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Aus: Ausgabe vom 18.03.2023, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

China in Fetzen gerissen

Acht imperialistische Mächte, darunter Deutschland, schickten 1900 »Strafexpeditionen« nach China. August Bebel protestierte im Reichstag dagegen
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Besetzung von ­Kiautschou durch deutsche Truppen – Gemälde von Willy Stöwer (1897)

Von 1897 bis 1914 besetzte die deutsche Kriegsmarine die Bucht von ­Jiaozhou (Kiautschou) in China. Formal war die Kolonie Pachtgebiet. Während des »Boxeraufstandes« um 1900 nutzte Deutschland im Bündnis der »Vereinigten acht Staaten« (Japan, Russland, England, Italien, USA, Frankreich, Österreich-Ungarn) die Gelegenheit zur Intervention. Das Deutsche Kaiserreich entsandte ein 15.000 Mann starkes Truppenkontingent, das Kaiser Wilhelm II. im Juli 1900 mit einer Ansprache in Bremerhaven verabschiedete, die als »Hunnenrede« bekannt wurde. Am 19. November 1900 hielt der SPD-Vorsitzende August Bebel im Reichstag dazu eine Rede:

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass nicht erst seit heute und gestern, und, wie ich anerkenne, nicht erst seit der Besetzung von Kiautschou durch Deutschland, sondern schon durch eine geraume Reihe von Jahren, die man unter Umständen auf sechs Jahrzehnte zurückdatieren kann, unausgesetzt von seiten der europäischen Regierungen – ich klage keine besonders an, ich mache hier alle gleich verantwortlich, nur Deutschland kam früher als 1897 noch nicht in Frage – gegenüber China ein Verfahren eingeschlagen worden ist, das allmählich insbesondere bei den herrschenden Klassen Chinas und auch in anderen Schichten der chinesischen Bevölkerung die feste Überzeugung erwecken musste, dass alle darauf hinarbeiten, das große chinesische Reich in die vollständigste Abhängigkeit von den auswärtigen Mächten zu bringen. Man ging in seinem Verhalten so weit, dass man eben feierlich abgeschlossene Verträge nach kurzer Zeit brach und immer neue Forderungen stellte. Kurz, man schlug China gegenüber so außerhalb alles völkerrechtlichen Verfahrens liegende Wege ein, dass Kenner von Land und Leuten wiederholt und nachdrücklich erklärt haben, dass dies einmal ein böses Ende nehmen müsse; wenn die Bevölkerung immer mehr gereizt würde und schließlich zum Bewusstsein ihrer Kraft komme, werde eine Bewegung eintreten, die sich dann nicht mehr eindämmen lasse. (…)

Nun ist von seiten des Herrn Reichskanzlers (Fürst Bernhard von Bülow, jW) in seinen Ausführungen gesagt worden, es sei ein Unrecht, wenn man im Ausland behaupte, dass die Wegnahme oder die Pachtung, wie man die Sache nennen will, von Kiautschou seitens Deutschlands eine der wesentlichsten Ursachen für die gegenwärtigen Zustände in China sei. Auch hierin muss ich dem Herrn Reichskanzler in der entschiedensten Weise widersprechen, und zwar bin ich nicht allein in der Lage, mich hier auf das Zeugnis von Ausländern zu berufen, sondern auch von Inländern, und vor allen Dingen, Herr Reichskanzler, auf das Zeugnis desjenigen Mannes, der der eigentliche Urheber gewesen ist, dass Sie Kiautschou genommen haben, des (…) Bischofs Anzer (Johann Baptist von Anzer, 1851–1903, Bischof der deutschen China-Mission in der Provinz Shandong, jW). Der Bischof Anzer erklärt (…), dass er es gewesen sei, der (…) Kiautschou in Vorschlag brachte. Der Bischof kam damals, zufällig oder auch nicht zufällig (…), nach Berlin, er wurde vom Kaiser empfangen und hatte eine lange Unterredung mit diesem. Bei dieser Gelegenheit hat er, wie er selber ausführlich erzählt, dem Deutschen Kaiser den Vorschlag gemacht, nicht den Hafen in der Nähe von Amoy zu nehmen (…), sondern in der Provinz Shandong Kiautschou zu nehmen, das sich viel besser eigne, nach jeder Richtung ein viel würdigeres und besseres Objekt für die Machtstellung Deutschlands bilde. (…) Derselbe Mann nun, der diesen maßgebenden Rat der Reichsregierung gegeben, derselbe Mann hat nun, sobald die Wirren in China ausbrachen, wiederum – und diese Offenheit ist geradezu zu bewundern – erklärt: Was jetzt passiert, habe er vorausgesehen. (…) »Die Einnahme von Kiautschou war für den chinesischen Nationalstolz eine tief schmerzliche Wunde.« (…)

Und, meine Herren, was war weiter die Folge von Kiautschou? Wir wollen uns doch nicht täuschen: Kaum war Kiautschou weggenommen, da folgte Russland und nahm Port Arthur und Talienwan, d. h. zwei Orte, womit es die Halbinsel Liaotung beherrscht und der faktische Besitzer jener Provinz wurde (…). Wie Russland dort vorging, so ging England mit Wai Hai Wei vor, Frankreich mit Kwangtschouwan (Meeresbucht in Südchina, seit 1899 französische Kolonie, jW), Italien mit San Mun (Meeresbucht in Südostchina, kurzzeitig 1899 von Italien besetzt, jW), Japan mit der Fujianküste (seit 1895, jW) und England nochmals, indem es das Hinterland von Hongkong kaufte. Kurzum: Im Zeitraum von zwei Jahren hat man China einen Fetzen Land nach dem anderen vom Leibe gerissen, hat man die besten Häfen ihm weggenommen, hat man es ihm unmöglich gemacht, heute noch einen irgend nennenswerten Hafen zu besitzen, um seinen Handel selbst betreiben zu können.

Deutscher Reichstag, Sitzungsprotokolle, 3. Sitzung, Montag, 19. November 1900, Seiten 22–25. Hier zitiert nach: www.reichstagsprotokolle.de

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