Wieder hip: Heiraten
Von Marc Hieronimus
»Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment« – mit dem Spießigkeitsargument haben junge Männer um und nach 68 noch einmal das Herrenverhalten der Altvorderen ausleben dürfen. Gleichzeitig kam damals aber auch die Liebe groß raus, die »freie«, die selten eine ist, doch eben auch die monogame – Zweisamkeit als Schutz gegen die Härte und Kälte des Systems. Steht übrigens auch bei Adorno, nicht nur, dass es nach dem falschen Leben keine richtigen Auschwitz-Gedichte geben kann. Aber die Leute bringen alles durcheinander. Kein Wunder, dass seit den 70ern viele nicht mehr wissen, wie sie es nun mit dem Ehelichen halten sollen. Wenn Heiraten egal ist, kann man ja auch vor den Altar bzw. den schnöden Schreibtisch des Standesbeamten treten. Wenn man sich liebt und vielleicht Kinder hat, warum nicht auch Steuern sparen? Und das Sexleben der beharrlich Ungebundenen soll ja auch eher betrüblich sein.
Seit ein paar Jahren gibt es in gewissen Alters- und sozialen Schichten sogar eine Art Heiratswelle. Ü-30jährige nehmen jeden zweiten Monat den Hochzeitsanzug aus dem Schrank, und zwar mindestens einmal auch für die eigene Feier. Und bauen wollen sie auch. Die Saat der genial-bösen Sparkassen-Werbungen aus den 90ern scheint endlich aufzugehen: »Ist Bausparen nicht etwas konservativ? – Ist Mietezahlen etwa fortschrittlich?« Oder die mit der Kleinen auf dem Bauwagenplatz, die ihrem Vater verkündet, »Du, Horst, wenn ich groß bin, will ich auch Spießer werden.« Da würde heute keiner mehr drüber lachen, schon weil das Mädchen nicht korrekt gegendert hat.
Heiraten jedenfalls sei die Suche nach Halt und Beständigkeit in veränderlichen Zeiten, wie die Berufs- und Hobbypsychologen in und hinter den einschlägigen Zeitungen wissen. Vielleicht wollen die Brautleute aber auch nur alles mal selber ausprobieren, wovon sie je gehört haben: Quadfahren in Dubai, Fallschirmspringen in Neuseeland, Ehe, Häuserkampf … ach nee, den dann doch nicht, oder nur vom anderen Lager aus.
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