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Aus: Ausgabe vom 18.03.2023, Seite 10 / Feuilleton
Germanistik

Farben des Antifaschismus

Zwischen Becher und Mühsam: Dem Literaturhistoriker und Mitbegründer der DDR-Exilforschung Dieter Schiller zum 90. Geburtstag
Von Ronald Weber
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Grundton der Gelassenheit: Dieter Schiller

Als 1966 in der FDJ-Zeitschrift Forum die sogenannte Lyrikdebatte stattfand, beteiligte sich auch der eben von der Humboldt-Universität an die Akademie der Wissenschaften gewechselte Literaturwissenschaftler Dieter Schiller mit einem Beitrag. Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Frage nach der allgemeinen Verständlichkeit der neueren Lyrik. Daneben und überhaupt – das »Kahlschlagplenum« des ZK der SED vom Dezember 1965 wirkte noch nach – ging es aber um eine »spätbürgerliche Gesamthaltung« (Rudolf Bahro); viele der neueren Gedichte erschienen aus kulturpolitischer Sicht als zu uneindeutig bzw. politisch eindeutig falsch. Schiller, der gemeinsam mit Dieter Schlenstedt die Lyriker verteidigte und eine ästhetische Herangehensweise an deren Erzeugnisse anmahnte, sah sich alsbald mit harscher Kritik konfrontiert. Die jungen Literaturwissenschaftler sollten, statt den »Modernismus« zu propagieren, lieber die Beschlüsse eben jenes 11. Plenums studieren, hieß es. Für den Lyrikexperten Schiller war das ein erster Hinweis darauf, dass die Befassung mit Gegenwartsliteratur in der DDR durchaus problematisch sein könnte.

Drei Jahre später, Schiller war längst in die Vorbereitungsarbeiten für die repräsentative »Geschichte der deutschen Literatur« eingebunden, wurde eine in diesem Zusammenhang entstandene zweibändige Analyse zum deutschsprachigen Roman im 20. Jahrhundert, die kurz vor dem Druck stand, im letzten Moment zurückgezogen. Die Analysen, u. a. über Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«, missfielen, und die Forschergruppe rund um Schiller galt als politisch bedenklich. Der Leiter des neugegründeten Zentralinstituts für Literaturgeschichte (ZIL), Werner Mittenzwei, hielt es daher für geboten, die schon als Korrekturfahnen vorliegenden Bände nicht erscheinen zu lassen.

Es spricht für Dieter Schiller, dass er sich von diesen beiden Erfahrungen nicht hat unterkriegen lassen. Konsequenzen hatten sie aber doch, denn sie bestärkten ihn in der Entscheidung, sich zukünftig ganz der Exilliteratur zu widmen. Beginnend mit dem zehnten Band der »Geschichte der deutschen Literatur« (1973), der den Zeitabschnitt von 1917 bis 1945 behandelt – Schiller war hier Hauptautor für die Zeit ab 1933 – reiht sich seitdem eine lange Kette von Veröffentlichungen zur antifaschistischen Literatur und den Problemen des Exils. 1981 erschien im Rahmen der siebenbändigen Reihe »Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil« der von Schiller verantwortete Band zu Frankreich. Es folgten, auf der Basis gründlicher Archivstudien, weitere Forschungen vor allem zum französischen Exil sowie zu Autoren wie Rudolf Leonhard, Klaus Mann oder Gustav Regler, die im Mainstream der DDR-Forschung eher am Rande standen.

Ein lebenslanger Forschungsgegenstand blieb die durch die Roman­analysen angestoßene Befassung mit Johannes R. Becher. 1975 wurde Schiller Vorsitzender des Zentralen Arbeitskreises Johannes R. Becher im Kulturbund. Der zeitweise als Nationaldichter der DDR geltende, zutiefst widersprüchliche Autor bildete den einen Pol von Schillers Forschungsinteresse. Der andere lässt sich an dem Anarchisten Erich Mühsam festmachen, dessen »Ausgewählte Werke« Schiller mit herausgegeben hat. Damit ist gewissermaßen das gesamte Feld der proletarisch-revolutionären Literatur umrissen.

Der Werdegang des in Eisenach aufgewachsenen Schiller ist typisch für jene Generation junger Ostdeutscher, die den Faschismus noch als Jugendliche erlebt hatten. Schockiert von den Massenverbrechen der Nazis, trat er der FDJ bei und wurde – Marx, ­Engels, Stalin und Goethe im Gepäck – ein glühender Kommunist, dem der Aufbau des Sozialismus im geteilten Deutschland wichtiger war als eine nichtsozialistische Zukunft in einem geeinten Land. Als SED-Mitglied wirkte er anfangs an der Humboldt-Universität auch noch als Parteisekretär.

Schiller wurde, nachdem er 1973 mit der Promotion B über die antifaschistische Literatur der 1930er Jahre zum Professor ernannt worden war, 1976 Stellvertretender Direktor des ZIL, eine Funktion, die er 1986 erneut übernahm. Im Rahmen des Instituts war er gemeinsam mit Simone Barck und Silvia Schlenstedt daran beteiligt, den Ende der 70er Jahre noch recht eng definierten Kanon der proletarisch-revolutionären Literatur aufzubrechen und ein realistisches Bild des Exils nachzuzeichnen. Ein bleibendes Ergebnis der Forschungen am ZIL ist das erst nach der »Wende« erschienene »Lexikon sozialistischer Literatur. Ihre Geschichte in Deutschland bis 1945« (1994), bis heute ein unverzichtbares Nachschlagewerk.

Ende 1991 wurde Schiller wie viele andere »abgewickelt«, seine Forschungsgruppe galt den westlichen Gutachtern als »scharf sozialistisch«. Kleinere, über das Integrationsprogramm für ehemalige Akademieforscher vermittelte Lehraufträge an der Humboldt- und der Freien Universität schlossen sich an. Eine Aussicht auf eine Professur aber bestand zu keiner Zeit. 1994 fiel Schiller schließlich ganz aus dem System heraus. Seitdem ist er als Privatgelehrter tätig.

Seinem Output hat die fehlende Integration in die bundesdeutsche Forschungslandschaft keinen Schaden zugefügt. Befreit von allen institutionellen Zwängen konnte er sich nun ganz der Exilforschung widmen. Dafür nutzte er auch die russischen Archive, deren Öffnung nach 1991 erst eine umfassende Betrachtung vieler Zusammenhänge ermöglichte. Zu den Fragen des Exils traten alsbald Forschungen zur Kulturgeschichte der DDR. So verdanken wir Schiller einige quellengesättigte Studien zur Kulturpolitik der DDR in den 50er Jahren, die 2001 in den Band »Der verweigerte Dialog« (2003) zum Krisenjahr 1956 mündeten.

Dass bei der Arbeit mit den nun zur Verfügung stehenden Quellen auch manches hergebrachte Bild in Zweifel gezogen werden musste, versteht sich für uns Nachgeborene von selbst. Für Zeitzeugen aber ist das ein durchaus schwieriger Prozess, der, weil er an die eigene Biographie rührt, auch zu Abwehr führen kann. Doch davon ist in den Aufsätzen Schillers nichts zu finden. Wo nötig, setzt er sich kritisch mit der Geschichte der kommunistischen Bewegung auseinander – etwa am Beispiel Willi Münzenbergs, zu dem er zuletzt 2021 eine umfassende Studie vorgelegt hat – ohne aber jemals in den ätzenden, antikommunistischen Grundton zu verfallen, der oft in der Forschung anzutreffen ist.

Was Schiller nach 1990 vor allem fehlte, waren Publikationsmöglichkeiten. Eine Abhilfe schuf der Verein Helle Panke e. V. In dessen als broschierte Hefte erscheinenden Reihen »Pankower Vorträge« und »Hefte zur DDR-Geschichte« veröffentlichte Schiller mehr als zwei Dutzend Titel. 2010 gelang es ihm, seine wichtigsten Studien in dem Sammelband »Der Traum von Hitlers Sturz« (Peter Lang) unterzubringen. Das Buch kann als Summe seines Schaffens gelten. 2008 fand Schiller mit dem Verleger Marc Berger der Edition Schwarzdruck endlich auch eine dauerhafte publizistische Heimat. In der Reihe »Erkundungen, Entwürfe, Erfahrungen« erscheinen seitdem in schöner Regelmäßigkeit Sammelbände, die die Arbeiten Schillers aus den vergangenen Jahrzehnten dokumentieren. 2021 veröffentlichte Schiller dort auch seine Autobiografie »Am Rande mittendrin«.

Dieter Schiller beging seinen 90. Geburtstag am vergangenen Donnerstag vorab mit einem Vortrag in der Hellen Panke zu Bertolt Brechts Schaffen im Exil. Es sind also weitere Veröffentlichungen zu erwarten. Wir dürfen gespannt sein und gratulieren herzlich.

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