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Aus: Ausgabe vom 18.03.2023, Seite 7 / Ausland
Unmenschliche Haftbedingungen

Hausgemachte Gewalt

Ausschreitungen im Nordosten Brasiliens: Polizei sieht Vergeltungsmaßnahme von Drogenbande. Die beklagt miserable Zustände in Gefängnissen
Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro
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Aufräumen angesagt: Ein ausgebrannter Bus in der Landeshauptstadt Natal am Dienstag

Seit Dienstag rollt eine Gewaltwelle über den Bundesstaat Rio Grande do Norte im Nordosten Brasiliens. In der Landeshauptstadt Natal und etwa 20 weiteren Städten setzten Kriminelle öffentliche Gebäude, Geschäfte, Omnibusse sowie Autos in Brand und schossen auf Polizeigebäude und einschreitende Beamte. Lokale Medien sprechen von »Krieg«. Entgegen ersten Presseberichten schickte die Regierung von Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva daraufhin allerdings nicht die Nationalgarde nach Natal, sondern Polizeieinheiten der Nationalen Kräfte für öffentliche Sicherheit (Força Nacional de Segurança Pública, FNSP), die vom Justizministerium koordiniert werden. Bereits am Mittwoch sollen die ersten 100 FNSP-Kräfte in der Landeshauptstadt eingetroffen sein.

Doch dieser durch die Gouverneurin des Bundesstaates, Fátima Bezerra von der Arbeiterpartei (PT), angeforderten Verstärkung zum Trotz kam es auch am Donnerstag zu weiteren heftigen Ausschreitungen. Insgesamt 69 Randalierer wurden bislang festgenommen und ein Verdächtiger erschossen. Die Polizei macht eine dominierende Drogenbandenfraktion verantwortlich, das sogenannte Syndikat des Verbrechens (SDR). Laut Pressemitteilung des Sekretariats für öffentliche Sicherheit von Rio Grande do Norte seien die Ausschreitungen möglicherweise eine Vergeltungsmaßnahme gegen die jüngsten Polizeiaktionen zur Bekämpfung des Drogenhandels und der organisierten Kriminalität im Bundesstaat: Anführer waren verhaftet, Drogen und Waffen beschlagnahmt worden.

Dem widerspricht allerdings eine den Medien zugespielte Nachricht des SDR, das in den Strafvollzugsanstalten des nordöstlichen Bundesstaats das Sagen hat. Demnach seien die Vandalismusaktionen eine Antwort auf miserablen Zustände und Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen von Rio Grande do Norte. Das SDR fordert deutliche Verbesserungen bei den Haftbedingungen und führt in seinem Schreiben 15 Punkte an: Darunter Verwandtenbesuche zweimal pro Woche, Ausgang in den Gefängnishof zweimal pro Tag sowie die fristlose Kündigung des Vertrags mit dem bisherigen Haftverpflegungsunternehmen, da es die Inhaftierten mit verdorbenen Mahlzeiten beliefere. Außerdem werden Ventilatoren gegen die extreme Hitze in den überfüllten Zellen gefordert sowie Lampen, damit die Häftlinge auch nach Sonnenuntergang noch lesen können. Selbst an Medikamenten, Hygieneartikeln und Trinkwasser fehle es in den Knästen. Als letzten Punkt verlangt der SDR Gefängnisbesuche von Menschenrechtlern dreimal pro Monat.

Der Chef der Strafvollzugsverwaltung (Seap), Helton Edi Xavier, hält diese Beschwerden und Forderungen in einer Stellungnahme für weitgehend ungerechtfertigt. Da die Polizei vermutet, dass die Gewaltaktionen von den Gefängnissen aus koordiniert wurden, ordnete die Seap-Leitung deshalb noch am Dienstag eine Verschärfung der Haftbedingungen in allen Haftanstalten an und verbot bis auf weiteres sämtliche Besuche von Familienangehörigen und Anwälten. Das wiederum führte zu Protesten von Verwandten der Häftlinge in den Städten. Um zu verhindern, dass die Revolte in den Straßen auch auf die Gefängnisse übergreift, hat Justizminister Flávio Dino weitere 90 Einsatzkräfte zur Verstärkung des Haftpersonals nach Natal beordert.

Eine im vergangenen Jahr durchgeführte Untersuchung des Nationalen Mechanismus zur Bekämpfung und Verhütung von Folter (MNPCT) in den Gefängnissen von Rio Grande du Norte bestätigt allerdings gravierende Mängel und Menschenrechtsverletzungen in den Haftanstalten. Gegenüber dem Nachrichtenportal Poder 360 erklärte MNPCT-Generalkoordinatorin Bárbara Coloniese: »In meinen 16 Jahren Erfahrung hatte ich noch nie eine so unmenschliche Situation erlebt. Was wir gesehen haben, ist wirklich schockierend. Das schwere Maß an Folter, das in den Gefängnissen praktiziert wird, insbesondere in Alcaçuz, hat uns erschüttert.«

Bereits seit Jahrzehnten klagen Menschenrechtsorganisationen die menschenunwürdigen Zustände in den meist extrem überfüllten Gefängnissen in ganz Brasilien an. Doch bis heute hat sich daran so gut wie nichts geändert. Dabei gibt es in Brasilien zudem ein Dreiklassensystem im Strafvollzug. »Gewöhnliche« Kriminelle werden in den aus allen Nähten platzenden Massenknästen untergebracht. Verurteilte mit einem Hochschulabschluss indes sitzen in vergleichsweise luxuriösen Haftanstalten ein. Auch für Polizisten, die eines Verbrechens überführt wurden, gibt es spezielle Gefängnisse.

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