»Der Präsident lügt«
Von Hansgeorg Hermann
Am neunten Kampftag ist der Zorn weiter aufgeflammt. Zwei Millionen Franzosen protestierten am Donnerstag in den Straßen des Landes gegen die »Rentenreform« des Staatschefs Emmanuel Macron. 24 Stunden nach einem TV-Interview, in dem er die Gewerkschaften beschuldigt hatte, »keinen Kompromiss angeboten« zu haben, sahen sich der Präsident und seine Regierung einer Öffentlichkeit gegenüber, deren Wut noch gewachsen war. Laurent Berger, Chef der großen Arbeiterorganisation CFDT, erklärte Macron am Mittwoch in der Nachrichtensendung des TV-Kanals France 2 zum »Lügner«. Der von rund zehn Millionen Fernsehzuschauern zuvor als »arrogant« und wenig volksverbunden wahrgenommene Macron habe »niemals die Rolle der Gewerkschaften« als nationale Vermittler zwischen Beschäftigten, Politik und Wirtschaftsführern anerkannt. Die Gewerkschaften hätten sich statt dessen wochenlang vergeblich um Gespräche mit der Staatsführung bemüht.
Bergers aufgebrachter Kollege Philippe Martinez, Anführer der CGT, sagte dem Sender France Info: »Wir erleben die Missachtung von Millionen protestierenden Menschen und werden alle verarscht.« Dem Staatschef sei im Interview »kein Wort des Mitgefühls, der Achtung oder des Respekts« über die Lippen gekommen. Wenn die Franzosen am Donnerstag erneut zu Hunderttausenden auf den Straßen seien, müsse Macron dies als Reaktion auch auf seine »Arroganz« und »Hybris« verstehen.
Donnerstag mittag liefen auf France Info Videobilder von prügelnden Uniformierten einer CRS-Spezialeinheit, die wahllos friedliche Passanten attackieren und einen jungen protestierenden Mann mit dem Schlagstock niederstrecken. Für die Redakteure des Senders ein »Beweis« dafür, dass die von Macron der »illegitimen Masse« (»foule«) zugeschriebene Gewalt offenbar vor allem von den Ordnungskräften ausgegangen sei.
Der linke Oppositionspolitiker Jean-Luc Mélenchon, früherer Präsidentschaftskandidat und Gründer der Bewegung La France insoumise (LFI), forderte die Anführer des Straßenprotests auf, angesichts der Beleidigungen der Präsidenten »ruhig Blut« zu bewahren. Der fortgesetzte Widerstand gegen Macron sei als »Zensur des Volkes« zu begreifen. Mélenchon spielte damit auf das erfolglose Misstrauensvotum gegen die Regierung des Staatschefs vom Montag an – in französischer Sprache »Motion de censure« genannt.
Schüler und Studenten blockierten ihre Lehrstätten, mehr als 400 Gymnasien blieben geschlossen. Landesweit ging an 15 Prozent der Tankstellen der Sprit aus, elf Prozent durften auf Anweisung der Präfekturen nur noch für die Versorgung notwendige Fahrzeuge bedienen.
Geschlossen blieben mehrere Terminals der Flughäfen in Paris, Marseille, Bordeaux und Lyon. Der öffentliche Nahverkehr in der Hauptstadt blieb auf einen Notdienst von Bussen, Regionalzügen und Metro beschränkt. Außerdem erstickt Paris in Abfällen. 9.000 Tonnen sollen es sein. Die Müllabfuhr hat eine Verlängerung der Streiks bis Montag angekündigt.
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