur Verwendung übrig lässt. Bulgarien, Rumänien und die baltischen Staaten verloren seit EU Beitritt bis zu zwei Fünftel ihrer Bevölkerung. Der verbliebenen Bevölkerung nutzte dieser Beitritt nicht. Große Teile ihres medizinischen Personals wurden von Ländern der alten EU abgesaugt. Nun kommen kriegsbedingt weitere Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine hinzu. Überalterte Staaten wie die BRD haben erneut ein Interesse daran, die demographische Alterspyramide aufzufrischen und dem engeren Angebot an Arbeitskräften aufzuhelfen. Sonst würde ja die Gefahr bestehen, dass man höhere Löhne bezahlen muss. Wer hat also ein Interesse daran, dass die Flüchtlinge aus der Ukraine oder aus Syrien für immer in Deutschland bleiben? Damit sie heimisch werden, muss der dortige Krieg möglichst lange andauern. Dafür, dass es lange andauert, gibt es u. a. eine Unternehmerpartei FDP, vor allem mit einer den Krieg besonders anheizenden Abgeordneten.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (12. April 2023 um 14:44 Uhr)
      Es kommt später hinzu, dass die Infrastruktur der (Kiewer) Ukraine neu erschaffen werden muss. Wer sich hierzulande an die These der blühenden Landschaften und den Solidarbeitrag erinnert, weiß ziemlich genau, dass solche Unsummen nicht in der Ukraine bleiben werden und mit Sicherheit kaum für Arbeit sorgen können. Beinahe sämtliche Vorhaben werden ausländische Konzerne ausführen und ausführen lassen. Es wird auch Radwege mit Baumalleen geben, von Frau von der Leyen befürwortet - ein zutiefst freiheitlicher und demokratischer Akt -, der die bald verlassenen Ortschaften miteinander verbindet. Warum? Als Markenzeichen. - Bleiben wir aufrichtig! Alle klar denkenden Ukrainerinnen und Ukrainer wollen und werden nicht in ein Staatskonstrukt Ukraine heimkehren, das zuerst natürlich nicht mehr lebenswert, sondern massiv zerstört ist. Doch alle klar Denkenden werden auch nicht unter einem Regiment leben wollen, das heute und mit Sicherheit noch jahrelang jeden Anflug von Kritik oder Offenheit mit dem Kriegsrecht abbügelt. - Zum Ende wird Herr Selenskij als miserabler Patron ins Abseits gedrängt werden, denn er konnte ja nicht siegen. Ich bin sehr gespannt, wen Frau Victoria Nuland bereits im Ärmel hat.

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