Der lange Tod des Seneca
Von Kai Köhler
Der Ruf des römischen Kaisers Nero ist mäßig. Die senatorische Geschichtsschreibung trägt ihm den Hang zur Alleinherrschaft nach, die Christen die Verfolgung ihrer unglücklichen Ahnen. Man mag einwenden, dass er den Brand Roms im Jahr 64 vermutlich nicht verschuldet hat oder dass er an Eroberungskriegen wenig Interesse hatte. Lieber beteiligte er sich an Wagenrennen oder sang. Doch nach unzähligen TV-Wiederholungen von Mervyn LeRoys »Quo vadis?« (1951) hat man wohl nur noch Peter Ustinov im Gedächtnis, wie der beim Brand Roms schauerlich falsch zur Lyra plärrt.
Der Nero (Tom Xander) in Robert Schwentkes »Seneca – Oder: Über die Geburt von Erdbeben« ist freilich eine noch weit abstoßendere Gestalt. Ein fettes Riesenbaby, berechenbar allenfalls darin, dass Blut fließen wird, wo es auftritt. Mit Sonnenbrille und E-Gitarre ausgestattet und als »Präsident« angeredet, ist es das überzeitlich Böse schlechthin. Haupt- und Titelfigur jedoch ist Seneca, der stoische Philosoph, Dramatiker, Geschäftsmann und Fürstenerzieher. In der Eingangsszene versucht er vergeblich, dem jungen Kaiser ein paar rhetorische Kunstgriffe beizubringen – aber wozu mühevoll lernen, wenn es einfacher ist, die Zuschauer abzuschlachten? Wenn später Nero über Senecas Mahnungen zur Milde lacht, ist das bereits bedrohlich. Der Philosoph schaut denn auch diskret beiseite, wenn sein Schüler die eigene Mutter tötet.
Der gute Intellektuelle gegen den bösen Politiker, Geist gegen Macht? So dumm geht es in dem Film nicht zu. Seneca ist Nutznießer seiner Nähe zum Thron, häuft Reichtümer an. Er ist das Aushängeschild des Regimes, seine philosophischen Sentenzen werden zitiert. Und schließlich ist er der Theaterkünstler, der ein wenig pseudokritischen Nervenkitzel bietet, dabei aber die Gewalt doch nur verdoppelt.
Tatsächlich sind die Dramen des historischen Seneca voller Gewaltexzesse. Im Film gibt es eine Aufführung seines »Thyest« zu sehen. Die gelangweilte Oberschicht Roms schaut zu und ist angenehm schockiert, wenn auf der Bühne wirkliche Sklaven wirklich abgestochen werden. Ein wenig haben die Zuschauer Angst, ob sie nicht, wenn sie der Gewalt applaudieren, als Kritiker von Neros Gewalt gelten. Aber schließlich – man kennt und verträgt sich – lässt man sich von überlebenden Sklaven in Senecas Landhaus tragen, wo man seinen wohlformulierten Sätzen über die Nichtigkeit des Lebens lauscht und lernt, stets den Tod zu erwarten und zu akzeptieren.
Dies ist nur die Exposition des Films. Der Hauptteil beginnt, als aus der philosophischen Spekulation plötzlich Ernst wird und ein von Nero gesandter Offizier eintrifft. Seneca, so die Nachricht, muss sich noch in der folgenden Nacht selbst töten. Lebt er am Morgen noch, so wird ihn der Offizier auf eine Weise umbringen, die er zwar nicht genau beschreibt, von der aber Grauenvolles zu erwarten ist. Nun muss der Stoizismus den Praxistest bestehen.
Den äußeren – ein paar der »Freunde« brechen sofort auf, schlimm genug, überhaupt in Gesellschaft des Staatsfeinds gesehen worden zu sein. Zugleich den inneren, denn es gilt für Seneca, nicht mehr mit dem theoretischen, sondern mit dem wirklichen Tod umzugehen. Was ist echt, was ist Pose? Kann die Pose echt sein? John Malkovich in der Hauptrolle ist das Zentrum des Films, und es gelingt ihm, immerfort redend das Fragwürdige und die Stärke der Figur zu zeigen. Er hat starke Partnerinnen und Gegenspielerinnen: Geraldine Chaplin als Aristokratin, die sich mit Verachtung von dem nicht mehr nützlichen Bekannten abwendet, oder Lilith Stangenberg, die als seine dümmlich-zappelige Frau beinahe bereit ist, mit ihm zu sterben.
Es gibt viel Humor in dem Film, und zwar den guten, den schwarzen. Dass Seneca drei Versuche der Selbsttötung überstand, hat Tacitus in seinen »Annalen« überliefert: Sich die Adern aufschneiden, Gift trinken, sich in ein heißes Bad werfen. Das zu lesen ist eine Sache – es zu sehen eine andere. Wer pathetisch ankündigt, den befohlenen Gifttod des Sokrates noch zu übertreffen, sollte den Schierlingsbecher leeren, tatsächlich umkippen und als Rubens-Bild enden. Einfach weiterzuleben ist peinlich.
Der einzige Ausweg, der bleibt, ist reden. Der Intellektuelle hat Sätze produziert, um den Herrscher zu erziehen, um mit stoischer Haltung soziales Kapital zu sammeln, um sich in den Suizid zu reden, schließlich um zu überdecken, dass nicht einmal das klappt. All diese Ebenen zeigt der Film, mit kluger Raum- und Lichtgestaltung und einem sarkastischen Blick auf die Klassenverhältnisse, die Grundlage all der Rede sind.
Im ganzen aber wird jede Erkenntnis zurückgenommen. Nero ist, wie gesagt, das überzeitlich Böse. In der Schlusseinstellung reitet der Offizier, der den Befehl zum Selbstmord überbrachte, mit der Leiche des endlich toten Seneca vor sich auf dem Sattel nach Rom zurück und gerät in eine Landschaft der Moderne. Dazu wird ein antikes Zitat eingesprochen, dass, was schlecht begonnen habe, auch nur schlecht enden könne. Wer aber eine Zwangsläufigkeit bösen Endes behauptet, dementiert möglichen Widerstand und befördert das böse Ende dadurch noch. Wir haben es also mit einem reaktionären Kunstwerk zu tun.
»Seneca«, Regie: Robert Schwentke, BRD 2023, 112 Min., bereits angelaufen
Onlineaktionsabo
Das Onlineaktionsabo der Tageszeitung junge Welt bietet alle Vorteile der gedruckten Ausgabe zum unschlagbaren Preis von 18 Euro für drei Monate. Das Abo endet automatisch, muss also nicht abbestellt werden. Jetzt Abo abschließen und gleich loslesen!
Ähnliche:
- YAY Images/IMAGO12.12.2022
Ins Blaue
- Besondere Momente mit falschem Applaus/Avant-Verlag19.10.2022
Ewige Wiederkehr
- Reuters28.02.2022
Im Feuersdunst dieser Stadt
Regio:
Mehr aus: Feuilleton
-
Vorläufiges amtliches Kopfabschneiden
vom 25.03.2023 -
In uns bleibt es
vom 25.03.2023 -
Vom Los der Manager
vom 25.03.2023 -
Nachschlag: Da brennt nichts an
vom 25.03.2023 -
Vorschlag
vom 25.03.2023 -
Veranstaltungen
vom 25.03.2023 -
Volles Haus
vom 25.03.2023