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Aus: Ausgabe vom 03.04.2023, Seite 2 / Inland
»Fortschrittskoalition«

»Mehr als jedes fünfte Kind ist arm«

Gegen Kindergrundsicherung wird auf Stammtischniveau und mit rassistischen Ressentiments Stimmung gemacht. Armut bleibt. Gespräch mit Christoph Butterwegge
Interview: David Maiwald
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Geben oder Nehmen? Für so manchen Minister ist die Antwort eindeutig

Die Kindergrundsicherung, kurz KGS, gilt als das zentrale sozialpolitische Projekt der Ampelregierung. Im Koalitionsausschuss gab es dazu aber vergangene Woche keine Ergebnisse. Wo liegt das Problem?

Innerhalb der Ampel existieren unterschiedliche Konzepte, was sich auf die Bereitschaft der Koalitionspartner auswirkt, Haushaltsmittel dafür bereitzustellen. Die Grünen-Familienministerin Lisa Paus veranschlagt zwölf Milliarden Euro, Finanzminister Christian Lindner hält zwei bis drei Milliarden für ausreichend. Paus will Kinderarmut zumindest spürbar verringern, die FDP lediglich ein digitales Verfahren einführen und die kindbezogenen Leistungen mit Ausnahme des steuerlichen Kinderfreibetrages für Besserverdienende zusammenfassen. Auch konkurrieren mit der KGS andere teure Projekte: Lindner möchte jährlich zehn Milliarden Euro auf den Kapitalmärkten für die Altersvorsorge anlegen, Verteidigungsminister Pistorius für denselben Betrag noch mehr rüsten.

Was ist dem bisherigen Entwurf zu entnehmen?

Die geplante KGS umfasst einen Garantie- und einen Zusatzbetrag. Ersterer soll ab 2025 mindestens dem dann geltenden Kindergeld entsprechen – derzeit 250 Euro monatlich. Dies heißt im Klartext, dass es nicht mehr wird. Erst »perspektivisch« soll der KGS-Garantiebetrag der maximalen Entlastungswirkung des steuerlichen Kinderfreibetrages entsprechen, also 354,16 Euro. Topmanager, Chefärzte und Investmentbanker mit einem Kind werden um diesen Betrag bei der Steuer entlastet, Verkäuferinnen erhalten nur 250 Euro Kindergeld. Weder die FDP noch CDU und CSU, die im Bundesrat über eine Vetomacht verfügen, dürften das ändern wollen.

Es gibt noch mehr Unstimmigkeiten: Kinder werden aus dem Bürgergeld herausgenommen. Wenn es aber um besondere Bedarfe geht, würden die Kosten über die Eltern abgedeckt und wieder das Jobcenter zuständig. Mit der Geburt eines Kindes soll der KGS-Antrag über die Steuernummer automatisch erfolgen. Sonst geht das nur digital über ein Onlineportal – für Familien, die weder einen Internetanschluss noch digitale Endgeräte haben, eine hohe Hürde. Eltern erkaufen die Leistungen für ihre Kinder, indem sie all ihre Daten zur Verfügung stellen. Die neue Kindergrundsicherungsstelle vernetzt Schulbehörden, Jobcenter und Finanzamt. Das klingt nach »gläsernen« Familien in einem riesigen Register.

Wie könnte die KGS tatsächlich gegen Kinderarmut wirken?

Sie muss eine Doppelfunktion erfüllen, armutsfest sowie bedarfs- und verteilungsgerecht sein. Einerseits sollen Kinder aus verdeckter Armut geholt werden, also jene, deren Eltern keinen Antrag auf den Kinderzuschlag oder das Bildungs- und Teilhabepaket stellen. Zwei Drittel der Berechtigten greifen nicht darauf zurück. Andererseits leben auch Kinder, deren Eltern alle ihnen zustehenden Leistungen erhalten, in Armut. Will man auch das ändern, muss der maximale Zusatzbetrag höher sein als die jetzigen Regelsätze: je nach Alter – Kleinkinder, Schulkinder und Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren – unterschiedlich, aber im Schnitt um mehr als 100 Euro im Monat.

Mehr als jedes fünfte Kind ist arm. Es braucht mehr als 20 Milliarden Euro, um Kinderarmut wirksam zu bekämpfen. Alle Kinder müssen unabhängig von der sozialen Herkunft den gleichen Garantiebetrag erhalten. Der Steuerfreibetrag müsste zur Finanzierung der Kindergrundsicherung herangezogen werden. Beim Zusatzbetrag muss es darum gehen, Kinder aus armen Familien besserzustellen. Sonst wird weiter an der Privilegierung bestimmter Kinder festgehalten und die Armut der drei Millionen Heranwachsenden nicht ernstgenommen.

Es bahnt sich also weiterhin Streit in der Ampelkoalition an.

Wie beim Bürgergeld wird es eine Stimmungsmache auf Stammtischniveau geben, die suggeriert, dass wegen der großzügigen Leistung kein Geringverdiener mehr arbeiten geht. Dazu kommt eine rassistische Komponente, wenn es heißt, dass ausländische Großfamilien angezogen werden. Christian Lindner hat mit seiner Behauptung, die gestiegene Kinderarmut beruhe auf Zuwanderung, das Stichwort geliefert. Er lässt sich zwar auf Wohltätigkeitsveranstaltungen unter dem Motto »Ein Herz für Kinder« fotografieren. Die politische Bekämpfung der Kinderarmut ist ihm aber offenbar kein Herzensanliegen.

Christoph Butterwegge ist Armuts- und Ungleichheitsforscher und hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (3. April 2023 um 13:51 Uhr)
    In Kürze werden wir wohl sehen, dass es der Bundesregierung wichtiger ist, den Krieg zu füttern als die Kinder unseres Landes.

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