»Wenn man siegen will, braucht man viele Leute«
Von Ronald Weber
Zu Ehren von Dieter Schiller
Als sich zu Beginn der 1930er Jahre abzeichnete, dass der Faschismus an die Macht kommen könnte, begann der Begründer des Malik-Verlags, Wieland Herzfelde, Vorbereitungen zu treffen, um einem möglichen Verbot zu begegnen. Der während des Ersten Weltkriegs gegründete Verlag hatte sich in Zusammenarbeit mit Herzfeldes Bruder, dem Grafiker John Heartfield, und dem Maler George Grosz einen Namen als erste Adresse der linken Avantgarde gemacht. Dass die Nazis versuchen würden, ihn zu schließen, war Herzfelde klar, zumal er sich als Kommunist – er war der KPD Ende 1918 am Tag ihrer Gründung beigetreten – keine Illusionen über den Schutz des bürgerlichen Rechtsstaats machte. Herzfelde hatte die Idee, Malik-Filialen im Ausland zu gründen und dort Bestände zu lagern, um im Fall der Fälle von außerhalb des Reichs agieren zu können. So reiste er 1931 und 1932 nach Paris, Barcelona und Madrid und knüpfte Kontakte: »Mein Plan stieß auf lebhaftes Interesse. Nach Berlin zurückgekehrt, stieß er aber auf Bedenken bei der Partei. So etwas spreche sich herum und könnte Panik unter den Genossen auslösen.« Malik war zwar ein finanziell von der KPD und der Kommunistischen Internationalen (Komintern) unabhängiges Unternehmen, an die Weisungen der Partei fühlte sich Herzfelde aber dennoch gebunden: »Ich ließ den Plan fallen.«1
Die Startbedingungen im Exil in der Tschechoslowakei waren dementsprechend schlecht. Zwar war es Herzfelde nach dem Reichstagsbrand gelungen, den Nazischergen zu entkommen, aber alle Guthaben in Berlin sowie das an die 400.000 Bände umfassende Lager des Verlags gingen verloren. Erschwerend kam hinzu, dass die Nazis, die sich hier sehr geschäftstüchtig zeigten, sofort begannen, die beschlagnahmten Bände im Ausland zu verramschen, was die Buchpreise bei Grossisten in den Auslandslagern, über die Herzfelde noch verfügen konnte, drückte. Ganz untätig war der Verleger vor dem 30. Januar 1933 aber nicht gewesen. Nachdem Reichskanzler Franz von Papen das kurzzeitige Verbot der SA aufgehoben und deren Anhänger ihren Terror im Vorfeld der Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 noch einmal intensiviert hatten, schickte er seinen siebenjährigen Sohn George zu den Schwiegereltern nach Salzburg – »mit einer langen Liste ausländischer Adressen, ohne die ich meine Arbeit im Exil nicht so rasch wieder hätte aufnehmen können«.2 Außerdem existierten bei Buchhändlern im Ausland noch Guthaben, so dass Herzfelde die Verlagstätigkeit in Prag fortsetzen konnte, wenn auch in wesentlich geringerem Umfang und unter äußerst prekären Bedingungen. Unterstützung erfuhr er dabei von dem Schriftsteller und Journalisten F. C. Weiskopf, der in der Stadt an der Moldau über beste Verbindungen verfügte und ihm Kontakte zur Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPC) sowie zu finanziellen Unterstützern vermittelte. Noch im April 1933 erschien bei Malik anonym – Verfasser war der linksliberale Journalist Rudolf Olden – die kleine Broschüre »Hitler, der Eroberer. Die Entlarvung einer Legende«.
Fünf Monate später konnte Herzfelde bereits mit einem weiteren Projekt aufwarten, den Neuen Deutschen Blättern. Monatsschrift für Literatur und Kritik (NDB). Sie waren der Versuch, den vor den Nazis geflüchteten Schriftstellern und Publizisten ein antifaschistisches Forum zu geben. Erste Pläne zu ihrer Gründung hatte Herzfelde bereits gemeinsam mit John Heartfield beraten, als Johannes R. Becher im Juli 1933 in seiner Funktion als Vorsitzender des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS) und Mitglied des Sekretariats der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller (IVRS), der Dachorganisation des BPRS, im Rahmen einer Rundreise durch verschiedene Exilländer nach Prag kam und eine Beteiligung der IVRS an der Zeitschrift verabredete. Das war Fluch und Segen zugleich. Zum einen sicherte der Vertrag, den Becher im Namen der IVRS mit Herzfelde abschloss, das Erscheinen der ersten drei Hefte der NDB, auch war durch die Kooperation ein Absatz mehrerer hundert Exemplare in der Sowjetunion garantiert – wofür Herzfelde sich im Gegenzug Kredite einräumen ließ, mit denen er den Druck von Malik-Bücher finanzierte. Zum anderen aber ermöglichte die Vereinbarung der IVRS, Einfluss auf die Zeitschrift zu nehmen.
Für die Redaktion konnte Herzfelde die KPD-Mitglieder Anna Seghers und Jan Petersen (d. i. Hans Schwalm) sowie Oskar Maria Graf, der den Kommunisten nahestand, gewinnen. Die nach Paris exilierte Seghers, die dort die Arbeit der BPRS-Gruppe leitete, war für Frankreich zuständig, Graf, der nach Wien geflohen war, für die Schweiz, Österreich und Ungarn, Herzfelde für die Tschechoslowakei. Unter besonders schwierigen Bedingungen arbeitete Jan Petersen. Der in Berlin lebende Leiter der dortigen BPRS-Gruppe, der auch die einzige im Reich illegal erscheinende Zeitschrift Stich und Hieb mit herausgab, verantwortete die Rubrik »Stimme aus Deutschland«, die kleinere Arbeiten im Land verbliebener Illegaler präsentierte. Sein Name erschien auf dem Cover der Zeitschrift als »*** (Berlin)«.
Den stärksten Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung der NDB nahm Herzfelde selbst, weil er neben der Tätigkeit für den Malik-Verlag, der die Zeitschrift mitfinanzierte,3 die eigentliche redaktionelle Arbeit leistete. Von ihm stammen auch die beiden programmatischen Beiträge, die das erste Heft einleiteten. Sie zeigen eine kommunistische Ausrichtung, zugleich aber wird die Absicht betont, »alle – auch wenn ihre sonstigen Überzeugungen nicht die unseren sind – zu Wort kommen (zu) lassen, wenn sie nur gewillt sind, mit uns zu kämpfen«. Als entscheidendes Kriterium galt der Kampf gegen den Faschismus. Die NDB nahmen damit die Politik der Volksfront voraus, auf die die Kommunisten erst im Juli 1935 beim VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale (Komintern) umschwenkten. Polemiken gegen die »sozialfaschistische« SPD, wie sie sich häufig in dem seit April 1933 im Prager Exil herausgegebenen Gegen-Angriff fanden, erschienen dort nicht. Herzfelde betonte vielmehr den Wunsch nach »gemeinsame(r) Arbeit und kameradschaftliche(r) Auseinandersetzung«.4
Vergleicht man die NDB mit der von Klaus Mann ebenfalls seit September 1933 in Frankreich herausgegebenen Zeitschrift Die Sammlung, wird gleichwohl sofort der Unterschied deutlich. Zwar schrieb auch Mann im Vorwort des ersten Heftes von einer »politische(n) Sendung« der Zeitschrift und betonte: »Sammeln wollen wir, was den Willen zur menschenwürdigen Zukunft hat, statt den Willen zur Katastrophe; den Willen zum Geist, statt den Willen zur Barbarei«.5 Eine genauere Bestimmung des Faschismus und seiner Wurzeln findet sich dort aber nicht. In den NDB heißt es hingegen sehr deutlich:
»Viele sehen im Faschismus einen Anachronismus, ein Intermezzo, eine Rückkehr zu mittelalterlicher Barbarei; andere sprechen von einer Geisteskrankheit der Deutschen, oder von einer Anomalie, die dem ›richtigen‹ Ablauf des historischen Geschehens widerspreche; sie verwünschen die Nationalsozialisten als eine Horde ›verkrachter‹ Existenzen, die urplötzlich das Land überlistet haben. Wir dagegen sehen im Faschismus keine zufällige Form, sondern das organische Produkt des todkranken Kapitalismus. Ist da nicht jeder Versuch, liberalistisch-demokratische Verhältnisse wiederherzustellen, ein Verzicht darauf, das Übel mit der Wurzel auszurotten? Ist nicht jeder Kampf, der nur der Form gilt, im Grunde ein Scheinkampf? Gibt es eine andere reale Kraft, die den endgültigen Sieg über Not und Tyrannei zu erringen vermag, als das Proletariat?«6
Das war, wie gesagt, nicht die Definition, auf die Herzfelde die Beiträger verpflichten wollte (»Das ist unsere Meinung. Aber nichts liegt uns ferner, als unsere Mitarbeiter ›gleichschalten‹ zu wollen.«7), aber es war doch die Arbeitsgrundlage der Redaktion.
Überschaut man die Ausgaben der NDB bis zu ihrer Einstellung im September 1935, so konnte die Zeitschrift das Versprechen der Überparteilichkeit tatsächlich einlösen: Zwar gelang es Herzfelde nicht, die Gebrüder Mann oder Carl Zuckmayer zu gewinnen. Neben kommunistischen Autoren wie Johannes R. Becher und Willi Bredel finden sich aber so unterschiedliche Schriftsteller wie Bertolt Brecht, Fritz Brügel, Moscheh Ya’akov Ben-Gavriêl, John Dos Passos, Arthur Holitscher, Hermann Kesten, Ludwig Marcuse, Balder Olden, Jakob Wassermann oder Arnold Zweig. Der offene Ansatz der NDB, der in deutlichem Kontrast zur kulturpolitischen Praxis der Kommunisten am Ende der Weimarer Republik stand, wirkte anziehend. Von Bedeutung war aber auch, dass die Redaktion Beiträge vergleichsweise gut bezahlte, was für die im Exil von ihren Einnahmequellen abgeschnittenen Schriftsteller keine unbedeutende Motivation war, für die Zeitschrift zu schreiben. Dass Herzfelde recht hohe Honorare zahlen konnte, erklärt sich aus dem Umstand, dass er selbst ehrenamtlich arbeitete, vor allem aber aus der hohen Auflage der NDB. Das erste Heft erschien mit 6.600, die folgenden Hefte bereits mit 7.500 Exemplaren. Zum Vergleich: Die Sammlung brachte es nie auf mehr als 2.000 Exemplare.
Als Johannes R. Becher Ende September 1933 auf seiner Rückreise nach Moskau erneut in Prag Station mache, war er nachgerade begeistert. In einem Bericht an das Sekretariat der IVRS schrieb er: »5.000 feste Vorbestellungen sind vorhanden, die Bestellungen gehen bis nach Japan, Palästina, Amerika etc. etc. In Prag konnte man die Neuen Deutschen Blätter an jedem Kiosk und bei jedem Zeitungsstand sehen. Die Manuskripteinläufe sind sehr bedeutend, und ich bin der Ansicht, dass die Gründung dieser Zeitschrift tatsächlich eine Durchbrechung zu einer Einheitsfrontbewegung aller antifaschistischen Kräfte der deutschen Literatur bedeutet.«8
Was Wieland Herzfelde selbst anging, der gemeinsam mit seinem Bruder John Heartfield als Anhänger der Gruppe der »Versöhnler« innerhalb der KPD galt, blieb Becher gleichwohl skeptisch. Zwar betonte er, dass er nach einem Gespräch mit Herzfelde zu der Auffassung gekommen sei, dieser stehe »vollkommen auf der Parteilinie« und bedauere »gewisse frühere Schwankungen«. Dazu im Widerspruch bemerkte Becher aber am Ende seines Berichts: »Es ist kein Zweifel, dass bei Wieland Herzfelde starke Neigungen zu einer opportunistischen Entstellung unserer Linie vorhanden sind.«9
Diese Einschätzung, die Becher später an anderer Stelle auf die gesamte, von Herzfelde geleitete Prager Gruppe des BPRS ausweitete10, bezog sich wohl auch auf die programmatische Erklärung zum ersten Heft der NDB, die beim Sekretariat der IVRS in Moskau auf heftige Kritik stieß. Bei einer Sitzung am 1. September 1933 wurde sie als falsch verworfen. Herzfeldes Ansatz, die Zeitschrift unabhängig von der Weltanschauung der Autoren allen zu öffnen, die mit dem Wort die Nazis bekämpfen wollen, betrachtete man als falsches Zugeständnis an die bürgerliche Ideologie, die doch den Faschismus aus sich selbst heraus erzeugt habe. Beschlossen wurde daher, die Verbindungen zu den NDB abzubrechen und die finanzielle Unterstützung einzustellen. Auch die Vorbereitungen der ersten Ausgabe sollten gestoppt werden; wäre dies nicht möglich, so sollte zumindest Herzfelde als Redakteur abgesetzt werden.11
Als der IVRS-Vertreter Hans Günther, der von Becher mit den Vorbereitungen der NDB in Prag beauftragt worden war, versuchte, diesen Beschluss umzusetzen, kam es zum Eklat. Günther erschien während der Produktion in der Druckerei und verlangte, die Maschinen zu stoppen; im Impressum der Zeitschrift hätten andere Herausgeber zu erscheinen. Da Herzfelde dies ignorierte, wurde Günther handgreiflich und ohrfeigte diesen. Schließlich lenkte der Verleger ein. Es wurden quadratische Papierstücke mit einem Verzeichnis der Beiträger des ersten Heftes über das Titelblatt geklebt, so dass die Namen der vier Redaktionsmitglieder unkenntlich waren. Diese Praxis wurde für die ersten drei Hefte der NDB, die die IVRS mitfinanziert hatte, beibehalten. Des weiteren wurde der von Herzfelde namentlich gezeichnete Einleitungsartikel aufgeteilt und neu gesetzt. Die erste Hälfte trug als Autorenvermerk »Die Herausgeber« – ohne dass die Leser nun freilich gewusst hätten, um wen es sich handelte –, die andere Hälfte erschien als Artikel unter dem Namen Herzfeldes.12
Erst ab dem vierten Heft vom Dezember 1933 wurden die Leser der NDB also mit der Zusammensetzung der Redaktion bekannt. Die Einflussnahme seitens der IVRS war damit aber nicht beendet. Vielmehr wurde Hans Günther, den man dafür kritisierte, Herzfelde gegenüber zu nachgiebig gehandelt zu haben, nach Moskau zurückbeordert und im November 1933 durch Ernst Ottwalt ersetzt, der künftig die Redaktionsleitung der NDB übernehmen sollte.13 Aber auch Ottwalt, den Herzfelde seit Ende der 1920er Jahre kannte, als bei Malik dessen Freikorpsroman »Ruhe und Ordnung« (1929) erschienen war, konnte sich gegenüber dem Verleger nur bedingt durchsetzen. Zwar musste Herzfelde diesem künftig die Redaktionskorrespondenz zur Kontrolle vorlegen, der Name Ottwalts erschien aber nie auf dem Cover der Zeitschrift. Außerdem weigerte sich Herzfelde, den neuen Redakteur zu bezahlen; die Ausgaben, die Becher und Günther durch ihr Hineinregieren verursacht hätten, sollten erst einmal wieder hereingeholt werden.14 Ottwalt musste das akzeptieren. Gegen Herzfeldes Autorität, die sich auch aus seiner Leitungsfunktion der Prager BPRS-Gruppe speiste, kam er nicht an. Zerknirscht meldete er nach seiner Ankunft an Becher, dass sowohl die Leitung der KPC als auch die Prager Vertretung der KPD eine Rücknahme der erhobenen Beschuldigungen gegen Herzfelde forderten.15
Tatsächlich schickte Hans Günther als Verantwortlicher der deutschen Sektion der IVRS Anfang Dezember eine Art Entschuldigung, verbunden mit der Absicht, »mit Dir kameradschaftlich und ohne Rückhalt zusammenzuarbeiten«.16 Aber schon beim vierten Heft der NDB, dem ersten, das Ottwalt mit verantwortete und zu dem er selbst eine Rezension über Thomas Manns ersten Band der »Joseph«-Trilogie beigesteuert hatte, gab es erneut Kritik. Zwar hatte Ottwalt Manns historischen Roman als Ausdruck unpolitischer Weltflucht verurteilt, diesen aber als im Widerspruch zu dessen »mutige(m) Bekenntnis zum Sozialismus« und »Kampf gegen die Hitler-Barbarei« beschrieben.17 Den Vertretern der IVRS klang das all zu sehr nach Lobhudelei. Schließlich sei Thomas Mann ein Sozialdemokrat; man solle doch das Trennende nicht »verschmieren«.18 »Wir halten«, schrieb Carl Schmückle im Namen des IVRS an Herzfelde, »die ganze Linie der Nummer 4 in allen theoretischen Äußerungen für falsch und nicht dem entsprechend, was die Vereinsgrundsätze in dieser Richtung von uns verlangen«. Herzfeldes Erklärung, er könne nur drucken, was vorhanden sei, die Qualität der Texte sei eben schwankend, wollte Schmückle nicht akzeptieren. Er warf Herzfelde vielmehr vor, die Literaturpolitik der Kommunisten abzulehnen und seine »eigene Politik« zu betreiben.19 Zu Beginn des Jahres 1934 ging die IVRS mit ihrer Kritik auch an die Öffentlichkeit. Die NDB seien, hielt Paul Reimann in der Internationalen Literatur, dem IVRS-Zentralorgan, fest, »in der Behandlung grundsätzlicher ideologischer Fragen in mehr als einem Fall auf gefährliche Abwege abgerutscht«.20
Herzfelde reagierte stoisch auf solche Vorwürfe. Gegenüber Johannes R. Becher machte er deutlich, dass er mit solch einer pauschalen Kritik nichts anfangen könne. Geeignete Texte für die NDB zu schicken sei die beste Kritik. Zudem sei es unmöglich, das Heft nur mit Autoren wie Weiskopf oder Ottwalt zu füllen, man brauche auch linksliberale Stimmen. Entschieden machte Herzfelde darauf aufmerksam, dass eine solche Zeitschrift zu redigieren stets auch bedeute, Fehler zu machen, das liege in der Natur der Sache. Dahinter Absicht oder Konsequenz zu vermuten, sei schlicht unstatthaft.21 Sein auf eine Zusammenfassung aller antifaschistischen literarischen Kräfte zielendes Konzept hielt er auch später noch für angemessen: »Wenn man siegen will, braucht man möglichst viele Leute, die entweder neutral oder, noch besser, zumindest Bundesgenossen sind in bestimmten Etappen«, äußerte er 1978 rückblickend.22
Ab 1934 gerieten die NDB wie andere Exilzeitschriften auch in die Krise. Mit dem Sieg des Austrofaschismus nach dem gescheiterten Februaraufstand der österreichischen Arbeiter und der Wiederangliederungdes Saargebiets an das Deutsche Reich im Mai 1935 brachen wichtige Absatzgebiete weg; vor allem in Österreich war es Oskar Maria Graf gelungen, für eine Verbreitung der Zeitschrift auch in sozialdemokratischen Kreisen zu sorgen. Als ab Herbst 1934 Kredite von Buchbindern, Druckereien und Papierlieferanten fällig wurden, gerieten die NDB in eine finanzielle Schieflage. Alle Bemühungen um eine dauerhafte Finanzierung, sei es in Großbritannien, in der CSR oder in der Sowjetunion, scheiterten. Zwar gewährte die Komintern im April 1935 auf Antrag von Wilhelm Pieck einen einmaligen Zuschuss von 2.200 Mark, der über die KPD ausgezahlt wurde.23 Eine dauerhafte Unterstützung, wie Herzfelde sie verlangt hatte, kam aber nicht zustande, so dass die NDB, nachdem bereits die letzten Hefte unregelmäßig erschienen waren, im August 1935 eingestellt werden mussten.24 Es war nicht die einzige Exilzeitschrift, die in diesem Jahr von der Bildfläche verschwand. Ebenfalls aus finanziellen Gründen stellten Die Sammlung sowie der Prager Simpl, eine Gegengründung zum gleichgeschalteten Simplicissimus, ihr Erscheinen ein.
Dass von seiten der KPD bzw. der Komintern kein Interesse bestand, die NDB am Leben zu halten – Oskar Maria Graf schrieb bitter, man habe die Redaktion »mit Findigkeit und mit einem gewissen heiteren Sinne ruhig zu Tode geschulmeistert«25 – lag auch daran, dass längst andere Pläne existierten. Seit dem Ersten Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur im Juni 1935 gab es Bemühungen, eine neue antifaschistische Kulturzeitschrift im Geiste der Volksfront herauszugeben, die in Moskau erscheinen sollte. Im Februar 1936 wurde deren Gründung beschlossen. Sie trug den Namen Das Wort und wurde von Bertolt Brecht, Willi Bredel und Lion Feuchtwanger herausgegeben.
Um die ersten Hefte vorzubereiten und sein Wissen und seine Kontakte zur Verfügung zu stellen, reiste Wieland Herzfelde im März 1936 für neun Wochen nach Moskau. Auch später noch kümmerte er sich von Prag aus um Texte für Das Wort und leistete redaktionelle Vorarbeiten. Die Zeitschrift sollte einlösen, was die NDB nur in Ansätzen erreicht hatten: »alle Schriftsteller deutscher Sprache, deren Wort dem Dritten Reich nicht dient«, zusammenzufassen, wie es im von ihm verfassten redaktionellen Vorwort hieß.26
Gedankt hat man Herzfelde die Unterstützung nicht. Im ersten Heft fehlte sein Name in der Liste der Mitarbeiter, und zahlreiche Artikel von ihm erschienen lediglich anonym. Auch später noch wurde seine Rolle beim Anschub des Worts verschwiegen. Weder das von Fritz Erpenbeck verfasste Nachwort des Reprints der Zeitschrift von 1969 noch das Vorwort zur 1975 veröffentlichten Wort-Bibliographie von Hugo Huppert nennen seinen Namen.
Anmerkungen:
1 Wilhelm Girnus: Und zwar gern. Gespräch mit Wieland Herzfelde. In: Sinn und Form 28 (1976), H. 6, S. 1136
2 Ebd.
3 Die Büro- und Redaktionskosten wurden zu 55 Prozent vom Verlag übernommen. Gewinn- und Verlustrechnung der Neuen Deutschen Blätter (20.7.1934), SAPMO BArch RY 1-674, Bl. 33
4 NDB 1 (1933), H. 1, S. 2 (Fotomechanischer Nachdruck, Berlin 1974)
5 Die Sammlung 1 (1933), H. 1, S. 1
6 NDB 1 (1933), H. 1, S. 1
7 Ebd., S. 2
8 Bericht über die Tätigkeit während meiner Reise vom 5. Juli bis 27. September 1933. In: Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur. Eine Auswahl von Dokumenten, Bd. 1: 1926–1935, Berlin/Weimar 1979, S. 642
9 Ebd., S. 640 u. 643
10 In einem »Kurzen Bericht über die Situation der deutschen revolutionären Literatur-Bewegung« von Anfang 1934 ist von der »gänzlich opportunistisch verseuchten Prager Gruppe« die Rede. Zit. n. Dieter Schiller: Über Ottwalt, Herzfelde und den Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller in Prag. Studien und Dokumente, Berlin 2002, S. 56
11 Vgl. ebd., S. 31 f.
12 So David Pike, gestützt auf ein Gespräch mit Herzfelde aus dem Jahr 1979. Vgl. David Pike: Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil 1933–1945, Frankfurt/M. 1981, S. 274 f. Ein Brief Hans Günthers legt allerdings nahe, dass der Text nicht nur aufgeteilt, sondern auch verändert wurde. Vgl. Hans Günther an das Sekretariat der IVRS, 12.2.1934, Russisches Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte (RGASPI) f.541-op.1-d.66, Bl. 1. Ich danke Werner Abel für den Hinweis auf diese Quelle.
13 Vgl. Die Säuberung: Moskau 1936. Stenogramm einer geschlossenen Parteiversammlung, hg. v. Reinhard Müller, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 309
14 Herzfelde an Becher, 5.2.1934, zit. n. Schiller (Anm. 10), S. 33
15 Ottwalt an Becher, 20.11.1933, zit. n. ebd., S. 32
16 Günther an Herzfelde, 1.12.1933. In: Prag – Moskau. Briefe von und an Wieland Herzfelde 1933–1938, hg. v. Guiseppe de Siati u. Thies Ziemke, Kiel 1991, S. 13
17 Ernst Ottwalt: Der Turm zu Babel. In: NDB 1 (1933), H. 4, S. 254
18 Becher an Ottwalt, 27.12.1933, zit. n. Schiller (Anm. 10), S. 39
19 Schmückle an Herzfelde, 31.1.1934. In: Prag – Moskau (Anm. 16), S. 14
20 Paul Reimann: Über einige Probleme der antifaschistischen Literatur. In: Internationale Literatur (1934), Nr. 2, S. 11
21 Vgl. Schiller (Anm. 10), S. 42 (Herzfelde an Becher, 2.3.1934)
22 Berlinische Dramaturgie. Gesprächsprotokolle der von Peter Hacks geleiteten Akademiearbeitsgruppen, Bd. 3, Berlin 2010, S. 27
23 Protokoll (b) Nr. 4 der Sitzung der Dreierkommission der Politkommission am 26.4.1935, RGASPI f. 495-op.84-d.71, Bl. 62
24 Die Finanzierungsstreitigkeiten rund um die NDB sind ein Thema für sich, das hier aus Platzmangel nicht eigens behandelt werden kann.
25 Graf an Becher, 28.3.1936, zit. n. Pike (Anm. 12), S. 277
26 Zit. n. Helmut Praschek: Neue Deutsche Blätter. Prag 1933–1935. Bibliographie einer Zeitschrift, Berlin/Weimar 1973, S. 15. Über seine Autorenschaft gibt Herzfelde in einem Brief an Willi Bredel vom 25.7.1936 Auskunft. Prag–Moskau (Anm. 16), S. 84
Ronald Weber ist Redakteur im Thema-Ressort dieser Zeitung. An dieser Stelle schrieb er zuletzt in der Ausgabe vom 28./29.5.2022 über den Dichter Franz Held
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Wilhelm W. aus Wien (20. März 2023 um 11:12 Uhr)Von Werner Eichbauer (Österreich) zur Ergänzung: Herzfelde hat schon in den 1920er Jahren in Wien eine Dependance gegründet, um antifaschistische Literatur herausbringen und auch nach Deutschland verkaufen zu können. W.E. Im Anhang: Die witzigste Buchbesprechung seit langem: Zu den Erinnerungen des OSS-Leiters in London, David K.E. Bruce.
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