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Aus: Ausgabe vom 18.03.2023, Seite 3 / Schwerpunkt
US-Imperialismus

20 Jahre straffrei

Ungesühnte Kriegsverbrechen: Völkerrechtswidriger US-Angriff auf Irak basierte auf Lügen und zerstörte das Land nachhaltig
Von Wiebke Diehl
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Haben immer noch gut lachen: Kriegsverbrecher George W. Bush und seine Truppe auf der »USS Abraham Lincoln« (1.3.2003)

Er wolle »den Irak entwaffnen, sein Volk befreien und die Welt vor ernsten Gefahren schützen« – das erklärte George W. Bush am 19. März 2003, dem Vorabend der US-geführten, nicht vom UN-Sicherheitsrat autorisierten Invasion des Irak, durch die der Langzeitpräsident Saddam Hussein gestürzt wurde. Der Krieg würde weniger als 200 Milliarden US-Dollar kosten, versprach Bush den US-Bürgern, die den Krieg zu diesem Zeitpunkt mehrheitlich unterstützten. Sie schenkten den Beteuerungen, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen und unterhalte zudem umfassende Programme zur Entwicklung biologischer und chemischer Kampfstoffe sowie von Atomwaffen, die die gesamte Welt bedrohten, Glauben.

Knapp drei Wochen später, am 9. April, brachten US-Soldaten – verfolgt von Millionen von Zuschauern vor den Bildschirmen weltweit – eine Statue Saddam Husseins zu Fall. Wie dann auch mit den bewusst produzierten demütigenden Fotos, die von seiner Festnahme nach acht Monaten auf der Flucht in einem Erdloch produziert und der Presse zugespielt wurden, wollte man Erfolge präsentieren. Nebenbei verdeutlichten die Bilder: Es war nicht die irakische Bevölkerung, die sich von einem zweifellos äußerst repressiven Herrscher befreite, der im Land selbst mindestens 300.000 Menschen – darunter Mitglieder der schiitischen Mehrheit, Kurden und Oppositionelle – auf dem Gewissen hatte. Der für grausamste Verbrechen und Massaker, Folter und Überfälle auf die Nachbarländer Iran und Kuwait verantwortlich war. Vielmehr hatte Washington aus eigenem geopolitischem Interesse der Welt falsche »Beweise« aufgetischt und dabei sämtliche, aus den ehrgeizigen irakischen Sozial- und Wirtschaftsprogrammen der 70er Jahre erwachsene Errungenschaften wie etwa den Anstieg der Alphabetisierungsrate von 30 auf 70 Prozent genauso verschwiegen wie die bis heute nachwirkenden negativen Folgen des in den 90er Jahren verhängten brutalen Sanktionsregimes. Diesem waren mindestens 1,5 Millionen Menschenleben, darunter eine halbe Million Kinder, zum Opfer gefallen.

Sechs Wochen nach Kriegsbeginn verkündete Bush in seiner berühmten »Mission accomplished«-Rede an Bord des Flugzeugträgers »Abraham Lincoln« das Ende der Hauptkampfhandlungen. Als Ziel gab er die Wiederherstellung der Ordnung und den Aufbau von Demokratie aus. Er rühmte sich des »Siegs in einem Krieg gegen den Terror«, obgleich Terrorgruppen wie der »Islamische Staat« (IS) unter US-Besatzung erst entstehen und im Jahr 2014 sogar das Fortbestehen des irakischen Staates gefährden sollten. Anders als behauptet, war Saddam Hussein zwar ein Verbrecher – aber kein Verbündeter der Al-Qaida. Auch Massenvernichtungswaffen konnten nie gefunden werden.

Der Irak und seine Bevölkerung haben für die Lügen einen hohen Preis bezahlt: Etwa eine Million Menschenleben hat der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gekostet – je nachdem, ob die infolge der zerbombten Infrastruktur und des zerstörten Gesundheitssystems Verstorbenen mitgerechnet werden, gehen Schätzungen sogar von noch höheren Zahlen aus. So berechnete schon 2006 das angesehene Medizinfachblatt Lancet 650.000 »zusätzliche Todesfälle«. Hunderte Tonnen Uranmunition haben US-Amerikaner und Briten im Irak verschossen. Noch zehn Jahre später betrug die Strahlenbelastung das 20fache des Normalwertes. Insbesondere die Kleinsten sind von Fehlbildungen betroffen – Kinder mit vier Händen oder zwei Köpfen werden teils nach wenigen Lebensmonaten begraben, die Quote von Gehirntumoren, Knochen- und insbesondere Blutkrebs liegt weit über der Norm.

Unzählige Iraker starben durch Folter, die ihnen auch Soldaten der »Koalition der Willigen« antaten. Der Folterknast Abu Ghraib war nur die Spitze des Eisbergs. »Die einzigen Grenzen, die es gab, waren die Grenzen der Vorstellungskraft«, zitiert Wikileaks, das fast 400 schwer belastende geheime US-Dokumente zum Irak veröffentlichte, einen Augenzeugen. »Zivilverwalter« Paul Bremer zerschlug nicht nur die irakische Armee, sondern auch politische und gesellschaftliche Strukturen nachhaltig – mit bis heute andauernden Folgen. Das von Washington implementierte politische System, in dem Posten streng nach konfessioneller Zugehörigkeit vergeben werden, fördert sowohl Korruption als auch Gewalt zwischen den Religionsgemeinschaften. Aus der Armee entfernte und ohne jede Zukunftsperspektive verbliebene (ehemalige) Mitglieder der Baath-Partei Husseins sollten später zur Basis für den IS und andere Al-Qaida-Gruppen werden. Und die Belagerungen von Falludscha, Nadschaf und anderen irakischen Städten sowie der Beschuss des einzigen betriebsfähigen Krankenhauses in Falludscha während der Blockade stellen zweifellos schwerste Kriegsverbrechen dar. Gekostet haben Krieg und Besatzung keinesfalls die angekündigten 200 Milliarden US-Dollar, sondern mehr als zwei Billionen.

»Der Krieg mit seinen Kosten an Menschenleben, Schätzen und Sicherheit« könne »nur als ein Fehler beurteilt werden, ein sehr schwerwiegender, und ich muss meine Mitschuld daran tragen«, so der US-Senator und spätere Präsidentschaftskandidat John McCain, einer der ehemals lautesten Unterstützer der Irak-Invasion, nach 15 Jahren – offenbar einsichtig – in seinen 2018, dem Jahr seines Todes, veröffentlichten Memoiren. Zur Rechenschaft für den Völkerrechtsbruch und brutalste Kriegsverbrechen gezogen wurde indes bis heute niemand.

Hintergrund: Geheime Kriege

Im vergangenen November veröffentlichte das »Brennan Center for Justice« einen Bericht mit dem Titel »Secret War«.

Als Quellen für die Fähigkeit der Regierung, geheime Kriege zu führen, benennt die Studie zum einen die »Authorization for Use of Military Force« (AUMF) aus dem Jahr 2001, auf die sich der US-amerikanische »Krieg gegen den Terror« stützt. Vier aufeinanderfolgende Regierungen hätten den Text der AUMF erweitert, die Liste der auf ihrer Grundlage bekämpften »Terrororganisationen« wurde dem Kongress lange Zeit vorenthalten, die Öffentlichkeit hat bis heute keinen Zugriff darauf. Die zweite Quelle sei das Gesetz für verdeckte Aktionen, die hauptsächlich vom Auslandsgeheimdienst CIA ausgeführt werden und die Anwendung von Gewalt beinhalten können. Auf dessen Grundlage werden unter anderem die Drohnenangriffe außerhalb von Gebieten aktiver Feindseligkeiten durchgeführt.

Es komme allerdings noch eine wenig bekannte dritte Quelle hinzu, nämlich die Sicherheitskooperationsbehörden. Ebenfalls nach dem 11. September 2001 habe der Kongress entsprechende Bestimmungen erlassen, die es den US-Streitkräften ermöglichen, mit ausländischen Partnern zusammenzuarbeiten und ausländische Streitkräfte überall auf der Welt auszubilden und auszurüsten. Auch könnten ausländische Streitkräfte, Paramilitärs und Privatpersonen »unterstützt« werden, die ihrerseits US-Operationen zur Terrorismusbekämpfung »unterstützen«. US-Streitkräfte verfolgten Gegner ihrer Partner und könnten Stellvertreterkräfte aufbauen und kontrollieren, die im Namen oder an der Seite der US-Streitkräfte kämpfen. Sie führten so auch »irreguläre Kriegsführungsoperationen« für die USA durch, ohne dass der Kongress und die Öffentlichkeit auch nur informiert würden. Dies sei nicht nur intransparent, sondern auch hochgefährlich. (wd)

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  • Leserbrief von K. Altmann aus Berlin (19. März 2023 um 09:39 Uhr)
    »Zur Rechenschaft für den Völkerrechtsbruch und brutalste Kriegsverbrechen gezogen wurde indes bis heute niemand« – wer es versuchte, sitzt seit zehn Jahren hinter Gittern (Julian Assange) oder wird mit US-Sanktionen belegt wie Richter am Den Haager Gerichtshof: www.jungewelt.de/artikel/395839.richterspruch-kleiner-sieg-in-den-haag.html und https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-09/internationaler-strafgerichtshof-den-haag-usa-sanktionen-fatou-bensouda-kriegsverbrechen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Rudi E. aus Langenhagen (18. März 2023 um 14:53 Uhr)
    Das, was unsere US-amerikanischen Freunde tun oder getan haben, scheint wohlgetan zu sein. So in etwa könnte man das Verhalten der westlichen Gemeinschaft zu den US-Kriegsverbrechen (Abu Ghraib, Falludscha, Blackwater-Massaker) im Irak bezeichnen. Die USA lehnen den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag mit der fadenscheinigen Begründung ab, sie fürchteten einen sogenannten politischen Missbrauch (!) Wenn der sogenannte Wertewesten (ohne USA) es anders gesehen hätte, müsste die gesamte Clique um G.W. Bush wegen begangener Kriegsverbrechen schon längst vor den Kadi stehen. Seit zwanzig Jahren führen die damaligen Präsidenten ein angenehmes und ruhiges Leben, ohne für ihre angeordneten Morde zur Rechenschaften gezogen worden zu sein. Umso dreister ist das Verhalten des heutigen Westens – wie auch das des US-Präsidenten – den Mund groß aufzureißen und zu fordern, dass Putin in Den Haag als Kriegsverbrecher verurteilt wird. Die US-Blutspur, die sich seit vielen Jahrzehnten durch die Geschichte gezogen hat, ist mittlerweile abgetrocknet, das Erinnerungsvermögen an US-Massaker nur noch vage. Folglich kein Grund, die damaligen Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Es ist skandalös, dass im Falle Putins alle (westlichen) Länder nach Rache schreien, statt die Geschichte zu bemühen und jene nach Den Haag bringen zu lassen, die schon längst hinter Schloss und Riegel gehört hätten.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gottfried W. aus Berlin (18. März 2023 um 08:22 Uhr)
    Mesopotamien, das Zweistromland, Wiege der westlichen Kultur, Schauplatz herausragender Erzählungen, Bezugsbereich der semitischen Kulturen, Juden und Araber, noch immer in großen Teilen nicht verstanden, dieses Land wurde mit einer Hartnäckigkeit mit Krieg überzogen, der über die vier (?) Golfkriege die Ernährungsgrundlage Datteln so massiv eingedampft hat, dass kaum etwas übrig geblieben ist. US-Kriege greifen Ernährung und Infrastruktur an, sie sollen entwurzelte Menschen schaffen. Sehr vielen Dank für den Hinweis auf die konfessionelle Politstruktur, die die US von den Franzosen im Libanon übernommen haben. Das Interview mit dem Genossen aus dem Libanon in dieser Ausgabe passt super. Stand jetzt ist der Irak das Räuberlager von dem aus die USA syrisches Öl rauben. Mossul ist noch immer das Mahnmal für die Vernichtungswut westlicher Kriegführung. Die Bilder von Falludscha sind in meinen Augenhintergrund gebrannt. Ist das alles nicht Teil des bereits andauernden dritten Weltkrieges, wie Stimmen aus dem globalen Süden sagen? In der heraufziehenden Schwäche des Imperiums werden sich Möglichkeiten ohne Zahl ergeben und dann auch ergriffen werden.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (17. März 2023 um 21:10 Uhr)
    Zwei Überschriften der heutigen Ausgabe: »20 Jahre straffrei« und (zwar in anderem Zusammenhang) »Es besteht die Gefahr des totalen Zusammenbruches« sind zwei Seiten einer Medaille. Das internationale Rechtssystem steht vor dem Kollaps. 1933 glaubten die Menschen in Deutschland auch die Hetze und Propaganda des »Stürmers« und »Völkischen Beobachters«. Ein wenig später erhielten sie passend dazu den »Volksgerichtshof« und seine Todesurteile, dann den totalen Zusammenbruch. Beim Irak-Krieg und weiteren Aggressionen des Westens gab es keinen Aufschrei der Empörung von Regierungen oder beispielsweise der Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Deutschland spendierte den USA die Logistik. Zählreiche Länder machten bei dem Verbrechen mit, in der Koalition der Willigen. Es gab keinen Internationalen Aufschrei, als die USA in ein Gesetz schrieben, sie würden den Internationalen Gerichtshof militärisch angreifen, sollte dort jemals ein US-Amerikaner verurteilt werden, und dessen Richter und ihre Familien offen bedrohten. Die USA dürfen diktieren, wer vor dem IGH angeklagt wird und wer nicht, wie lange ein Assange unschuldig sitzen muss oder ihre Folteropfer ohne Gerichtsurteil in Guantanamo, den Raub von ganzen Staatsvermögen. Alle spielten die Posse der »Ernennung« eines Guido zum Staatspräsidenten von Venezuela mit und wissen, dass ganze Staaten in der UNO vor Abstimmungen von den USA erpresst werden. Alle ducken sich vor der Knute – wie die Bevölkerung damals im Dritten Reich und sind zu großen Teilen genauso verhetzt. Gegen Putin erlässt der IGH jetzt den Haftbefehl, den er gegen Bush jun., gegen Blair und Obama hätte erlassen müssen und nie erlassen wird. Es kann doch kein Zweifel darüber bestehen, dass nach jahrelanger Propaganda die Mehrheit der deutschen Bevölkerung die im Fernsehen gezeigte Hinrichtung von Putin ebenso begrüßen würde wie die damals gezeigte Hinrichtung von Saddam Hussein, obwohl sich der Vergleich beider verbietet. Es ist beängstigend.

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