Präsident gegen Parlament
Von Hansgeorg Hermann
An diesem Montag nachmittag tritt die linke parlamentarische Opposition gegen den rechten französischen Präsidenten Emmanuel Macron an. Schauplatz ist die Nationalversammlung. Im Programm: Zwei Misstrauensanträge gegen die Regierung des Staatschefs, gestürzt werden könnte die Premierministerin Elisabeth Borne, die Macron am vergangenen Donnerstag vorschickte, um seine »Rentenreform« in der Plenarsitzung per Dekret auf den Weg zu bringen. Die vorgesehene Abstimmung fiel aus – der Mann im Élysée brauchte die Abgeordneten nicht, weil Artikel 49.3 der Verfassung ihm die Macht gibt, den Parlamentarismus in bestimmten Fällen auszuschalten. Es zählte nicht der Protest der Opposition und auch nicht der Widerstand der Bevölkerung, der seit Januar im Wochentakt Millionen zornige Menschen auf die Straßen trieb. Es zählte bis zur Stunde, was Macron und seine Hintermänner in den Chefetagen der Konzerne sich ausgedacht haben: Die Lohnabhängigen sollen ab September zwei Jahre länger schuften, bevor sie – nach 44 Jahren Beitragszahlung – Rente einfordern dürfen.
Ob Borne, die frühere Parteifreundin des sozialdemokratischen Präsidenten François Hollande, politisch am Leben bleiben wird, ist eigentlich unerheblich. Sollte einer der Misstrauensanträge der Opposition die von der Verfassung geforderte absolute Mehrheit tatsächlich erreichen, wäre das eine Schlappe für Macron, aus dem Amt und dem Präsidentenpalais Élysée würde sie ihn nicht vertreiben. Regierung und Staatschef, beide Exekutive, sind in der V. Republik getrennte Institutionen, mit deutlichen Machtvorteilen für die Person, die vom Volk in direkter Wahl auf den Präsidententhron gesetzt wird.
Die beiden Misstrauensanträge, die an diesem Montag nachmittag im Plenum zur Abstimmung aufgerufen werden, kommen aus verschiedenen Lagern. Zum einen aus der Fraktion der äußersten Rechten. Der Antrag der von Marine Le Pen angeführten 88 Abgeordneten des Rassemblement National (LR) gilt als weitgehend chancenlos. Weder die parlamentarische Linke noch die oppositionelle bürgerliche Rechte wird sich hinter Le Pen einreihen, die 2017 und im April 2022 als Präsidentschaftskandidatin zweimal die Stichwahl gegen Macron verlor. Interessanter ist der zweite Antrag, der aus einer »unabhängigen« Gruppe in der Nationalversammlung kommt: Unter dem Namen »Liot« – Libertés, indépendants, outre-mer (Übersee), territoires (Landschaften) – haben sich 20 Abgeordnete der rechten bis linken politischen Mitte, allesamt ehemalige Macronisten zusammengeschlossen, weil sie die »Reform« ihres früheren Chefs von Anfang an ablehnten. Ihrem Misstrauensvotum werden sich sowohl die ultrarechte RN – Marine Le Pen kündigte es am vergangenen Donnerstag bereits an – als auch die in der NUPES (Nouvelle union populaire, écologique et sociale) vereinten linken Abgeordneten anschließen.
Die von Jean-Luc Mélenchon gegründete linke Bewegung La France insoumise (LFI), in der NUPES mit 74 Abgeordneten die stärkste Gruppe, zog am Freitag ihren eigenen Antrag zurück und wird, wie Mélenchon versicherte, der Liot folgen. Am Mikrophon des Radiosenders Franceinfo erklärte der mehrfache Präsidentschaftskandidat und wortgewaltige Gegner des aktuellen Staatschefs, der seit dem vergangenen Juni kein Abgeordneter mehr ist und auch kein Parteiamt mehr hat, den Kurs der LFI: »Wir haben beschlossen, unseren eigenen Antrag zugunsten der Liot zurückzuziehen (…) Es geht darum, dem Misstrauensvotum die größtmögliche Chance zu geben.« Aus dem Herzen sprach der unermüdliche Politikrenter der gesamten Opposition mit den Worten: »Dieser Reformtext hat keinerlei Legitimation, wir haben recht zu revoltieren.« Und: »Der Artikel 49.3 darf nicht banalisiert werden«, Macron habe ihn – gleichwohl »konstitutionell legal« – »mit extremer Brutalität« instrumentalisiert.
Um Borne zu stürzen, braucht die Opposition rund 30 Stimmen der bürgerlichen Les Républicains (LR), die bei vergangenen Gelegenheiten letztlich Macron die Stange hielten – im Kabinett seiner Regierungschefin sitzen mit Wirtschaftsminister Bruno Le Maire und Innenminister Gérald Darmanin immerhin zwei ehemalige Parteifreunde. Das hat sich mit dem Rentendiktat des Staatschefs offenbar geändert. Républicains wie Maxime Minot, Fabien di Philippo oder Pierre Cordier »verbieten« sich inzwischen »gar nichts mehr«, wie sie direkt nach Bornes Dekret am Donnerstag versicherten. Sie seien »bereit«, gegen die Regierungschefin zu votieren, obwohl ihr Parteivorsitzender Éric Ciotti fälschlicherweise das Gegenteil behaupte und ihr Fraktionsführer Hubert Marleix ihnen in einem erbärmlichen Fernsehauftritt mit Ausschluss aus der LR-Gruppe drohte.
Auch wenn Borne die beiden Voten der 573 Abgeordneten – vier der eigentlich 577 Sitze in der Nationalversammlung sind zur Zeit vakant – überstehen sollte, ist ihr Verbleib an der Spitze der Regierung nicht garantiert. Kommentatoren der Hauptstadtzeitungen und der TV-Nachrichtenkanäle hielten es bereits am Wochenende für wahrscheinlich, dass Macron sie nach einer gewissen Schamfrist ersetzen werde. Obwohl Borne in der Regierungsfraktion Renaissance »unbeugsame Anhänger« habe, sei mit einer »umfassenden Umbildung der Regierung« zu rechnen. Dass sich einsam in ihrem Regierungspalast verbarrikadierende Präsidenten der Republik ihre Premierminister je nach Stimmung und politischem Programm verbrauchen, sei in der V. Republik Normalzustand. Nicht Borne als Person zähle, auch wenn sie mit dem von ihr (und nicht Macron) verkündeten Rentendiktat ihre politische Zukunft wohl selbst erledigt habe. Was zähle, sei die Festigung der Partnerschaft zwischen Macrons Präsidentenwahlverein Renaissance und den für die kommenden neoliberalen Projekte dringend benötigten bürgerlichen Républicains. Dieses Ziel Macrons habe Borne »verfehlt«.
Hintergrund: Kampf geht weiter
Selbst Emmanuel Macrons Freunde aus den profitreichen Tagen bei der Bank Rothschild fanden, der heutige Präsident zeige zuwenig Phantasie, wenn es um das angebliche Defizit in den Rentenkassen geht, das er täglich als Grund für seine »Reform« herunterbetet. »Wer 50 Milliarden (Steuern, jW) bei den großen Vermögen einsparen kann, müsste doch auch zwölf Milliarden zur Finanzierung der Rente finden«, tadelte ihn jüngst sogar der »Wirtschaftsweise« Jacques Attali.
Eine Erkenntnis, die seit Monaten auch den von den Gewerkschaften organisierten Widerstand gegen das nun am Parlament vorbei diktierte Rentengesetz befeuert. Der Intersyndicale – den vereinten Arbeiterorganisationen – und den vielen zornigen Millionen Franzosen, die auch in den kommenden Tagen und Wochen auf den Straßen protestieren und mit Streiks den Wirtschaftsbetrieb lahmlegen werden, geht es inzwischen allerdings um viel mehr. Beispielsweise um den Lehrermangel und die damit einhergehende Vernachlässigung der Kinder, ein Gesundheitssystem mit katastrophalem Personalstand und selbst nach Corona nicht behobenem Bettenmangel sowie um wachsende Wohnungsnot und den Ausschluss der Armen aus einer von Finanz- und Bildungs-»Eliten« dominierten Gesellschaft.
»Projekte« also, Reformen, die Macron nie angepackt oder auch nur ernsthaft anvisiert hat. 4,1 Millionen Franzosen leben nach Angaben der Organisation Aide Sociale unter katastrophalen Wohnbedingungen oder haben gar kein Dach über dem Kopf. 300.000 Menschen leben, auch im Winter, auf der Straße, weil sie keinerlei Miete mehr bezahlen können. Der einst von dem Humoristen Coluche gegründete Verein Restaurants du Cœur meldete in diesen Tagen, dass er in den Wintern 2021/22 rund 142 Millionen Mahlzeiten an Familien verteilte, die sich keine Nahrung kaufen konnten oder entscheiden mussten, ob sie im Winter lieber essen oder heizen wollten. Helfen mussten Coluches Freiwillige 110.000 Kleinkindern und Gebrechlichen, die in 98.900 Fällen eine Unterkunft für wenigstens eine Nacht suchten.
Nach Angeben des staatlichen Statistikamtes Insee werden in den Registern der Republik 4,8 Millionen Menschen geführt, die unter der Armutsgrenze leben. Die amtliche Schwelle dafür wird mit 940 Euro Monatseinkommen angegeben. (hgh)
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